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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Blätter und Blüthen.

Eine Armenindustrie für Kinder auf dem Lande. Daß unter Umständen die Noth unter der bäuerlichen Bevölkerung ebenso drückende oder noch drückendere Formen annehmen kann als unter den städtischen Armen, das zeigt besonders deutlich das heurige Jahr, wo in manchen Gegenden durch das äußerst mangelhafte Erträgniß der Futterernte ein wirklicher „Nothstand“ geschaffen wurde. Da ist jeder praktische Vorschlag zur Hilfe gerade im gegenwärtigen Augenblick, wo der Winter beginnt, doppelt willkommen. Und einem solchen sind wir begegnet in einer kleinen Broschüre des schwäbischen Pfarrers Hermann Faulhaber, „Drei soziale Fragen, unser Landvolk betreffend“, in welcher neben der Einrichtung von Landesversorgungsämtern und einer geordneten Krankenpflege auf dem Lande vor allem die Beschäftigung der ländlichen Armen gefordert wird. Faulhaber denkt dabei nicht an die Arbeitskräfte, welche im landwirthschaftlichen Betrieb Verwendung finden können, sondern an die, welche für die schwere Arbeit in der Oekonomie nicht oder nicht recht verwendbar sind und sich daher in der übelsten Lage befinden, da ein anderer Verdienst als eben der in der Landwirthschaft für sie häufig gar nicht zu haben ist. Für diese „Aermsten der Armen“ müßte man also industrielle Beschäftigung einführen, und wie das zu geschehen hätte, das zeigt Faulhaber an einer Armenindustrie für Kinder, die er selbst vor elf Jahren schon einrichtete und die seitdem eine immer größere Ausdehnung gewonnen hat. Es handelt sich um die Verfertigung von Geldbörsen aus kleinen Drahtringen, welche von Faulhaber zwar nicht erfunden, aber neu aufgenommen und verbessert wurde. Anfangs ging die Sache nur mühsam und unter Sorgen, es fehlte an dem nöthigen Absatz und an Kapital. „Als das erste Weihnachten nahe war,“ erzählt Faulhaber, „da war die Schuldsumme schon auf Tausende angewachsen, und ich wußte wohl: gelingt es, so bleibt man ja wohl in Ehren; gelingt es aber nicht, so sagt jedermann, auch der beste Freund: „Hättest es bleiben lassen können! Was braucht ein Pfarrer dergleichen Handel anzufangen!“ Aber am Ende kam doch das Gedeihen und jetzt beschäftigt diese Industrie schon 200 Kinder in verschiedenen Gemeinden Württembergs und bringt ihnen alljährlich mehr als 10 000 Mark Arbeitsverdienst. Hunderttausendweise gehen die niedlichen Börsen, vernickelt, versilbert und vergoldet, hinaus in die Welt, selbst in entfernte Länder. Als Mangel dieser Industrie bezeichnet es deren Gründer, daß sie nur Kinder, nicht auch Erwachsene beschäftigen kann, da sie (bei 5 bis 7 Pfennig Lohn in der Stunde) für die letzteren zu wenig einträglich ist. Allein eine Sache vermag nicht alles zu leisten. Wenn man bedenkt, daß im Durchschnitt jedes beschäftigte Kind jährlich 50 Mark verdient und daß diese Summe für eine arme Familie schon einen recht hübschen Zuwachs zu ihrer Einnahme bedeutet, so wird man das Werk Faulhabers nicht gering anschlagen; um so mehr, als er seinen kleinen Arbeitern die für die Schulaufgaben und die Erholung im Freien nöthige Zeit nicht verkümmern läßt und die Beschäftigung selbst unter dem Gesichtspunkte leitet, daß die Kinder dadurch für die spätere Erlernung eines Handwerks gelehriger und arbeitslustiger werden. So verbindet Faulhaber mit dem unbedingt erforderlichen praktischen Geschick – er selbst hat z. B. die in seiner Industrie verwendeten Maschinen erfunden – den gesunden sittlichen Blick, der nicht weniger werthvoll ist. Wie treffend ist sein Urtheil, wenn er sich gegen den Vorwurf vertheidigt, daß er mit seinen Vorschlägen die Schäden der Fabrikthätigkeit auch auf das Land verpflanze! „Es kommt doch immer darauf an,“ sagt er, „von wem und wie solche Arbeit organisiert wird und daß derartige Beschäftigung mit sittlichen Faktoren in Verbindung gebracht wird. Der Pessimist sagt: ‚Die Maschine ist Mechanismus, sie macht den Menschen geistlos arbeitend, verflacht ihn, sie erniedrigt ihn und verbraucht ihn unwürdig, oder aber – sie macht ihn entbehrlich, arbeitslos, arm.‘ Gerade so gut kann man umgekehrt sagen: Die Maschine ist Geist, sie schont die Kräfte des Menschen würdig, sie erleichtert die Arbeit und erspart ihm die schwere Arbeit.“

