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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Fichte das Ziel, nun auch ein abgesonderter und namentlich nach außen hin geschlossener Produktions- und Handelskörper zu werden, so daß innerhalb seiner Grenzen auch das ganze wirthschaftliche Leben der Staatsbürger einer genauen staatlichen Erfassung und Regelung unterliege. Und das erst ist nach Fichte ein Staat, der den Namen „Vernunftstaat“ verdient.

Fichte hat diesen seinen Entwurf des „Vernunftstaates“ dem damaligen preußischen Finanzminister von Struensee gewidmet; er stellte sich den wirklichen Staat als im allmählichen Fortschritt zum Vernunftstaate begriffen vor. Somit verband er eine vollkommen ruhige Würdigung des Bestehenden mit den weitestgehenden Ansichten über den zukünftigen Staat. Gerade dies ist die wahrhaft philosophische Art seiner ganzen Betrachtungsweise und erinnert uns an die geistige Höhe der Ausführungen eines Thomas Morus. Wir sehen in Fichte einen „Weltverbesserer“, der sich voll bewußt bleibt der Schranken der Wirklichkeit, der aber diese Wirklichkeit nicht als etwas Vollendetes, sondern als etwas erst zur Vollendung Hinzuführendes betrachtet und gleichzeitig mit Hand anlegt zu diesem Fortschritt.

Man kann fast ohne Einschränkung behaupten, daß der Verfasser der „Reden an die deutsche Nation“, daß Fichte der eigentliche geistige Vater des nationalen Sozialismus im heutigen Deutschland ist. Dieser „nationale“ Sozialismus bildet von Ferdinand Lassalle an bis zu Georg von Vollmar jene mehr oder weniger deutlich hervortretende Unterströmung der ganzen sozialen Bewegung, welche mehr durch den Werth als durch die Menge ihrer Anhänger bedeutsam ist.

Weitaus die Mehrzahl der gegenwärtigen Sozialisten bekennt sich jedoch zur internationalen Sozialdemokratie. Diese ist unmittelbar durch Karl Marx ins Leben gerufen worden; ihr geistiger Vater aber ist Hegel, dessen ganze Art und Schule Marx in seinem Hauptwerke erkennen läßt.

Marx hat der gegenwärtigen politischen Sozialdemokratie Deutschlands ihre Glaubenslehre gegeben; das Dogma dieses Hohepriesters ist der „ökonomische Materialismus“, die Bibel aber sein umfangreiches Buch „Das Kapital“.

Es ist unvermeidlich, an dieser Stelle hierauf etwas näher einzugehen; ist doch jüngst bei den aufgeregten Verhandlungen des internationalen Sozialistenkongresses zu Zürich der alte Friedrich Engels (der „Aaron“ Marxens), nachdem er wie ein Patriarch von den versammelten Genossen aus aller Herren Ländern gefeiert worden war, auf die Tribüne gestiegen, hat auf das an der Wand hängende Bildniß von Karl Marx hingedeutet und gesagt: „Die ehrenvolle Aufnahme, die Ihr mir bereitet, nehme ich an, aber für den großen Mann, der von da oben auf uns herabblickt!“

Was ist denn nun eigentlich die Theorie des sogenannten „ökonomischen Materialismus“?

Man hatte früher die Begebenheiten der Geschichte und der Gegenwart, wenn auch nicht ganz, so doch zum größten Theil aus rein geistigen Triebfedern und Strömungen zu erklären gesucht. Karl Marx und mit ihm sein Freund Friedrich Engels, welche eine Zeitlang gewissermaßen einen einzigen Denkapparat zu bilden schienen, traten mit der Behauptung auf, daß alle geistigen Bewegungen einer Zeit, und zwar von den politischen Redeturnieren an bis zu den charakteristischen Aeußerungen der Dichtkunst, keinerlei „metaphysische“ Hintergründe und Ursachen hätten, daß sie vielmehr einzig und allein durch den wirthschaftlichen Charakter der Gegend, der Thätigkeit eines Zeitalters bestimmt würden. Diese Anschauung wird in die Geschichte zurückverfolgt und aus ihr weiterhin geschlossen, daß die leitenden Gedanken und Grundsätze jedes Zeitalters und Volkes lediglich bedingt seien durch die „wirthschaftliche Unterstruktur“ der betreffenden Zeit, des betreffenden Volkes, daß also alle übrigen geistigen Aeußerungen nur als „Ueberbau“, gewissermaßen als zweites Stockwerk zu betrachten seien. Die Gegenwart, so wird weiterhin gesagt, trage „kapitalistischen“ Charakter, d. h., das bewegliche Geld- und Sachkapital beherrsche die Gütererzeugung, beherrsche daher auch die Gütererzeuger und eben damit bilde es die Denkapparate derselben in ganz bestimmte Formen. Der Einzelne erscheint hierbei als durchaus unselbständiges Erzeugniß seiner Umgebung, und für diesen Begriff der „Umgebung“ haben die Anhänger der Theorie den eigenthümlichen Ausdruck „Milieu“ gefunden. Keiner kann aus seinem „Milieu“, d. h. aus den wirthschaftlichen Bedingungen, in denen er lebt, herauskommen. Da der Besitz von Kapital in der gegenwärtigen Periode die unerläßliche Grundlage für die Produktion ist, eine Produktion, die sich als Marktproduktion bezw. Weltmarktproduktion kennzeichnet, so ist der Kapitallose von vornherein von jeder Betheiligung an derselben ausgeschlossen und der jeweils größere Kapitalist schlägt den kleineren aus dem Markte. Schließlich werden bei diesem Verdrängungskampfe die Kapitalbesitzer ganz groß, es existiert ihrer nur noch eine Handvoll, und ihnen gegenüber steht eines schönen Tages das ganze Heer kapitalloser, lediglich auf ihrer Hände Arbeit angewiesener „Proletarier“ der Hand-, Maschinen- und Geistesarbeit. Dann aber – dreht sich nach Marx plötzlich wieder der Stiel um, die seitherigen „Expropriateurs“ (Enteigner) werden ihrerseits durch das politisch und wirthschaftlich geschulte Proletariat expropriiert, mit anderen Worten, die jetzt noch bestehende sogenannte kapitalistische Gesellschaftsordnung wird abgelöst durch die sozialdemokratische, durch die wahrhaft „gesellschaftliche“, oder wie gewöhnlich gesagt wird, durch die „kollektivistische“.

