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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Heute wär's auch nicht mehr möglich,“ meinte er trocken. „Kommen Sie heraus aus der Dunkelheit, lassen Sie sich ansehen! - Ja, wer hat denn nun recht gehabt, he?“

„Sie natürlich! Sie, mein lieber Leeden!“

„Haben Sie beide Briefe schon gelesen?“ fragte er, das Schreiben und die Leuchter vom Boden aufhebend und die Lichter aufs neue anzündend.

„Herr Gott, nein! Geben Sie doch!“ Ich riß den Umschlag des Briefes auf und sah nach der Unterschrift - Hella! Was hat denn die mitzureden? dachte ich. Da stand in großer eckiger Schrat:

          „Lieber Onkel!

Ich hoffe, ich thue Dir einen Gefallen, wenn ich Dir in aller Kürze Deinen Verlobungstag beschreibe. Sehr herrlich war er nicht ausgegangen, es regnete und ist überhaupt gar nicht hell geworden. Dazu hatte Großmutter Migräne und sah sehr gelb aus wie eine von den Orangen, die Du uns aus Genua geschickt hast. Sie hatte ihren türkischen Shawl um und war geradezu unausstehlich (Du kennst sie ja von früher her!), betrug sich auch sehr unartig gegen die arme Bine. Ich hoffe, Du sorgst dafür, daß das künftig nicht mehr vorkommen kann - auch mir gegenüber muß sie artig sein! Beim Mittagessen bekam Bine Deinen Brief und wurde so blaß wie das Tischtuch und hat gezittert, das arme Thierchen. Dann hat Großmama ihr den Brief weggenommen, und als sie ihn gelesen hatte, rief sie : ,Mein Engel mein Herzenskind!’ und fiel Bine um den Hals und küßte sie immerfort, ich konnte es kaum mit ansehen. Dann habe ich natürlich gefragt, was da los sei, und da hat Großmama gesagt, Du hättest Dich mit Bine verlobt, und hat sie wieder geküßt, und die Bine hat eine ganz richtige Ohnmacht bekommen, und wir haben sie in ihr Stübchen gebracht, und Großmutter hat gethan, als wäre Bine von Zucker, so hat sie sie abgeleckt.

Mich hat sie aus der Stube geschickt, weil die Teckel mitgelaufen waren ; ich durfte erst vorhin wieder hinein zu Bine und habe ihr Glück gewünscht, und da hat sie mir die Hand gedrückt, Sie soll ganz still liegen, sagt der Doktor, und heute nicht schreiben, denn ihre Nerven sollen sich erst wieder beruhigen. Es scheint eine angreifende Geschichte zu sein, das Verloben!

Sie läßt Dir sagen, sie würde Dir morgen für alles danken; verstehe mich aber nicht falsch, sie meint für Deine Liebe! Sie will Dich natürlich heirathen, sie sagte es zu Großmama - es wird ihr nur so schwer, zu schreiben. Mutter Buschen heult vor Freude. Und gerade in der Dämmerstunde kam das Kamel, der Radowitz, vorgefahren, und da hätte ich mir zu gern den Spaß gemacht, ihm zu erzählen, warum ihn Großmama nicht zu empfangen vermöge. Na, ich kann mir sein Gesicht vorstellen, wenn er es erfahren wird; ungefähr so, wie Busch die Gesichter malt. Du kennst wohl die Sachen von Busch, lieber Onkel?

Ich reite den ,Hans’ alle Tage und hoffe, wenn ich Euch einmal besuche, wirst Du ein anständiges Pferd für mich haben.

Schönsten Gruß von
Deiner Hella“     

„Nun, doch nichts Schlimmes?“ fragte Leeden.

„Sabine scheint sich sehr aufgeregt zu haben; sie ist leidend, wie mir die Kleine schreibt,“ antwortete ich beunruhigst

„Das ist, scheint's, immer so,“ meinte er, „die heutigen Nerven! Aber kommen Sie, Brenken, ich bin teufelsmäßig hungrig!“

Ich folgte ihm nachdenklich. Meine arme kleine süße Bine!

Und nun goß der alte ehrliche Kamerad die Gläser voll. „Auf Euer Glück!“ sagte er einfach, und wir leerten die Kelche bis auf den letzten Tropfen.

Dann sah ich allein noch lange, lange in die Nacht hinaus, hörte den Fluß rauschen und dachte an das kleine Stübchen im Brenkenhause bis eine bleierne Müdigkeit mich aufs Lager warf, Und ich schlief bis Leeden mich weckte.

