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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

so viele Menschen auf sich hatte herumtreten sehen. Denn selbstverständlich hatte sich allmählich die gesamte Einwohnerschaft von zehn Meilen in der Umgegend gesammelt, um das Kriegsschauspiel und die mitwirkenden Kräfte – und wären es auch nur Statisten – sich anzusehen. Der Nachmittag war geradezu prachtvoll, warm und doch nicht drückend, die Sonne schon stark gegen Westen geneigt. Endlich, von einer Anhöhe, über welche die Straße sich hinüberzog, fiel unser Blick seitwärts auf eine flache Mulde, und da lag es vor uns, das lustige Bild militärischer Häuslichkeit im Freien, das Stückchen Zigeunerleben mit seinen wirbelnden Kochfeuern, seinen Planwagen, seinen geschäftig hin und her eilenden oder bei irgend einer Arbeit zusammenkauernden Staffagefiguren. Ich war so entzückt von dem überaus freundlichen Anblick, daß ich in diesem Augenblick die größte Dummheit meines Lebens beging. Ich faßte Thomas, den fatalen Photographen, beim Arm und schrie ihn mit fast aufgeregter Stimme an: „Sie, lassen Sie halten, das müssen wir photographieren!“

Jetzt lachte Thomas wirklich, und zwar hellauf.

„Sie sind nicht unverbesserlich,“ meinte er. „Wenn Sie sich demnächst auch ,so einen‘ anschaffen wollen, so kann ich Ihnen die Firma hier empfehlen.“ Und er wies auf ein schmales Perlmutterplättchen an der fein polierten Außenseite seines Apparats, auf dem mit zierlichen Buchstaben eine Adresse eingegraben stand.

Ich aber, ich kam mir jetzt selbst merkwürdig vor! H. E.     


Das klassische Zeitalter der Geselligkeit.

Von R. Artaria.
I.

Die französischen Salons des 18. Jahrhunderts! Es ist, als ob man von einem versunkenen goldenen Zeitalter spräche, wenn dieses Wort genannt wird. Augenblicklich öffnen sich dem innern Auge weite, kostbar ausgestattete Säle mit schweren Sammet- und Seide-Vorhängen, schöne Frauengesichter lächeln kokett aus den Wandgemälden nieder. Die schmalen Pfeilerspiegel werfen den Luxus der Möbel und chinesischen Wandschirme zurück, sowie den schweren funkelnden Krystalllüster, in dessen Schein die Tafel glänzt, mit ihrem Aufbau von Silber und Porzellan, mit den gewaltigen Fruchtpyramiden des Desserts. Und um diese Tafel gereiht eine ausgesuchte Gesellschaft: Männer mit feinen geistreichen Köpfen, die es verstehen, ohne Pedanterie von allen höchsten Fragen der Menschheit zu reden, Frauen voll Grazie und Liebenswürdigkeit, die es sich zur Ehre rechnen, solche Gespräche mit Witz und guten Einfällen zu beleben, und die in dem raschen Fluge einer Stunde über Gebiete hineilen, welche durch die mühsame Geistesarbeit von Jahrhunderten geschaffen und bebaut wurden. Die leichte Philosophie bemächtigt sich aller Dinge, sie spitzt sich im Munde der Schönen zu allerliebsten Bonmots zu und dient den Philosophen als Deckmantel für ihre persönlichen Wünsche. Es ist in der That eine ebenso bequeme als reizende Sache, dieses „Philosophieren“ unter Scherz und Gelächter bei der Mittags- und Abendtafel. Taine in seinem ausgezeichneten Buche über die Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts sagt sehr bezeichnend über jene Feste: „Mit dem zweiten Gange des Mahles erfolgt die Explosion, beginnt das Witzgeplänkel, entflammen und sprühen die Geister. Wer kann sich beim Dessert noch enthalten, die ernsthaftesten Dinge spaßhaft zu behandeln? Und beim Kaffee kommt die Frage von der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes an die Reihe.“

So frivol dies klingt, so malt es doch besser als viele Worte die geniale und glänzende Geistesperiode, welche dem Auftreten Voltaires und seiner Gesinnungsgenossen in der Gesellschaft gefolgt war. Geistreich zu sein hatten die französischen Damen schon hundert Jahre früher gelernt, im Hotel Rambouillet unter der Protektion des großen Kardinals Richelieu, aber es war mehr ein unerquickliches Geistreichthun mit lateinischem Anstriche, was dabei herauskam. Molière hat uns in seinen „Précieuses ridicules“ ein scharfes Bild davon gezeichnet. Als jedoch Voltaire daran ging, in seiner populären unübertrefflichen Sprache das ganze, bisher der Allgemeinheit und besonders den Frauen verschlossene Wissen zum Gemeingut der Gebildeten zu machen und ganz ernsthafte Dinge mit Witz und Laune zu behandeln, da kam ein völlig neuer Zug und Ton in das geistige Leben einer Gesellschaft, die wie keine andere vor- oder nachher unter dem Scepter der Frau stand. Weibliche Hände, weiblicher Geist mischten sich in alles, von der hohen Politik an, welche die Marquise von Pompadour für den trägen Ludwig XV. machte, von den Ernennungen in hohe und niedere Aemter, die sämmtlich durch Damenhände gingen (die der Akademie nicht ausgeschlossen), bis zu den Aufführungen neuer Stücke, dem Erscheinen neuer Bücher, die alle nur Aussicht auf Erfolg hatten, wenn die Herrin eines tonangebenden Salons sie in ihre Gunst nahm.

