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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

sah man sein heiteres Gesicht mit dem bereiften blonden Backenbart und der goldgefaßten Brille. Zuweilen riß ein Schüler die Mütze vor ihm ab, dann hob er die Rechte bis zum Rand der Biberkappe und nickte freundlich. „Morgen, Morgen, mein Jungchen!“

Das Haus, in dem er wohnte, lag in der Burgstraße; ein hübsches Haus war’s mit einem geräumigen Treppenflur, bunt gestreiften Läufern über den Stiegen und stattlichen Spiegelglasscheiben. Im untersten Stock wohnte ein Graf zu Woyna, Rittmeister bei den Kürassieren, mit seiner Familie. „Brauch’ ich alles!“ pflegte der Oberlehrer zu seinen guten Bekannten zu sagen. „Ich brauch’ die gute Gegend, die geräumige Wohnung im ersten Stock, die bunten Decken, die Spiegelglasfenster, ich brauch’ auch den Grafen. Wer höhere Töchter aus den besten Familien des Landes in Pension nehmen will, der muß auch etwas dransetzen können, den betreffenden Müttern und Tanten Sand in die Augen zu streuen. Mein Graf ist feudaler Goldsand, Sie glauben nicht, wieviel er mir nützt, obwohl er die Ehre meiner persönlichen Bekanntschaft nicht genießt und wir höchstens ’mal einen Gruß im Flur austauschen: er als vornehmer Kavalier, ich als gekrümmter Wurm! Wenn er einmal auszieht, zieh’ ich auch aus – ich bin entschlossen, mich an seine Fersen zu heften, solange er unsere gute Stadt mit seiner Anwesenheit beehrt!“

Doktor Claassen war eine humoristisch angelegte Natur. Seine Schüler wußten das zu würdigen, sie nannten ihn einen „gemüthlichen Kerl“, ein „famoses altes Haus“ und lernten im Ganzen gern „für ihn“ – denn der Untertertia, in welcher er Klassenlehrer war, wollte es immer noch nicht recht einleuchten, daß man für sich selbst und nicht für den Lehrer lerne. Auch in einer Mädchenschule unterrichtete der strebsame Herr, und er erlebte den Triumph, mit der schwer zu behandelnden Menschengattung der „höhern Tochter“ ebenfalls gut zurechtzukommen. Er ließ hier weniger seine launige Gemüthlichkeit als das feinere Kaliber der geistreichen Ironie, der schlagfertigen Andeutungen und Vergleiche spielen und galt allgemein für einen Mann, dessen Kritik man zu fürchten, um dessen Beifall man zu ringen habe. Oberlehrer Claassen hatte kein leichtes Leben, aber er trug nicht schwer daran und konnte, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, „aus der unscheinbarsten Blume seinen Honig schlürfen“.

Er war jetzt in seinem Hause und schritt die Treppe empor. Während er die Vorthüre mit einem Schlüssel öffnete, lauschte er dem Klavierspiel, das aus dem Salon zu ihm herüberklang; die erste Nummer der Schubertschen „Moments musicals“. Der Anfang ging gut – aber schon nach sechs, acht Takten kam ein böses Stolpern und Stocken; unentwegt jedoch fing die Spielerin wieder von vorne an, um abermals an derselben Stelle festzusitzen.

„Das ist die Elfriede Braun!“ murrte der Doktor vor sich hin. „Uebt nichtswürdig! Alle üben sie so!“

In diesem Augenblick erhob sich ein großer Lärm im Wohnzimmer, die Thüre that sich auf und heraus stürzten, purzelten und kegelten drei Jungen im Alter von vier bis sieben Jahren, alle drei gleich in dunkelblaue Matrosenanzüge gesteckt, alle drei mit blondem rundverschnittenen Haar und rosigen Apfelgesichtern.

„Du, Papa, heute giebt’s Chokoladenspeise!“ – „Ach, Du, Papa, denk’ Dir, die Mama hat uns nicht erlaubt, auszugehen!“ „Du, Papa, wie kalt ist’s denn aber draußen?“

So kalt!“ entgegnete Papa, griff sich den fünfjährigen Fragesteller heraus, hob ihn hoch und drückte dessen warmes flaumiges Gesichtchen gegen seine eiskalten Wangen und den nassen bereiften Bart.

„Pfui, Papa!“ Das Bübchen zappelte heftig mit Armen und Beinen, während der Kleinste im Triumph rief: „Siehst! Was fragst Du!“

„Nun los, Jungens! Eins – zwei – drei!“

Auf dies Kommando entwickelte sich eine lebhafte Thätigkeit. Der Vater mußte sich bücken und wurde aus dem Pelz geschält, die Mütze wurde ihm vom Kopf, das Heftpaket aus der Hand genommen, Hausrock und warme Schuhe erschienen mit märchenhafter Schnelligkeit, der älteste lieh mannhaft seine Schulter als Stütze her, während Papa sich die Stiefeln auszog – kurz, die „Heinzelmännchen,“ wie Oberlehrer Claassen seine Söhne gern nannte, thaten ihre Schuldigkeit.

„Wie lange Zeit noch bis Mittag, Kurt?“

„Eine Viertelstunde, hat Mama gesagt!“

„Schön! Briefe für mich da?“

„Einer! Liegt auf Deinem Schreibtisch!“

Bonus! Abtreten!“

Die Heinzelmännchen verschwanden mit einigem Lärm.

