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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Strengen Sie sich nicht mit Unwahrheiten an,“ schnitt ihr die Schriftstellerin das Wort ab, „das verfängt bei mir nicht. Ich habe meine guten Augen und sah wohl, daß Sie mich nicht kennen wollten. Nun, Freunde sind wir ja nicht, Sie haben gegen mich so wenig Verpflichtungen wie ich gegen Sie, also brauchen wir die Sache nicht weiter zu erörtern. Ich empfehle mich Ihnen, mein Fräulein!“ Und sie machte eine Bewegung, um den sturmbewährten grauen Mantel, welchen Toni wie ein bittendes Kind am Zipfel gefaßt hielt, feindselig um ihre hageren Glieder zusammenzuziehen. Aber die Kleine ließ nicht los.

„Ach, gehen Sie nicht so weg!“ flehte sie von neuem. „Ich bitte Sie herzlich um Verzeihung, wenn mein Benehmen Sie gekränkt hat. Es thut mir gar zu leid und ich möchte es gerne gutmachen, wenn ich könnte!“

Fräulein Panke sah noch immer abweisend genug drein, aber wenigstens blieb sie stehen. Prinzipiell war sie gegen Weichherzigkeit jeder Art und empfand stets eine große Genugthuung, wenn es ihr gelungen war, ihr Recht irgendwo durchzufechten und unverschämter Anmaßung einen Wink mit dem Zaunspfahl zu erteilen. Aber einer dringenden Bitte widerstand sie erfahrungsgemäß schlecht, so ärgerlich ihr dies in jedem neuen Falle war. Zu dumm, als reiner Verstandesmensch solchen Anwandlungen ausgesetzt zu sein! Aber es half nichts – auch diesmal fühlte sie, widerwillig zwar, aber ganz deutlich, den umgenommenen Eispanzer unter Tonis bittenden Blicken schmelzen, und außerdem – wie bildhübsch stand sie da, die kleine Ungezogene in ihrer weißen Schlankheit mit dem reuevoll zur Seite gesenkten lockigen Köpfchen!

Fräulein Panke räusperte sich also einmal und sprach dann mit ernstem Blick, aber bedeutend milderem Ton:

„Na, es ist wahr, ich habe mich über Sie geärgert, und das tüchtig, denn Sie haben uns in einer wahrhaft schnöden Weise verleugnet. Ich sage das nicht allein um meinetwillen. Sie haben ein gutes, treues Herz bitter gekränkt, Fräulein Toni. Und das war ein großes Unrecht.“

Das Köpfchen sank um einen Zoll tiefer. „Ach – ich weiß! Aber in diese Gesellschaft hätte er nicht gepaßt – sagen Sie selbst …“

„So! Warum denn nicht? Ein stiller und bescheidener Mensch kann an jedem Tisch sitzen. Sie sind ja schon recht hochmütig geworden in den paar Tagen Künstlerleben. Aber sehen Sie sich vor, mein Kind! Hochmut kommt vor dem Fall, und wenn die Herrlichkeit hier ein Ende hat, so sind Sie wieder, was Sie vorher waren, und bereuen es vielleicht bald, um der Courmachereien dieser Herren Maler willen sich einen Mann verscherzt zu haben, der Sie herzlich liebte und besser zu Ihnen gepaßt hätte als Sie selbst vielleicht zu Ihrer heutigen Gesellschaft!“

Diesen letzten Schuß um der guten Sache willen abzufeuern, hatte sich die gestrenge Mahnerin nicht versagen können; er entbehrte aber sichtlich der gehofften Wirkung. Um die Mundwinkel der Kleinen zuckte es verräterisch, sie bezwang sich aber und gab die Erwiderung nicht, die ihr auf den Lippen brannte. Nur einen Seitensprung machte sie, um das gefährliche Thema etwas ins allgemeinere zu ziehen, und fragte möglichst harmlos:

„Woher kennen denn Sie eigentlich den Lorenz?“

„Wir wohnen in demselben Gasthof und sind miteinander hergekommen. Nein – Sie brauchen sich nicht so erschrocken umzusehen, er ist schon lange nicht mehr hier, er hatte genug und ging gleich nach dem Abendessen … Mich hielt die Pflicht,“ fügte sie gemessenen Tones hinzu, „ich würde sonst auch schon früher gegangen sein. Aber –“ Fräulein Panke erhob kritisch Augen und Nase – „warum stehen Sie denn so verlassen hier in der Garderobe ohne Schutz und Begleitung?“

„Ach,“ erwiderte Toni, „ich weiß ja selbst nicht, wie das zugeht. Herr Pereda ist schon lange da hinein, um meine Schwester zu suchen und den Schwager auch, es kommt aber niemand von ihnen und ich fürchte mich so unter all’ den fremden Leuten.“

„So! hm … sehr rücksichtsvoll kann man das nicht nennen. Aber jedenfalls: Sie allein hier stehen lassen, das kann ich doch entschieden nicht!“

„Ach, Sie sind so gut …“ schmeichelte Toni.