Und dies alles nicht am Hofe, sondern vier Stunden von demselben entfernt, nicht in Versailles, das unter Ludwig XIV. Mittelpunkt auch der geistigen Welt war, sondern in Paris, welches keine andere Wahl hatte, als sich von dem geistlos gewordenen Hofe und seinen armseligen Vergnügungen zu emancipieren und eine Republik der Geister zu begründen, da die Monarchie nichts mehr von ihnen wissen wollte. Frau von Pompadour persönlich interessierte sich wohl für Philosophen und Poeten, aber sie mußte behutsam sein, um das nicht zu erregen, wovor sie am meisten zitterte: die Langeweile des Königs, am Ende sogar über sie selbst – und somit griffen eben andere Frauenhände nach dem Scepter des Geistes und führten es mit einer Ueberlegenheit und Grazie, die uns heute noch in Erstaunen setzen.

Trotzdem fragt man sich: wie war jene ausschließliche Frauenherrschaft möglich, aus welchen Gründen erklärt sie sich? Und die Antwort darauf zeigt uns die Kehrseite des glänzenden Bildes: den allgemeinen Niedergang des männlichen Characters, der in den Zeiten des Despotismus Ludwigs XIV. feige und heuchlerisch geworden, roh und lasterhaft geblieben war. Solche Männer können von Frauen unterjocht und beherrscht werden. Unter einem tyrannischen und absoluten Regimente hatten sie verlernt, sich als Staatsbürger zu fühlen, die öffentlichen Angelegenheiten, für die heute jedem tüchtigen Manne das Herz schlägt, waren für sie nicht vorhanden; so mußten sie verzichten auf eine ganze Reihe von Eigenschaften, die am Manne auch einer hochstehenden Frau imponieren, und sahen sich auf solche angewiesen, in denen begabte Frauen den Männern überlegen sind, auf Feinheit des Geistes, List, Diplomatie, Selbstbeherrschung und Verstellungskunst. Sieht man sich indeß die Frauenbriefe und Memoiren jener Zeit näher an und hat man die erste Ueberraschung über den merkwürdigen Scharfsinn, die schlagenden Bemerkungen, die unglaubliche Menschenkenntniß überwunden, so kommt sehr bald eine andere Empfindung, die jener Bewunderung stark die Wage hält. Man sagt sich: wie nüchtern, kalt und begeisterungslos muß eine Seele sein, die so klar und unerbittlich ihre Freunde, ihren Mann, ihren Geliebten beurtheilt! Freilich hatten jene Frauen ein paar Hauptschwächen ihres Geschlechtes abgethan, sie waren nicht empfindlich und nicht eifersüchtig, weil sie wohl wußten, daß nur der herrscht, welcher kalt und ohne eigene Reizbarkeit die anderen studiert; aber sie erreichten damit doch nicht die Ueberlegenheit des Weisen, sondern nur eine gleichgültige Gelassenheit, ein Heraussagen des Letzten ohne Scheu, so daß man sich heute von solchen Frauennaturen, denen alle echte Weiblichkeit verloren gegangen war, angewidert fühlt. Und sie selbst waren am härtesten gestraft: was Menschen einfach beglückt, Liebe, Treue und Vertrauen, hatten sie sich glücklich weggespottet, die Mutterpflichten galten für etwas Altväterisches, durch unzweckmäßige Kleidung und Lebensweise war ein gesunder Körper ebenfalls zur Seltenheit geworden. Nun fragte es sich, mit was die endlose Zeit, die langen Stunden hinbringen, welche nicht der Gesellschaft gewidmet waren? Tausenderlei Beschäftigungen mußten herhalten, man schnitt Figuren aus und pappte sie auf Lichtschirme und Kartonnagen, man zertrennte alte Goldstickereien und machte neue daraus, man spielte alle Sorten von Karten- und Brettspielen – das Beste war noch die eifrige Lektüre, und hierin lag die wirkliche Stärke jener Damen. Sie hatten keine Töchterschulen durchgemacht, sondern sich an guten Büchern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_638.jpg&oldid=- (Version vom 8.12.2022)