„Schöner Bräutigam, verschläft die Abreise!“

Mit knapper Roth erreichten wir noch den Zug,

*     *     *

Ich bin keiner von den Ungeduldigen, aber diese Reise hätte jedes Lamm zum Tiger gemacht, Schon in Mailand hörten wir von Schneeverwehungen und Lawinen auf der Gotthardbahn. Wir fuhren aber ab und blieben zwei Tage, sage zwei Tage, in Bellinzona liegen. Ich hatte bereits von Pisa aus an Bine telegraphiert, daß ich in kürzester Zeit eintreffen würde, in so kurzer Zeit, als man eben braucht, wenn man ohne Unterbrechung reist. Nun telegraphierte ich, wir würden eine kleine Verspätung haben; man hatte uns nämlich bestimmt versprochen, daß die Bahn in wenigen Stunden wieder fahrbar sein werde. Aber, siehe da - eben wollten wir uns nach dem Bahnhof begeben, da kam die Kunde von einem neuen Schneesturm und wir saßen wieder fest. Auf meine telegraphische Anfrage, wie es Sabine gehe, kam die Nachricht „Gut!“ Sehr kurz, mehr als telegrammmäßig, aber deutlich, Ich lief im Hotelzimmer wie ein gefangener Löwe im Käfig umher und braute mir die schwärzesten Möglichkeiten zusammen. Leeden hatte die Nase in eine Zeitung gesteckt, hob nur manchmal den Kopf und sah mich an, wie man einen Kranken betrachtet. „Einfach verrückt!“ murmelte er.

Ich sah es natürlich in jenen Tagen nicht ein; heute glaube ich, er hatte recht. Oder doch nicht? Ich war nicht einfach verrückt, ich war einfach glücklich und - ungeduldig. Ich hatte ja lange, so furchtbar lange auf mein Glück warten müssen, nun dünkte mich diese kurze Verzögerung unerträglich. Es sollte wohl so sein.

Die Hindernisse waren just in dem Augenblick beseitigt, als ich mich fest entschlossen hatte, über den Brenner zu reisen, und wir kamen endlich vom Fleck. Eine Stunde nach der andern verging, eine Station nach der andern ließen wir hinter uns, deutsche Laute klangen uns wieder ins Ohr, wir sausten die schwindelnden Alpenhänge hinunter und kamen nach Zürich. In Frankfurt verließ mich Leeden; ich glaube, ich war ihm mittlerweile so langweilig geworden, daß er eine Geschichte erfand, die Geschichte von einer Tante, die in der Nähe von Frankfurt leben sollte. Es war das erste Mal , daß ich's von ihm hörte, aber ich nahm ihm die Tante nicht übel. Ich saß am liebsten allein im Coupé, las Tante Klaras Brief mit immer gleicher Rührung und fühlte dann und wann nach dem Etui in der Tasche meines Pelzes, dem Etui mit dem Armband.

Wir kamen durch Thüringen, wir kamen nach Magdeburg, und dann raste der Zug mit mir durch die liebe verschneite märkische Landschaft. Ich befand mich in einem fieberhaften Zustand. Ich habe nie gern Gedichte gelesen, besonders Liebesgedichte nicht, und als eines der überschwänglichsten hatte ich stets die Uhlandsche „Heimkehr“ angesehen.

„O brich nicht, Steg ! du zitterst sehr,
O stürz' nicht, Fels! du dräuest schwer,
Welt, geh' nicht unter, Himmel, fall' nicht ein,
Eh' ich mag bei der Liebsten sein!“

Ich bat dem Dichter diese Geringschätzung ab, mir war ungefähr so zu Muthe.

Es dunkelte bereits, als ich in Wardelingen anlangte. Ob ich mir eingebildet hatte, sie würde dastehen, mich zu empfangen? Nein, es wäre gegen alles Zartgefühl gewesen, so vor den Leuten auf dem Bahnhof. Oder giebts Ahnungen? Es überfiel mich plötzlich eine herzbeklemmende Stimmung.

Natürlich wollte ich vor allem erst in den Gasthof, die Spuren der langen Reise zu verwischen, und dann - -

„Guten Abend, Onkel!“ sagte eine Stimme, und ein schwarzer kleiner Köter, der mir vor den Beinen herumlief, brachte mich in meiner Hast beinah zu Falle.

„Hella, Du? Guten Tag!“

Ich preßte ihr die Hand. „Liebes Kind,“ sagte ich, dem Wagen zuschreitend. „ich will erst in den Gasthof um ein wenig Toilette zu machen. Um acht Uhr bin ich bei Euch.“

„Onkel!“ rief sie mir nach, „Onkel, ich bin ja - - warte doch!“

„Was willst Du denn, Hella?“

„Ja wenn Du so läufst,“ stieß sie athemlos hervor. „Ich will Dir nur sagen, die Großmutter läßt Dich bitten, erst morgen zu kommen, Nämlich Bine - weißt Du - Bine ist vorhin wieder ohnmächtig geworden, und der Doktor -“

Ich stand wie leblos.

„Mein Gott, Onkel! Na ja, siehst Du, ich wollte Dir das ganz anders sagen. aber wenn Du so davonrennst!. Bine war nämlich den ganzen Tag sehr ruhig und heiter, aber auf einmal, da - sie guckte so starr immerfort auf einen Fleck - da sank sie zurück, und das sah eklig aus - als müsse sie gleich tot sein.“

Ich hatte plötzlich keine Eile mehr und schritt langsam neben ihr durch die Straßen.



(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_860.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2017)