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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

und er hat ihn an unser Haus empfohlen. Ich muß gestehen, daß ich mit der Species „Fähnrich“ recht wenig anzufangen weiß, und dieser schien mir nicht das munterste Exemplar zu sein!“

„Ich fand ihn sehr hübsch!“ bemerkte Hänschen plötzlich und rief damit das allgemeinste Erstaunen hervor.

„Wo hast Du ihn denn gesehen?“ erkundigte sich die Mutter etwas scharf.

„Durch die Portiere!“ bekannte Hänschen todesmutig, wurde dunkelrot und verschwand, unter dem Vorwand einer heruntergefallenen Serviette, spurlos unter den Tisch, wo sie, allem Anscheine nach, den Rest des Abends verleben zu wollen schien.

„Na, das ist ja sehr nett,“ meinte der Vater trocken, „nun komm nur auch wieder einmal in die Höhe! Die Serviette ist doch keine Nähnadel, die mußt Du ja inzwischen längst wieder gefunden haben! Also hübsch fandest Du den Fähnrich?“ setzte der Hausherr mit sichtlicher Belustigung hinzu, „nun sieh’ mal an!“ Der Assessor blickte, ganz unberechtigterweise, etwas verdrießlich drein.

„Sehen Sie sich junge Herren schon darauf an, ob sie hübsch sind?“ frug er beißend.

Hänschen, die sich inzwischen von ihrer überwältigenden Verlegenheit schon wieder erholt hatte, fuhr kampfbereit auf ihren Gegner los.

„O ja!“ erwiderte sie mit der ganzen Keckheit ihres Alters, „ich habe nur bisher keinen getroffen, der auch nur menschlich aussah!“

Der Assessor lächelte etwas unnatürlich – der Hieb saß.

„Da haben Sie’s!“ meinte der Vater lachend und schob dem Gaste die Rotweinflasche hin, „trinken Sie noch eins auf den Schreck! Wer wird sich mit einem Backfisch auf Wortgefechte einlassen – da zieht man immer den kürzeren!“

Die Mutter hatte währenddessen durch mehrfaches Kopfschütteln und Stirnrunzeln ihrer hoffnungsvollen Tochter starke Mißbilligung zu erkennen gegeben – Hänschen aber freute sich so sichtlich ihres Sieges, daß nichts mit ihr anzufangen war.

„Und was denkst Du mit dem Fähnrich zu thun?“ frug die Mutter.

„Vorläufig habe ich ihn zum Sonntag eingeladen,“ sagte der Präsident, „ich fühle doch die Verpflichtung, mich des Jungen etwas anzunehmen – er wird ja nicht stören!“

„Nun, das bleibt abzuwarten,“ meinte der Assessor gereizt, „im ganzen sind solche halbreife Früchte am Baume der Menschheit nicht sehr genießbar!“

„Besser wie Backpflaumen“, murmelte Hänschen zur sprachlosen Freude ihres Bruders, der ihr bei jeder neuen Ungezogenheit gegen den Assessor ermunternd zunickte und sie mit den Füßen stieß, um seinen Beifall zu bekunden.

Als der Assessor sich an diesem Abend, einer anderen Verabredung halber, ungewöhnlich früh empfahl, frug die Mutter: „Sie kommen doch auch am Sonntag?“

„Wenn ich trotz des Fähnrichs erscheinen darf“ – meinte der Assessor lächelnd – „wie ist das, Hänschen?“

Die junge Dame, die sich schon während des ganzen Abends einer haarsträubenden Unart gegen den Gast hingegeben und sich bei jeder seiner Bemerkungen mit Karl gepufft und ironisch angelächelt hatte, warf dem Frager einen gleichgültigen Blick zu.

„Zu mir kommen Sie ja nicht!“ sagte sie mit großer Ruhe, und dem Hausfreund blieb angesichts der Sachlage nichts übrig, als sich mit einem Achselzucken zu empfehlen.

Kaum hatte die Thür sich hinter ihm geschlossen als die Mutter mit großer Entschiedenheit die Parole ausgab: „Marsch, fort jetzt! Ihr wart heute abend zu ungezogen, Ihr geht jetzt schlafen – alle beide!“

„Ich soll auch schlafen gehen?“ frug Hänschen mit großen Augen.

„Jawohl!“ erwiderte die Mutter, „Du auch – und zwar sofort! Hast Du’s begriffen?“

Hänschen stand zögernd auf.

„Ich gehe ins sechzehnte Jahr!“ erklärte sie strafend.

Der Vater erhob die Augen von der Zeitung. „Das ist sehr hübsch von Dir!“ sagte er trocken, „aber jetzt gehst Du nicht nur ins sechzehnte Jahr, sondern auch ins Bett – ich habe die Ehre, Euch allen beiden eine gehorsame gute Nacht zu wünschen – es war mir ein besonderer Vorzug.“ – Eine Handbewegung nach der Thür vervollständigte diesen „Herausschmiß“ in der verbindlichsten Form.

