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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

und nicht weiß ich, wo ich lag. Und daß ich dann fortgebracht worden bin in einer Kutsche, ist mir nicht minder wie ein Traum. War ich einmal halb wach, so entschlief ich doch immer bald wieder, und mein Schlaf war nicht wie sonst, sondern bleischwer lag es auf mir, und das Aufwachen und bis ich diese Schwere abgewälzt hatte, das war greulich“ – er schüttelte sich – „ich möchte es nicht wieder erleben.“

„Und wo erwachtet Ihr zu vollem Bewußtsein?“ fragte der Domherr gespannt.

Lutz lachte verlegen. „Nennt mich einen Schelm, wenn ich’s weiß,“ sagte er. „Wir fuhren, fuhren, fuhren und ich war so schwach im Kopfe damals, daß ich, bei Gott, ich glaube es, damals gedacht habe, es gebe gar nichts anderes auf der Welt. Neben mir in der Kutsche saß einer – er muß die Ordenstracht der Väter getragen haben, aber ich habe ihn später in St. Menehould nicht mehr gesehen.“ Es schien fast, als ob Lutz jetzt erst dazukomme, sich dieses Umstandes bewußt zu werden und sich darüber zu wundern. „Er versorgte mich gut, und als ich nun endlich zu fragen begann, da schien er erstaunt über meine Verwunderung. Wir seien nun nicht weit mehr von St. Menehould – damals hörte ich den Namen zum ersten Male, und als ich ihn danach fragte, sah er mich groß an: das sei ja doch der Aufenthalt, den meine Freunde für mich gewählt hätten, wie ich wohl wisse. Ich wußte nichts – mich schmerzte der Kopf, sobald man lange zu mir redete . . . ja, Herr, und bis heute weiß ich nicht mehr als damals. – In St. Menehould kam ich zuerst in den kleinen Krankensaal, und an Kraftbrühen fehlte es nicht, noch auch an Braten und Wein und dem schönsten Weißbrot, als mein Magen wieder ungebärdig wurde wie ein bellender Hund. Aber es fehlte an der Hauptsache. Ich hatte meine Freiheit verloren und zugleich die Heimath und meine Polyxene. Meinen Fragen darüber wichen sie aus – was geschehe, sei zu meinem Besten. Einmal sagten sie, mein Bäschen, der Vormund und andere Gönner wüßten um diese meine Reise, und daß ich geistlich würde, sei ihr Wunsch und Wille – aber nicht dem Erzengel Gabriel hätte ich das geglaubt – und dann blies der Wind auch wieder ganz wo anders her ... dann redeten sie so, als sei der Herr von Gouda ein ungetreuer Verwalter meines Erbgutes gewesen und man habe mich ihm fortgenommen, um zu verhüten, daß mir Schaden geschehe. Zuletzt verwiesen sie mir das Fragen ganz und niemand sollte mir mehr antworten, bei schwerer Strafe sogar, obwohl sie sonst milde genug waren. Was draußen, jenseit des Gitters sei, sollte uns nicht kümmern; wir hatten es ja auch nicht übel drinnen, und so, dachten sie, würde auch ich mich nach und nach an den Käfig und an das Futter gewöhnen. Aber, Herr, ich gewöhnte mich nicht“ – und Lutzens Blauaugen sprühten und füllten sich zugleich mit Thränen – „ich hätte nicht ein Leyen sein müssen, wenn ich’s gethan hätte! Vielmehr habe ich Tag und Nacht an nichts anderes gedacht, als wie ich mich wieder herausbrächte. Als ich den Herrn von Nievern vorbeireiten sah und merkte, daß er mich nicht erkannte, dachte ich von Sinnen zu kommen. In der Nacht habe ich mir mein Betttuch in den Mund gestopft und hineingebissen, um nicht zu schreien vor Jammer wie ein Weib ... am anderen Tage sagten sie, ich hätte das Fieber. Ich kam wieder in den Krankensaal und das war mein Glück. Der Doktor sagte, sobald ich wieder bei Kräften sei, müsse ich viel im Freien spazieren, mehr als die anderen. Der gute Bruder aber, der mich begleitete, war ein gelehrter Mann, vertiefte sich in die Reden des Cieero, die er stets in der Tasche trug und hervorzog, sogar wenn er draußen wandelte, und so kriegt’ ich die Botschaft des Alten hier zu Händem, wie wir Euch erzählt haben.“

Der Domherr nickte. Er war bei dem Bericht immer nachdenklicher geworden; wie er sich ihn jedoch zurechtlegte, davon ließ er nicht allzuviel merken. Jetzt sagte er: „Aber ist Euch denn gar keine weitere Erinnerung geblieben von der ersten Zeit nach dem Falle? Nichts, was Euch vermuthen lassen könnte, wo Ihr damals gelegen habt? Es war doch wohl in Birkenfeld? Denn schwerlich kann man Euch dazumal, schlimm verletzt, wie Ihr gewesen sein müßt, weit transportiert haben.“

Lutz dachte nach. „Ich sagte Euch schon, hochwürdiger Herr, sehen konnte ich damals, als ich gleichsam erwacht war, nicht, wohl aber hören. Und da ist mir’s –“

„Nun?“ mahnte der Domherr, nachdem er eine Weile geduldig auf ein weiteres Ergebniß gewartet hatte. „Ihr glaubt, eine bekannte Stimme gehört zu haben, nicht wahr?“

Lutz sah ihn an, erstaunt über den Scharfsinn, der vorwegnahm, was er sich selber kaum klar gemacht hatte, und fuhr zögernd fort: „Es war eine Frauenstimme, die ich da hörte, gewiß mehr als einmal, so daß mir endlich sogar ein Name dabei einfallen konnte – eine Frau von Méninville, dünkt es mich fast, müsse es gewesen sein, eine Dame unserer Frau Pfalzgräfin. Aber die wohnt im Schlosse; unsere Pfalzgräfin hält viel auf sie, und“ – er brach ab; wie einer, dem es überflüssig scheint, noch ferner etwas für eine an sich unglaubliche Sache beizubringen.

