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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Scheidegg übernachten will, muß Abschied nehmen. In demselben ruhigen Geleise wie die Auffahrt vollzieht sich die Niederfahrt. Alpenrosen schmücken die Hänge. Die Baumregion naht wieder. Aus der tief eingerissenen Schlucht zu unserer Linken tauchen Arven auf, jene malerische, wetterfeste Kiefernart, die leider in unseren Alpen immer seltener wird. Hier finden sie sich noch in großer Zahl. Auch der Ahorn erscheint wieder. Wir fahren zwischen Obstgärten und den freundlich dreinschauenden Bauernhäusern von Itramen hindurch, überschreiten die schäumende Lütschine, noch ein letztes Pusten der Lokomotive, um die Höhe des jenseitigen Ufers zu erreichen, und wir sind in Grindelwald, dem grünen Gletscherthal. Diese beiden Worte bezeichnen die Lage: nach allen Seiten üppig grüne Matten und unmittelbar daneben die Hochgebirgswelt im ewigen Eiskleide. Hier ist es gut sein. Aus dem Schutt des großen Brandes, der im vorigen Sommer einen Theil des blühenden Dorfes vernichtete, erheben sich neue Wohnungen. Die schwer heimgesuchte Bevölkerung hat den Muth nicht sinken lassen und hofft, daß die neue Bahn den Verkehr und ihren Verdienst vermehren werde.

Wie nun der Leser seine Weiterreise einrichten, ob er nach Interlaken fahren oder über die Große Scheidegg nach Rosenlaui und Meiringen wandern oder ob er vorläufig gar nicht weiter will, das muß ich ihm überlassen. Schön ist’s im Oberland überall, wenn man vom Landregen verschont bleibt. Glückliche Reise!


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Der Sänger.

Roman von Karl v. Heigel.

 (Schluß.)

9.0 Die Eumeniden.

Herbststürme entrissen den Bäumen das letzte Laub. Aus den Fenstern in Solitude sah man auf windgepeitschtes schwarzes Geäst unter einem schweren Wolkenhimmel. Es war noch Tag und in den Zimmern doch nicht Tag. Aber daß die Mienen der Prinzessin nichts Gutes verhießen, sahen ihre Begleiterinnen dennoch. Sie lag, in einen Pelz gehüllt, den Kopf auf die Hand gestützt, auf dem Sofa. Wangen und Lippen waren blutlos, dabei glänzten ihre Augen fieberhaft.

Frau von Schönfeld hatte zwar ein für sie selbst sehr angenehmes Ereigniß, ihre Verlobung mit Herrn von Aschau, angezeigt, dennoch saß sie in dem seidenen Sessel gegenüber der Prinzessin unbehaglich, kerzengerade und auf der Kante, bereit, bei der ersten Beleidigung zu fliehen.

„Ihre Beziehungen zu Aschau, liebe Schönfeld, waren mir längst kein Geheimniß. Glauben Sie ja nicht, daß ich Ihnen deshalb zürne. Warum soll eine junge Witwe sitzen bleiben gleich einer alten Jungfer wie ich! Aschau ist jetzt Excellenz und das Haupt einer nach Friedrich Schiller moralischen Anstalt. Bei Ihren beiderseitigen strengen Grundsätzen kann Ihr Einfluß auf die Primadonnen, Primaballerinen und so weiter nur heilsam sein. Ich wünsche Ihnen und Ihrer zweiten Ehe alles Gute. Aber ich befehle Ihnen, sich deutlicher darüber auszudrücken, inwiefern bestimmte Persönlichkeiten und Verhältnisse an meinem Hofe für Sie unerquicklich, warum sie für Ihre schmerzliche Trennung von mir maßgebend geworden sind! Die Ihnen mißliebige Persönlichkeit kann nur Leisewitz sein. Singt er Ihnen noch nicht genug Wagner?“

„Als Künstler schätze ich ihn heute ebenso wie früher.“

„Am Menschen liegt Ihnen hoffentlich ebenso wenig wie mir.“

Frau von Schönfeld zwinkerte unwillkürlich mit den Augen. „Es würde doch unnatürlich sein, wenn ich den Mann ohne Widerwillen sehen könnte, der meinem Verlobten das Leben verleidet. Herr Leisewitz behandelt seinen Vorgesetzten ebenso schroff wie seine Kollegen; er ärgert, kränkt, ängstigt ihn auf jede Weise. Herr Leisewitz ist die Geißel unseres Hoftheaters. Mit dem Drohwort: ,Ich werde mich bei der Prinzessin beklagen!‘ – so und nicht anders drückt er sich aus – mit dieser Drohung schüchtert er jeden ein, denn wem wird nicht die Ungnade Ihrer Hoheit als das schwerste Unglück erscheinen!“

