Seite:Die Gartenlaube (1893) 815.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Art war, Geld zurückzulegen, hatte die Zukunft heiter, sorgenfrei vor ihm gelegen. Und nun mit einem Male wieder Nacht, dunkle Nacht um ihn!

Diesmal wartete er nicht, bis er den letzten Dollar ausgegeben hatte, sondern erinnerte sich beizeiten seines Freundes Schuckmann. Während der ersten Zeit seines neuen Berufes hatte er den Freund regelmäßig zwei- bis dreimal in der Woche zu einem Plauderstündchen aufgesucht; es waren gemüthliche, schöne Abende gewesen, die er da mit Frau Libby und ihrem Gatten verlebt hatte. In den letzten Wochen aber waren diese Besuche seltener und seltener geworden, und nun waren es volle vierzehn Tage, daß er seinen Fuß nicht in jene Gegend gesetzt hatte. Wie würde ihn Schuckmann empfangen? Doch er kannte den treuen Kameraden – der wußte von keiner Empfindlichkeit, keinem Uebelnehmen. Und frohen Muths machte er sich auf den Weg.

Auf sein lautes Klopfen an Schuckmanns Thür hörte er jemand eilig durch die Küche huschen. Es wurde geöffnet und Frau Libby stand vor ihm, bleich, mit vergrämtem Gesicht, die Augenlider geschwollen und geröthet von Weinen und Nachtwachen. „Sie, Mister Buschenhagen? Bitte, nur recht leise! Ach Gott, Mister Buschenhagen!“

Die kleine Frau sagte das mit einer so trostlosen, verzweifelten Miene, daß Erwin an der Schwelle stehen blieb. „Was ist geschehen, Missis Libby?“ fragte er hastig. „Doch kein Unglück? John –“

„Johnny ist gesund. Aber treten Sie nur ein, Mister Buschenhagen, er wird sich freuen, Sie zu sehen!“

Sie schritten durch die Küche. Libby ging auf den Zehenspitzen, und sich zu Erwin umdrehend, der ihr folgte, bat sie ihn noch einmal mit leiser Stimme, recht behutsam zu sein.

„Unser Henry, unser süßer, lieber Henry ist –“ Schluchzen erstickte ihre Stimme. Sie traten in die Wohnstube. Vor dem Bettchen seines kleinen Sohnes stand Schuckmann; beim Eintritt Erwins wandte er sich langsam um. Dieser starrte den Freund erschüttert an – was hatten die letzten Wochen aus dem blühenden, glücklichen Mann gemacht! Seine Wangen waren bleich und eingefallen, tiefe Linien umzogen Mund und Augen. Unwillkürlich glitt Erwins Blick zu Henrys Bettchen hinab. Mit röchelndem Athem lag der Kleine da, die Augen eingesunken, Fieberröthe auf den abgezehrten Wangen.

Stumm drückte Erwin die Hand des Freundes, der mit den Thänen kämpfte.

„Diphtheritis!“ sagte Schuckmann mit schleppender, müder Stimme. „Der Arzt meint, wir müßten auf alles, auf – das Schlimmste gefaßt sein.“

Er wandte sich ab und drückte die Hand gegen die Augen, während Libby sich über das Bett beugte und ängstlich den unregelmäßigen Athemstößen des Kindes lauschte. Die bange Stille, die beklemmende Luft des Krankenzimmers lastete drückend auf Erwin; er hätte für sein Leben gern etwas gethan, um diesen Menschen, die sich in Angst um ihr einziges Kind verzehrten, einen Theil ihrer Bürde abzunehmen. Aber rathlos stand er da, von einem zum andern blickend.

Da ertönten plötzlich wimmermde Laute vom Krankenbett her. Schuckmann fuhr erschreckt zusammen und eilte an das Lager seines Kindes. „Was ist Dir, Liebling – Henry, mein Junge?“

„So weh, Papa,“ stieß der Kleine heiser hervor „so weh – hier!“ Und er deutete mit seinem schwachen zitternden Händchen an seinen Hals.

Schuckmann redete dem Kinde sanft zu und zwang sich, ein lächelndes Gesicht zu zeigen. Erwin, der zur Seite stand, fühlte sich aufs tiefste erschüttert; Mitleid und Bewunderung zugleich weiteten ihm das Herz.

Der Kranke war wieder in seinen unruhigen Schlaf gesunken. Schuckmann richtete sich mit verzerrter Miene auf. „Buschenhagen,“ sagte er und seine Stimme zitterte, „wer nie am Bett seines kranken Kindes gestanden hat, der weiß nicht, was das Leben an Elend birgt. Das Herz möchte man sich aus der Brust reißen, wenn damit geholfen wär’. Aber mit ansehen, wie so ein hilfloses Wesen sich quält, wie es langsam dahinsiecht und elend zu Grunde geht, und nichts, nichts thun können, rein gar nichts, das ist nicht zu ertragen!“ Stöhnend sank er auf einen Stuhl und stierte finster vor sich nieder.