Die beiden Geschwister trollten sich beschämt, und Hänschen gönnte sich wenigstens noch die kleine Herzenserleichterung, hörbar zu murmeln: „Alles wegen dem Greuel!“

Die Mutter sah ihr seufzend nach.

„Was aus diesem Mädchen noch einmal werden soll, Ludwig, das ist mir ein Rätsel!“ sagte sie bekümmert.

„Etwas sehr Niedliches!“ meinte der Vater behaglich.

„Aeußerlich ja!“ gab die Präsidentin zögernd zu, „aber sonst! Hast Du schon einmal etwas so Unbrauchbares gesehn? Und diese Gleichgültigkeit gegen ihre Erscheinung und ihren Anzug – bei einem so großen Mädchen! Um aus diesem Unband etwas Vernünftiges werden zu lassen, da müßte wirklich ein Wunder geschehen!“

„O, die geschehen noch alle Tage!“ sagte der Präsident heiter.

„Ich ziehe es doch vor, nicht darauf zu warten,“ bemerkte seine Frau bittersüß, „nein, nein, es ist nicht anders – sie muß in Pension!“

Der Vater machte eine ungeduldige Bewegung.

„Heute abend noch?“ frug er, „nein? Nun, da kann ich wohl erst noch meine Zeitung zu Ende lesen!“




Der Ausspruch: „Sie muß in Pension!“ war in neuerer Zeit geradezu zum Leitmotiv im Hause des Präsidenten geworden, und es darf nicht verschwiegen werden, daß Hänschen eines „Abschliffs“ in ihrer Erziehung nach den meisten Richtungen hin noch dringend bedurft hätte. Die Haupt- und Kardinaltugenden des „Weibes“ fehlten ihr vorläufig entschieden oder lagen noch so absolut unentwickelt in ihrer Natur, daß es auch dem schärfsten Auge bisher nicht gelungen war, sie herauszufinden.

Mochte die Mutter sich noch so oft mit dem alten Worte trösten lassen: „Niemand weiß im grünen Mai, was Knospe und was Mädchen sei“, es blieb doch eine traurige Wahrheit, daß Hänschen an allen Freuden, Interessen und Pflichten einer heranwachsenden jungen Dame bisher wenig oder gar keinen Anteil nahm. Als ein unnormaler Zug durfte es schon bezeichnet werden, daß ihr Wunschzettel zum Geburtstag und zu Weihnachten immer als oberste Bitte, und von zahllosen Ausrufungszeichen begleitet, die negative Forderung enthielt: „Nichts zum Anziehen!“

Wurde dann doch ein Gewand beschafft, so mußte die demnächstige Besitzerin zur etwaigen Anprobe aus allen Winkeln des Hauses zusammengesucht und wie Iphigenie zum Opferaltar geschleppt werden. War sie glücklich eingefangen und mit einer neuen Toga bekleidet, so erklärte sie, während des Anprobierens lesen zu müssen, da sie sich sonst zu Tode langweile – hielt in Momenten, wo eine regungslose Haltung bedingt war, ein zentnerschweres Töchteralbum mit beiden Armen in die Höhe, schrie auf, es wäre zu eng, sowie der erste Haken geschlossen wurde, weinte geräuschvoll, stampfte mit dem Fuß und war so ungebärdig, daß nach beendeter Anprobe Mutter und Schneiderin in einem halbohnmächtigen Zustand zurückblieben. Die Kleiderkünstlerin, ein wehmütiges, ältliches Wesen, dem vor zweiunddreißig Jahren sein Bräutigam durchgegangen war, zog nach derartigen Anprobeleiden regelmäßig ein Fläschchen mit Baldriantropfen aus der Kleidertasche und versicherte in einer ihr eigentümlichen Redewendung: „Wenn Fräulein Hänschen ‚anprobieren‘, muß ich jedesmal ‚brauchen‘!“

Auch die schönen Künste des Nähens, Strickens und Häkelns, letzteres von Hänschen aus tiefer Abneigung in „Ekeln“ umgetauft, begegneten hartnäckigem Widerstande. Sogar der silberne Fingerhut, den eine vielgeliebte Tante ihr als Aufmunterung zum Fleiß verehrt hatte und der die Umschrift trug: „Täglich saget Dir die Tante, daß der Hut Dir trefflich steht!“ vermochte nicht, die Passion für die Kunst der Nadel zu beleben! Ein Handarbeitskursus, der in seinem Prospekt verhieß, die Zöglinge für dreißig Mark zu Wundern der Geschicklichkeit heranzubilden, hatte nach viermonatigem Verlauf einen von Hänschen angefertigten Stopfer in einem Küchentuch als einziges Resultat aufzuweisen. Die Mutter pflegte dieses Unikum denn auch besuchenden Freundinnen mit der wehmütigen Feststellung zu zeigen: „Dieser Stopfer kostet dreißig Mark!“

In der Küche waren die Hilfeleistungen der heranwachsenden Tochter auch suspendiert worden, seit sie beim Einrühren eines Kuchens den halben Teig in rohem Zustande aufgegessen hatte und der Kuchen infolgedessen zum namenlosen Schrecken der Mutter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_176.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)