In seinem gemüthlichen Studierzimmer, das, wie die Hausfrau zu sagen pflegte, „meistens mit Büchern möbliert war“. schritt der Hausherr zunächst zum Ofen, hauchte in die kalten Hände und wärmte sich. Dann nahm er seinen Brief vom Schreibtisch.

Die Lektüre verursachte ihm einiges Kopfschütteln; er las, las noch einmal – „er muß verrückt geworden sein“, sagte er zuletzt vor sich hin.

„Wer denn, um Gotteswillen?“

Frau Melanie Claassen hatte sich geräuschlos im Zimmer eingefunden – eine kleine zarte Frau mit einem feinen Gesicht, das einen etwas bänglichen sorgenvollen Ausdruck zu tragen pflegte, recht im Gegensatz zu ihrem Gatten, der immer so vergnügt und zufrieden dreinsah, als sitze er ganz breit dem Glück im Schoße. Es war zu verwundern, daß das Freifräulein von Berg vor nunmehr zehn Jahren den muthigen Entschluß gefaßt hatte, sich lieber mit ihrer ganzen Familie – Vater, Bruder und zwei hochmüthigen Schwestern – zu überwerfen, als von ihrem Gustav zu lassen. Sie hatte aber daheim wirklich kein beneidenswerthes Dasein geführt; ihr Vater hatte ungeheuer hohe Begriffe von seinem Rang und Namen und wünschte, „standesgemäß“ auf Schloß Berg zu leben, während das Gut so tief verschuldet und die Kunde davon so weit verbreitet war, daß es mit dem Kredit des Freiherrn schlimm aussah – es gab Leute in der Nachbarschaft, die mit allen Eiden schworen, in diese festgefahrene Karre, wie sie sich respektlos genug ausdrückten, auch nicht einen Pfennig zu stecken. So saß der Freiherr beständig in peinlichen Verlegenheiten, aber seine großen Ansprüche und seinen sprichwörtlich gewordenen Hochmuth aufzugeben, das fiel ihm darum doch nicht ein, ebensowenig seinen zwei ältesten Töchtern, die ein starkes Standesbewußtsein im Busen trugen und beständig an Melanie, der jüngsten, herumtadelten, weil sie „demokratische Neigungen“ zeigte. In diese schwüle Luft kam der junge Kandidat Claassen, der bei dem einzigen Sohn und Erben des Freiherrn die ehrenvolle Stellung eines Hauslehrers auszufüllen berufen war, wie ein frischer kräftiger Windstoß. Der Freiherr und die beiden ältesten Töchter entsetzten sich über diesen Wirbel, der junge Detlev aber und die pflichtvergessene Melanie wirbelten lustig mit, ja, letztere trieb die Geschichte so weit, sich sterblich in den jungen Dozenten der allgemeinen Menschenrechte zu verlieben und ihm zu gestatten, ihr gegenüber dasselbe zu thun. Dann gab es schreckliche Auftritte auf Schloß Berg; Auftritte, in welchen der empörte Hausherr umsonst versuchte, dem „plebejischen Menschen“ begreiflich zu machen. daß es ihm gar nicht erlaubt sei, sich so ohne weiteres in die Freiin Melanie zu verlieben. Der „Plebejer“ hatte die Keckheit, zu entgegnen, ob erlaubt oder nicht, es sei einmal geschehen, sein Gefühl werde erwiedert, und er gedenke die Unverschämtheit so weit zu treiben, das hochgeborene Freifräulein von Berg zur einfachen Frau Oberlehrer Claassen zu machen. Darauf erfolgte ein väterliches Entweder – Oder. Die ungerathene Tochter wählte das letztere und zog einstweilen zu Gustavs alter Mutter, einer gemüthlichen Kanzleirathswitwe. Da der junge Mann als tüchtige Lehrkraft galt und gute Verbindungen hatte, so konnte sie nach Jahresfrist den neuernannten Oberlehrer heirathen, um sich an seiner Seite schlecht und recht durchs Leben zu schlagen. Bei der Geburt des ersten Kindes hatte es eine Art von Versöhnung mit der Familie der jungen Frau gegeben, die indessen sehr oberflächlicher Natur war – der Vater war nicht dazu zu bewegen, seinen freiherrlichen Fuß in die bürgerliche Wohnung des Eidams zu setzen, und so bildete nur ein äußerst spärlicher Briefwechsel zwischen Melanie und ihren Schwestern einen losen Zusammenhang. Keine Minute bereute es die junge Frau, ihrem Gatten gefolgt zu sein, sie liebte ihn und war glücklich; allein sie machte sich endlose Sorgen um ihre Zukunft und die ihrer Kinder, ängstigte sich leicht und nahm den heitern Trost ihres Gatten, der nie den Kopf verlor, etwas reichlich in Anspruch.

Auch heute mußte sie ähnliches wollen, denn trotzdem sie den Liebling der ganzen Familie, das kaum zweijährige Gretchen, ihr Nesthäkchen und einziges Töchterlein, auf dem Arme trug, blickten ihre Augen sorgenvoll, und auf der glatten Stirn unter dem schllcht gescheitelten Haar saß eine Kummerfalte.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_602.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2022)