Wer sich näher für diese „Armenindustrie“ interessiert, der findet in der genannten Broschüre an der Hand hübscher Bilder eine genaue Schilderung der Fabrikation. Vielleicht läßt sich der eine oder andere durch den wohlthuenden Geist des Büchleins und den guten Zweck des Unternehmens bestimmen, zu dessen weiterer Ausbreitung selbst mit Hand anzulegen, damit dasselbe immer mehr werden kann, was es sein möchte, eine Hilfe für die „Aermsten der Armen“.

Die Dynamitexplosion in Santander. (Zu dem Bilde S. 809.) Der wichtigste Hafenplatz an der Nordküste Spaniens ist Santander, die Hauptstadt der Provinz gleichen Namens. An einer prächtigen Meeresbucht erhebt sie sich, malerisch zwischen Rebenhügel gebettet; um den geräumigen sicheren Hafen her hat sich ein reiches industrielles Leben mit seinen Ansiedlungen entwickelt. Dieser ganze Stadttheil ist nun in den ersten Morgenstunden des 4. Novembers durch eine grauenvolle Dynamitexplosion fast vernichtet worden. In der Nacht vom 3. auf den 4. November war an Bord des im Hafen ankernden Transportdampfers „Cabo Machichaco“ Feuer ausgebrochen; ein heftiger Wind trug die Flammen hinüber auf die benachbarten Lagerhäuser, und im Verlauf von einigen Stunden brannte die ganze Umgebung. Mit äußerster Kraftanstrengung versuchte man, des Feuers Herr zu werden und namentlich das dicht am Quai verankerte Schiff frei zu machen, um es in die offene See hinauszuführen. Allein alle Versuche scheiterten. Und doch wäre gerade die Entfernung des Dampfers das einzige Mittel gewesen, um die eigentliche Katastrophe abzuwenden. An Bord des „Cabo Machichaco“ befanden sich nämlich große Mengen Dynamit, die jeden Augenblick explodieren und die ganze Umgebung in die Luft sprengen mußten.

In der Frühe des 4. Novembers, kurz nach vier Uhr, trat das Furchtbare ein. Die ganze Stadt und die Dörfer auf mehrere Meilen im Umkreis erzitterten wie von einem Erdbeben, Häuser und Mauern wurden niedergerissen, Dächer abgedeckt, Thüren und Fenster zertrümmert, und der Hafenstadttheil selbst bildete im nächsten Augenblick eine einzige große Ruine, aus der ein Flammenmeer in die Lüfte stieg. Das Schiff war verschwunden, in Millionen Atome zerschlagen, mit ihm eine Dampfbarkasse und mehr als hundert kleinere Fahrzeuge. Der schwere Anker des „Cabo Machichaco“ wurde 800 Meter weit geschleudert, fiel auf den Balkon eines Hauses, zerstörte ihn vollständig und schlug dann tief in den Boden der Straße. Noch in einer Entfernung von 2 Kilometern wurde ein Mann durch herunterfallende Trümmer ge[t]ötet. In dem Augenblick, als die Explosion erfolgte, lief der Madrider Eilzug in den Nordbahnhof ein, und ehe noch die Reisenden die Wagen verlassen konnten, fing der Zug samt dem Bahnhof Feuer, so daß viele den Flammentod fanden, während andere sich aus den Fenstern des noch in vollem Gange befindlichen Zuges stürzten. Weit zahlreicher aber waren die Opfer des Unglücks im Hafen selbst. Unter den dort mit den Rettungsarbeiten Beschäftigten, unter den Zuschauern, die sich um die Quais drängten, ohne die Dynamitgefahr zu kennen, forderte die Explosion die zahlreichsten Opfer. Gegen 3000 Getötete sollen es sein, darunter der Gouverneur der Stadt, der Kommandant der Garnison samt 40 Of[fi]zieren, der Polizeipräfekt, die höheren Beamten überhaupt. Die Bestürzung war ungeheuer, man dachte nicht mehr daran, die Löscharbeiten for[t]zusetzen, den Verwundeten, deren jammervolle Rufe aus den Flammen drangen, Hilfe zu bringen. Erst als aus den benachbarten Städten Viktoria und San Sebastian Truppen und Feuerwehr in Sonderzügen eintrafen, ging man daran, dem verheerenden Brande Einhalt zu thun. Unser Bild zeigt den Hafenstadttheil von Santander vor dem verhängnißvollen Ereigniß. Mögen die Spuren des Unglücks bald vertilgt sein, mögen die Wunden, die da geschlagen wurden, nach Möglichkeit gelindert werden! Die spanische Regierung ist mit gutem Beispiel vorangegangen und hat sofort einen unbegrenzten außerordentlichen Kredit bewilligt für die Rettungsarbeiten und die Unterstützung der Hilfsbedürftigen.