„Aber jene Dame – auch ich erinnere mich, von ihr gehört zu haben – könnte ja in das Haus, darin Ihr laget, besuchsweise gekommen sein,“ meinte der Wildenfelser. „Nun, sei dem, wie ihm wolle, jetzt liegt mir daran, Euch heil und so rasch, wie Pferdebeine laufen können, meinem liebwerthen Vetter Nievern zuzusenden. Denn zu ihm muß Euer Weg zuerst gehen, und zwar um jener Euerer Base Polyxene willen, an der Euer Herz zu hängen scheint. Ich verlasse Euch auf ein Viertelstündchen, um dem Herrn von Nievern ein Brieflein zu schreiben, welches Ihr, Alter, bei Euch tragen sollt, so wohl verborgen, wie man es Euch zutrauen mag nach allem, was meine staunenden Ohren kürzlich gehört haben. Bis dahin ist es dann auch Zeit, daß Ihr Euch auf den Weg macht.“

Die beiden waren nun eine Weile allein in dem schönen weiten Gemach, dessen anheimelnde Pracht dem Knaben sogar in diesen Augenblicken nicht ganz entging. Je länger je mehr aber behauptete die Erregung der Lage ihr Recht. Unruhig stand er bald und saß dann wieder. „Ach, wären wir erst so weit, daß wir den Heidenkopf sähen, Strieger,“ seufzte er ungeduldig. „Mir würde noch banger sein, als mir ist, wenn ich nicht eins wüßte: fingen sie mich auch wirklich wieder, sie behielten mich nicht lange, wenigstens nicht lebendig. Glaubt Ihr, daß sie uns verfolgen werden?“

Der alte Waldwart zuckte die Achseln. „Thun sie’s, dann glaub’ ich, daß der, der den Auftrag hat, an keinem glücklichen Tage von seiner Mutter geboren worden ist und unter einem Stern, der ein vorzeitiges Ende bedeutet.“ Dabei putzte er bedächtig an der langen Pistole herum, die er aus dem Wams gezogen hatte. Er betrachtete sie nur halb beifällig. „Wer seine gute Büchse gewohnt ist wie ich, dem kommt so ein Ding vor, als sollte man’s eher einem an den Kopf schmeißen denn damit schießen; auch dem, der uns etwa zu nahe käme, eine herzhafte Maulschelle zu langen, hier mit dem dicken Ende, scheint es handlich genug. Aber seid unbesorgt“ – und nun hob er die Pistole schußgerecht und die verschrumpfte Greisengestalt stand da wie festgewachsen und der Arm, der die Waffe hielt, war wie von Eisen, während die scharfen Angen das Ziel maßen – „fehlen thut der Strieger seinen Mann deshalb nicht.“

„Ich wollte, ich hätte auch eine Waffe,“ meinte darauf Lutz unzufrieden. „Tragt Ihr nichts weiter bei Euch, Strieger? Es ist, als hätte man keinen Arm, wenn man nichts spürt, womit man sich im Nothfall wehren könnte.“

Der schlimme Alte mochte gerade dieser Vorstellung zugänglich sein. Er griff in den Hosensack, zögerte, griff tiefer und brachte dann ein derbes Jagdmesser in einer alten Lederscheide zum Vorschein. Als aber Lutz mit einem kurzen Freudenruf danach greifen wollte, wich er aus: „Seit ein Jahrer fünfzig – es können auch sechzig oder siebzig sein – hat niemand die Finger an dem Griffe hier gehabt als ich. Der Griff ist in meine Hand gewöhnt und die Klinge zieht tüchtig Blut ... nicht jedem gäb’ ich’s – ich will’s Euch anvertrauen für unsere Reise, aber es bleibt mein“ ... und da der Junker hier eine stolze Bewegung machte, fuhr er dennoch ungerührt fort: „Denkt auch nicht, es sei mir jemals feil – nicht für sein Gewicht in Gold. Da, nehmt es wohl in acht!“ Unwillkürlich barg Lutz von Leyen die Waffe im Gewande, als jetzt der Domherr wieder eintrat, seinen Brief in der Hand. Auch der Strieger hatte sich in seinen Kleidern zurecht geschüttelt und dabei die Pistole außer Sicht gebracht; die beiden Reisenden sahen jetzt harmlos genug aus: eine Jungfer wie Milch und Blut und ein uralter Greis.

„Es ist Zeit,“ sagte Herr Engelbrecht von Wildenfels und seine Blicke ruhten nicht ohne Antheil auf dem seltsamen Paare, suchten auch noch einmal mit Wohlgefallen das schöne offene Gesicht des Knaben. „Ein schlechter Confrater bin ich den frommen Herren da drüben in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_535.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2021)