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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

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Deutsche Weihnachten in der guten alten Zeit.

Von Alexander Tille. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Wir befinden uns am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, in einer kleinen Stadt Mitteldeutschlands. Die Ernte der Flur, welche die meisten Bürger noch selbst bestellen, ist eingebracht, auch der Martinstag, das große Gesamterntefest, ist bereits ins Land gegangen. Schon hat es einmal geschneit, und allenthalben rüstet man sich auf den Winter. Aber wenngleich bereits ein scharfer Wind durch die Gassen fegt, die Jugend macht noch keinerlei Anstalten, sich in die Häuser zurückzuziehen. An der Südseite des Marktes; dicht beim „Goldenen Kalbe“, hat sich ein ganzer Trupp versammelt, den augenscheinlich ein Gegenstand von großer Wichtigkeit beschäftigt. Seine Aufmerksamkeit gilt indessen nicht dem ungeheuren ziegelrothen Kutschwagen, der eben vor dem Gasthause hält und dessen vier Rosse aus den schweren Steinkrippen fressen, er sucht vielmehr mit neugierigen Augen durch die kleinen trüben Scheiben in das Innere des Hinterzimmers zu dringen, zu dem man nur durch die große Gaststube gelangen kann.

Da drinnen geht es sehr laut zu. Fünfzehn junge Männer sind hier versammelt und halteu „Heiligen Christrath“. Draußen hat man wohl aufgepaßt, wer alles dahineingegangen ist; denn wenn man weiß, wer beim Christumzug betheiligt ist, dann sind die einzelnen hinterher leichter zu erkennen. Es sind ernste Zeiten für die, so da drinnen in Berathung sitzen. Seit Menschengedenken hat der Christumzug inmitten der Weihnachtsfestfreude gestanden, seit Menschengedenken hat der Mummenschanz der Christnacht dem „Heiligen Christrath“ erkleckliches Stück Geld eingebracht, und jetzt soll ihm dieses Vorrecht genommen werden! Das Erkenntniß der theologischen Fakultät der Universität Leipzig vom Jahre 1680 lautet ganz unzweideutig: „Halten dannenhero schrifftmäßig davor, daß so beschaffenes Heil. Christ-Spiel in Haupt und Fuß zu verändern, daß sowohl die vornehmste Person, der vermummte Heil. Christ, als die unterste, nehmlich der Knecht Ruprecht, abzuschaffen seynd, damit weder Occasion zur Abgötterey noch zu allerhand Schand und Ueppigkeit in Zusammenkünften gegeben werde. Die mittel Personen können, als Engel, S. Petrus oder von dem Heil. Christ abgeordnete Diener, die Kinder zu examinieren, beten zu lassen, und von Untugenden abzumahnen, in geziemenden Schrancken vol beybehalten, und hierdurch die Kinder bey Christlicher Weynacht-Freude, die Agirenden aber bey den hergebrachten Accidenze (darum es sonsten zu thun zu seyn scheinen will) gelassen werden, welches dann mit Zusammensetzung des Magistrats und Ministerii gar füglich und absque strepitu (ohne Lärm), ohne Eintrag der Schul-Collegen und derer, welche bißher einig solatium daran genossen, auch ungehindert des hierunter von Eltern abgezielten Zweckes, wohl geschehen mag.“

Aber was soll aus dem Christspiel werden, wenn seine Hauptgestalt, der Knecht Ruprecht, fehlt? Und wer soll die Veränderung „in Haupt und Fuß“ besorgen? Der wohlgelahrte Meister der Stadtschule hat sich infolge jenes Erkenntnisses feierlich vom Umzugsspiel losgesagt, und jetzt übt er mit seinen Buben auf Befehl des Stadtraths gar noch ein paar ehrwürdige lateinische Weihnachtsgesänge ein und es geht das Gerücht, daß er mit ihnen am Heiligen Abend von Haus zu Haus ziehen und sich auf diesem Wege seine Taschen füllen wolle!

Das Christspiel.

Doch die Burschen fürchten die Nebenbuhlerschaft der singenden Buben nicht, sie gedenken vielmehr, die singende Schar, wenn sie ihr zufällig begegnen sollten, weidlich durchzuprügeln. Und was das Christspiel betrifft, so sieht jeder ein, daß Veränderungen zu den Unmöglichkeiten gehören; darum soll auch alles beim alten bleiben. Nur eins verspricht man sich, beim Umzug nämlich sich nicht zu weit voneinander zu entfernen, damit man den beiden Nachtwächtern und den vier Stadtsoldaten nöthigenfalls geeigneten Widerstand leisten knune. Spät abends geht man auseinander. Nun beginnen die Vorbereitungen, Proben und andere Zusammenkünfte, und bald ist man darüber einig, daß man ohne den alten Schullehrer, der immer recht haben wollte und im Grunde eigentlich gar nichts verstand, weit besser zustande komme.

Indessen ist wieder ein Monat ins Land gegangen. Mit Schrecken berichten die Kinder daheim, daß sie heute in der Dämmerung den Knecht Ruprecht bereits hätten über die Straße huschen und im „Goldenen Kalb“ verschwinden sehen. Die ganz Kleinen machen dabei große Augen; die Schulbuben lächeln schlau; sie denken daran, was ihnen der Herr Lehrer gesagt hat. Die Mutter aber hat ihr vierjähriges Töchterchen auf dem Schoß und läßt sich ernsthaft von ihm das „gemeine Kindersprüchlein“ wiederholen:

„Das Jesulein bin ich genand,
Bey denen frommen Kindernlein wohl bekand,
Die ihren Eltern gehorsam seyn,
Und ihren Catechismum lernen fein:
Die Früh aufstehn und beten gern,
Denen will ich alles guts beschern.
Was aber solche Holtz Böcke seyn,
Die schmeissen Schwester und Brüderlein,
Die schlept der Todt in die Hölle hinein.
Darumb seyd fromm, ihr Kinderlein
Daß ihr nicht kompt in solche Pein.“

Endlich ist es Heiliger Abend. Der Vormittag ist langsam verstrichen, aber sein Verlauf erscheint noch eilig gegen den Schneckengang des Nachmittags. Doch auch er findet einmal ein Ende. Da eine weiße Schneedecke die Fluren, Gärten und Straßen deckt, so tritt die Dämmerung verhältnißmäßig spät ein. Endlich, endlich beginnt es düster zu werden. Hier, dort, in zwei, drei, vier Fenstern flammt ein Licht auf, das nur mühsam das Zimmer erhellt, aber doch durch die kleinen, runden Scheiben hindurchglänzt. Längst ist kein Kind mehr auf der Straße zu erblicken. Die Furcht, „mitgenommen“ zu werden, überwiegt selbst die kindliche Neugier. Auch von Erwachsenen geht nur hinaus, wer muß. Denn auch sie sind vor den „Christlarven“ nicht sicher. Schon huscht da und dort eine vermummte Gestalt über die Straße, die man ebenso gut für einen Bären wie für einen Baum halten kann. Immer düsterer wird’s draußen, immer stiller auf den Straßen. Auch die beiden Nachtwächter bleiben wohlweislich zu Hause, und die vier Stadtsoldaten belustigen sich auf der Wachtstube im Rathhause.

Allenthalben sind die Eltern noch bis gegen Abend beschäftigt gewesen, die „Christbürden“ fein säuberlich zusammenzupacken und mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 854. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_854.jpg&oldid=- (Version vom 8.5.2023)