Der wirthschaftliche Entwicklungsgang selbst wäre es demnach, der die Kräfte heranschult, welche die neue Zeit heraufführen sollen. Das Proletariat wird nach Marx um so „klassenbewußter“, je weiter die kapitalistische Entwicklung fortschreitet, und da alle Staaten der Gegenwart mehr oder weniger in die „kapitalistische Produktionsperiode“ eingetreten sind, so ist die logische Folgerung die, welche jener Mann auch bei der Gründung der sogenannten „Internationalen Arbeiterassoziation“ ausgesprochen hat: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“

Der Weltverbesserungsplan, den die moderne Sozialdemokratie mit dieser Grundanschauung hegt, geht also dahin, durch „Aufklärung“ der Massen über ihre wirthschaftliche Lage vermittelst des allgemeinen Wahlrechts die politische Macht in die Hand zu bekommen, um dann erst die jetzige kapitalistische Gesellschaft in die neue sozialistische zu verwandeln. Es genügt, in diesem Zusammenhange die Namen Bebel, Liebknecht und Singer als die Führer einer nunmehr 45 Köpfe starken, politisch sehr einflußreichen Partei im Deutschen Reichstage zu nennen, um anzudeuten, welche Entwicklung die „Internationale“ im Laufe ihres erst dreißigjährigen Bestehens genommen hat.

Die Vertreter der Sozialdemokratie erheben in ihren wissenschaftlichen Werken wie in ihrer Presse den Anspruch, nicht als „Weltverbesserer“ im schlimmen Sinn dieses Wortes behandelt zu werden. Sie weisen darauf hin, daß sie nicht bloß die „Bourgeoisie“, d. h. die von ihnen so ehrlich gehaßte „herrschende“ Klasse, sondern auch sich selbst und ihre ganze Auffassung der Lage als ein nothwendiges Erzeugniß der wirthschaftlichen Entwicklung ansehen und daß sie wohl wüßten: ehe nicht das Großkapital alle Schichten der überwiegenden Mehrheit eines Volkes zerrieben habe, sei von einem Siege ihrer Sache keine Rede. Allein dieser Einwand ist deshalb gegenstandslos, weil die Frage sich darum dreht, ob denn überhaupt diese ihre Ansicht über das Entwicklungsgesetz der „Gesellschaft“ richtig ist. Selbst wenn man annähme, daß die Zusammenziehung des Kapitals und die Verwandlung der Mehrheit der Bevölkerung in besitzlose Proletarier durch die Statistik in dem Maße bewiesen werden könnte, wie es die Vertreter der sozialdemokratischen Partei durch vielfach recht ungenügende Zahlenzusammenstellungen versuchen – selbst dann müßte man in höchstem Maße bezweifeln, daß dieses bisher rücksichtslos niedergedrückte und expropriierte Proletariat nun plötzlich sollte die wirthschaftliche und geistige Kraft besitzen, um eine gesellschaftliche Produktion zu üb[e]rblicken und einzuführen. Ganz abgesehen davon, daß von einer in allen Staaten gleichzeitig eintretenden Reife der kapitalistischen Produktionsweise und daher auch des Proletariats nun und nimmer die Rede sein kann, daß also die neue „Gesellschaftsordnung“ stets von irgend einem national abgegrenzten Gebiete ihren Ausgang nehmen müßte – – – ganz abgesehen davon giebt es einen Faktor, der jedem Versuch, ihn in eine demokratisch-internationale Schablone zu zwingen, stets Hohn sprechen wird.

Dieser Faktor ist die Landwirthschaft. Weitaus der größte Theil aller Erzeugnisse auch in den höchst entwickelten modernen Staaten ist vorläufig noch gar nicht einer maschinellen, vollkommen berechenbaren Erzeugungsweise zugänglich. Das Deutsche Reich beispielsweise hat im Jahre 1890 etwa 16 Millionen Tonnen Getreide aller Art im Werthe von etwa 2600 Millionen Mark, 23 Millionen Tonnen Kartoffeln im Werthe von etwa 1200 Millionen Mark und etwa 19 Millionen Tonnen Wiesenheu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_746.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)