Zum Andreasabend. (Zu dem Bilde S. 813.) Es ist noch nicht ausgemacht, an die Stelle we[l]ches germanischen Gottes der heilige Andreas, der Bruder des heiligen Petrus, der in Scythien, Galatien, Bithynien und Kappadocien das Christenthum gepredigt haben soll, getreten ist. Aber eines ist sicher: jener germani[s]chen Gottheit muß die Liebe und die Ehe geweiht gewesen sein. Die weitaus größte Mehrzahl der Volksbräuche der Zwölfnächte, mittels deren man die Zukunft zu erforschen sucht, gilt der großen Frage nach dem künftigen Verlobten oder der künftigen Braut. In tausendfachem Wechsel klingt doch immer dieselbe Weise wieder.

Aber an keinem Tage tritt das so hervor wie am Andreasabend. Dort holt das heirathslustige Mädchen im Dunkel der Andreasnacht Kirsch- und Fliederzweige und pflegt sie sorgsam in lauwarmem Wasser, bis Weihnachten herankommt. Dann müssen sie in voller Blüthe stehen, wenn die Hochzeit nahe sein soll. Soviel Tage vergehen, bis die erste Blüthe aufbricht, soviel Wochen oder Monde muß man noch warten, bis der erste Freier sich meldet. Auch aus der Zahl und Stellung der Blüthen weiß man Schlüsse auf die Nähe oder Ferne des ersehnten Eheglücks zu ziehen.

Auch sitzt wohl ein Mägdlein schweigend neben dem Herde und betet ein Vaterunser rückwärts. Denn dann erscheint ihr sicher der künftige Gatte. Einstens wollte, so erzählt Franziscus im „Höllischen Proteus“, ein zwölfjähriges Mädchen dies nicht glauben. Da rieth ihm die Magd, es doch einmal selbst zu versuchen. Das Mädchen that es. Da trat aus der Küche eine weiße Gestalt mit bleichem Antlitz herein. Das Kind schrie auf, und die Gestalt verschwand. Es wurde nachmals siebzig Jahre alt und starb als Jungfrau, denn so oft es auch umworben ward, immer zerschlugen sich die Verlöbnisse wieder. So wurde der Tod wirklich sein Bräutigam. – Hier kann man auf einem Kreuzwege, dort im Brunnen den künftigen Liebsten sehen, und wieder anderorts erscheint seine Gestalt nachts in der Schlafkammer und trinkt aus einem Wasser- oder Weinglas, je nachdem er arm oder reich ist.

Eine eigenthümliche Rolle spielt bei diesen Versuchen, in die Nacht der Zukunft zu schauen, vielfach der sogenannte „Erbzaun“. In Schlesien und im Harz, in Bayern und am Rheine zieht man ihn in den Bereich des Andreaszaubers. Nachts, wenn es bald die zwölfte Stunde schlägt, geht das Mädchen hinaus an den Erbzaun, der das Gehöft ihres Vaters von dem Nachbargute scheidet. Sobald die Glocke zum Schlage aushebt, schüttelt sie den Zaun kräftig und spricht:

„Erbzaun, ich schüttle dich,
Erbzaun, ich rüttle dich,
Wo mein Liebchen wohnt, da regt es sich.
Kann er sich nicht selber melden,
So laß er nur ein Hündchen bellen.“

Dann wartet sie, bis irgendwo ein Hund bellt, und in dieser Richtung wohnt dann ihr künftiger Schatz.

Anderwärts schüttelt sie den Erbzaun so lange, bis eine Planke losgeht. Diese nimmt sie sorglich mit sich und bewahrt sie an einem verborgenen Orte auf. Am ersten Weihnachtsfeiertage steckt sie dieselbe dann beim ersten Läuten in den Ofen, beim zweiten schiebt sie sie noch ein Stück weiter hinein und beim dritten stellt sie sich ans Fenster und sieht, wer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_819.jpg&oldid=- (Version vom 27.10.2018)