Erwin, der nicht wußte, was er thun sollte, legte dem Verzweifelten die Hand auf die Schulter und stotterte: „Schuckmann, lieber Freund, wenn ich nur wüßte – – wenn ich etwas für Sie thun könnte – – Schuckmann, es wird ja wieder besser werden – – fassen Sie sich, lieber Freund, seien Sie ein Mann!“

„Ein Mann!“ Schuckmann erhob sein Gesicht, über das ein bitteres Lächeln zuckte. „Als Mann habe ich alles getragen, was bis jetzt über mich kam, aber das – das wäre zu viel. Ich habe nichts als mein Weib und mein Kind – mein einziges Kind!“ In fassungslosem Schmerze sprang er auf, und ganz aufgelöst von den Leiden der letzten Tage und Nächte, brach der starke, im Kampf des Lebens abgehärtete Mann in heftiges Weinen aus.

Da trat Libby an ihren Gatten heran. Mit leiser thränenumflorter Stimme sagte sie: „Lieber Johnny, es ist Zeit für Henry zum Einnehmen.“

Tief aufathmend wandte sich Schuckmann zum Tisch, nahm Löffel und Medizinflasche in die Hand und folgte seiner Frau damit an das Krankenbett. „Komm, mein Liebling, einnehmen!“ sagte Schuckmann, dem Kinde sanft zuredend. „Du weißt, der Onkel Doktor will es. Siehst Du, wenn Du brav und tapfer bist, dann wirst Du bald gesund und dann gehst Du mit Mama und Papa spazieren – in dem neuen rothen Kleidchen, weißt Du, mit den schönen blanken Knöpfen!“

Libby beugte indessen dem Kranken sachte den Kopf nach vorn, der Kleine aber bog sich hintenüber. „Nein, nein – es ist so bitter!“

Nur mit vieler Mühe vermochte man, ihm die Arznei einzuflößen. Als es endlich gelungen war, trat Schuckmann leise an den Freund heran. „Seit acht Tagen ringen wir um das Leben unseres Kindes. Die ganze Zeit über sind wir nicht aus den Kleidern gekommen, nur ab und zu legt sich eines ein Stündchen aufs Sofa. Ich sage Ihnen, Buschenhagen, wenn mir der Junge –“ er schauerte sichtbar zusammen – „wenn mir der Junge stirbt, dann ist’s auch mit mir aus, dann strecke ich die Waffen.“

Erwin faßte seine Hand und drückte sie herzlich. Dann um wenigstens etwas zu sagen und ihn von seinem Schmerz abzulenken, fragte er: „Und Ihr Dienst, Schuckmann?“

„Mein Dienst?“ Schuckmann zuckte die Achseln. „Der Dienst kümmert mich blutwenig. Wenn nur erst mein Kind wieder gesund ist, das übrige macht mir keine Sorgen.“

Erwin schlug unwillkürlich die Augen nieder, die Erinnerung an seine eigene bedenkliche Lage und an das, was ihn hergeführt und was er vor diesem Jammer ganz vergessen hatte, kehrte plötzlich zurück.

„Und Sie, Buschenhagen? Wie steht’s mit Ihnen?“

Erwin zwaug sich zu einem sorglosen Lächeln. Um keinen Preis hätte er es fertig bekommen, dem Freunde auch noch mit seinen Sorgen beschwerlich zu fallen. „Ich – ich danke,“ stammelte er.

Und Schuckmann, der mit raschem Blick die elegante Erscheinung des Freundes überflog, hielt jede weitere Frage für überflüssig. Von Frau Libby mit leiser Stimme gerufen, trat er wieder an das Krankenbett und lauschte aufmerksam den Athemzügen des Kindes. Plötzlich richtete er sich auf und winkte den Freund eifrig heran. „Meinen Sie nicht, Buschenhagen, daß er jetzt leichter und ruhiger athmet als vorher?“ fragte er mit zitternder Stimme. Und als Erwin nach einer kurzen Pause diese Beobachtung bestätigte, umfaßte er seine kleine Frau und drückte sie in überströmendem Glück an sich. „Ach Libby, Libby, wenn es besser würde, wenn –!“

Eine Viertelstunde später verabschiedete sich Erwin. Unablässig war Schuckmann in dieser Zeit zwischen Tisch und Bett hin und her gewandert, alle zwei Minuten den Kranken beobachtend und die Freudenbotschaft verkündend: „Er athmet viel ruhiger, wahrhaftig!“

*  *  *

Am Ende der Woche war Erwin mit seinem Gelde fertig, da er nirgends Arbeit gefunden hatte, und von neuem begann für ihn ein schnelles Hinabgleiten in das obdachlose Vagabundenthum. Glücklicherweise hatte sich inzwischen die warme Jahreszeit eingestellt und so war der unstet Umherirrende wenigstens vor dem Erfrieren geschützt.

Eines Morgens wanderte Erwin vom Centralpark, wo er schon zweimal unter freiem Himmel übernachtet hatte, der Stadt zu. Unablässig beschäftigte ihn der eine Gedanke, wie er seinen Hunger stillen könnte, den wahnsinnigen Hunger, der ihn folterte bis zur Unerträglichkeit. Seine Phantasie malte ihm die Seligkeit

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_815.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2023)