„Er beruft sich auf mich? Was weiß ich von seinen Launen!“

„Ja, wie sollte ich – selbst verlobt – einem Manne nicht gram sein, der seine Braut, ein braves tugendhaftes Mädchen, vernachlässigt!“

„Das wird wohl Schuld der Braut sein . . . aber ist diese denn nicht unser blonder Engel aus Wörde? Wie man vergeßlich ist! Dann begreife ich wirklich nicht, wie er sie vernachlässigen kann.“

„Herr Leisewitz beruft sich auch in diesem Fall aus Ihre Hoheit.“

„Ach, gewissermaßen hat er da recht. Ich nehme seine freie Zeit stark in Anspruch. Allerdings wird er dafür bezahlt.“

„O, die ganze Stadt spricht von der Großmuth Ihrer Hoheit; die ganze Stadt kennt die wahrhaft fürstlichen Geschenke, mit denen ihn die gnädigste Prinzessin überschüttet.“

„,Ueberschüttet‘ ist stark, meine liebe Schönfeld. Das würde mir schon mein Hofsekretär nicht erlauben. Es ist aber sehr thöricht von Leisewitz, mit meiner Großmuth zu prahlen; er zwingt mich, künftig sparsamer zu sein. Uebrigens, woher wissen Sie etwas über die Vernachlässigung der Braut?“

„Man spricht überall davon. Herr Leisewitz ist bedauerlicherweise sehr unvorsichtig in seinen Aeußerungen und – Einbildungen.“

Frau Schönfeld sprach den zweiten Satz kaum hörbar, allein Erna saß im Nu aufrecht und sagte mit entstellter Stimme: „Jetzt verstehe ich Sie und bin Ihnen dankbar! Als glückliche Braut werden Sie sehr beschäftigt sein – auf Wiedersehen morgen oder übermorgen! Wenn ich Ihrer bedürfen sollte, werde ich Sie bitten lassen.“

Sobald Erna mit der Gräfin Casasola allein war, überließ sie sich ihrer Leidenschaft; sie zerriß ihr Spitzentuch in Stücke und schritt wie rasend im Zimmer hin und her. „Ein Schurke,“ sagte sie mit wutherstickter Stimme. „Ein Geck und ein Schurke!“

„Hoheit,“ bat Livia, „Sie schaden sich! Darf ich Doktor Walter rufen?“

Dieser Name wirkte wie immer. „Nein; ihn nicht!“ Dann fiel sie der Freundin um den Hals. „O, Livia, fühlst Du denn nicht, wie schmachvoll dieser Leisewitz mich erniedrigt! Jetzt verstehe ich seine Blicke, seine Seufzer, so manches dunkle Wort! Ich hielt ihn für einen Schwärmer, und er prahlt mit meiner Gunst!“

„Hoheit!“

„Sage das Wort nicht mehr! In dieser schnöden Welt ist nichts mehr hoch und hehr! Und das arme schöne Mädchen, dem ich so gut bin, denkt, glaubt – Aber er soll es büßen, tausendfach büßen! Setze Dich und schreib’!“

Livia sah sie verwundert an und ließ sich dann am Schreibtisch nieder, nahm einen Briefbogen und tunkte die Feder ein.

„Herr Doktor Walter!“

„Aber, liebe Erna, Doktor Walter ist wahrscheinlich in seinem Zimmer. Wenn wir Brausewein –“

„Schreib’! ‚Herr Doktor Walter! Sie genießen das Vertrauen des Fürsten. Benachrichtigen Sie Ihren Herrn, daß ein Unwürdiger Ihren Schützling, Prinzessin Erna –‘“

Livia setzte die Feder ab. „Theuerste, warum das schreiben? Das sagt sich doch besser! Doktor Walter verdient auch Dein Vertrauen.“

„Daß er mir mit seiner gewohnten unverschämten Gelassenheit erwidert: das hab’ ich vorausgesehen? Nein! Alle Welt zetert über anonyme Briefe, aber alle Welt legt Gewicht auf sie.“

Livia warf entschlossen die Feder hin. „Erna, ich schreibe keine anonymen Briefe. Wenn Du willst, werde ich mit Doktor Walter reden. Was soll er?“

„Der Fürst und er sollen Zeugen sein, wie ich den Elenden vernichte. Ich könnte diesem Menschen gegenüber, der meinen Ruf vergiftet, meine Würde vergessen, ich könnte – den Männern sei es überlassen, die Beleidignug zu sühnen. Er ist auf heute abend neun Uhr befohlen, nicht?“

„Erna, Erna, was willst Du?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_542.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2022)