„Ich bin gar nicht gut,“ schnitt ihr die andere streng das Wort ab. „Das ist pure Verstandessache. Hier allein bleiben können Sie nicht. Ich will Sie heimbringen, das wird unter den gegebenen Umständen wohl das Richtigste sein!“

„Tonerl!“ rief’s in demselben Augenblick, und Frau Volkhard kam erhitzt und etwas aufgeregt herbei. „Wo in Gottesnamen steckst Du denn? Der Pereda sagte mir, Du seiest in der ersten Garderobe“ – sie sah sich um – „ja, wo ist er denn? Ich denke, er ist gleich wieder zu Dir zurückgegangen …?“

„Ich habe ihn nicht mehr gesehen,“ erwiderte Toni etwas kleinlaut. „Vielleicht hat er mich in dem andern Zimmer gesucht, während ich hier nach Euch sah.“

„Unsinn! So geht’s allemal, wenn man nicht fest am Platz bleibt. Ich hab’ soviel Zeit gebraucht, um den Hans aus dem Bierstübel loszukriegen. Wen ich nach ihm geschickt habe, der ist nicht wiedergekommen, endlich bin ich selbst gegangen und habe ihm das Gewissen erweckt. Aha, da kommt er ja! So, jetzt nur schnell unsere Sachen und dann in einen Wagen, ich bin zum Umfallen müde.“ Während Volkhard die Mäntel holte, stellte Toni die Schriftstellerin so warm beflissen vor, daß Frau Resi ihr mit freundlichen Augen und Worten für die Beschützung der Schwester dankte. Und der mit Pelzen und Ueberwürfen beladen zurückkehrende Volkhard fügte, als er hörte, wovon die Rede war, hinzu, während die Schwestern in ihre Hüllen schlüpften: „Dann mußt Du halt das Fräulein bitten, Tonerl, daß sie einmal bei Tag nach Dir schaut, statt sich jetzt unser Haus in der Stockfinsternis zu betrachten. Nicht wahr, Gnädige?“

„Oh“ – erwiderte Fräulein Panke mit plötzlich verklärten Gesichtszügen – „ich werde glücklich sein – ich würde nie gewagt haben –“

„Na, also, dann ist ja alles in schönster Ordnung!“ schloß er leichtherzig. „Seid Ihr’s?“ wandte er sich an seine Damen. „Dann macht’s voran und kommt herunter, daß ich Euch in einen Wagen setze!“

Uns?! …“ rief Frau Resi empört. „Ich denke, Du fährst mit, Hans!“

„Fällt mir ja gar nicht ein!“ erwiderte er mit großer Seelenruhe.

„Es ist ja schon halb vier Uhr!“

„Na, dabei ist doch nichts Auffallendes. Wenn’s einmal drei ist, wird es auch bald halb vier!“

„Aber Hans – was hast Du mir versprochen …?!“

„Ich bitt’ Dich, mach’ nur jetzt keine langen Sprüch’ mehr!“ erwiderte er, ihren Arm nehmend und mit den beiden Frauen dem Saalausgang zusteuernd. „Hachinger!“ rief er den gerade über den Vorplatz Kommenden an, „sinds so gut und lassens drunten eine Droschke vorfahren, wir kommen gleich nach.“

Frau Resi stellte daraufhin das weitere Reden ein, sie hatte diesen Ausgang schon zu oft erlebt, um sich noch einmal darüber aufzuregen, stieg also an des Gatten Seite die Treppe hinab, als Ziel manches Bewunderungsblickes, den Kopf stolz aus dem silberhellen Vließ ihres Plüschmantels gehoben, und Toni, in Schleier und Tücher verpackt, folgte ihnen, nicht ohne zögernd noch ein paarmal umzuschauen.

Nun hieß es einsteigen. Volkhard schob sehr dienstfertig die Decken zurecht und klappte den Schlag zu. „Fort, Kutscher! – So“, wandte er sich dann an den dabei stehenden Hachinger, „nun hätt’ man einmal seine Ruh’. Gehen Sie mit ins Bierstübel?“

Der andere nickte, und Volkhard fragte weiter, während sie wieder in den hellen Treppenraum eintraten: „Wo steckt denn eigentlich der Pereda? Meine Frau sagte, er sei so plötzlich verduftet. Haben Sie ihn nicht gesehen?“

„Den – Herrn – von – Pereda?“ entgegnete Hachinger, indem er näselnd mit langgezogenem Ton dessen Sprechweise nachzuahmen suchte, „ja, den hab’ ich freilich gesehen, vorhin, wie er seiner schönen Ungarin das Geleit gab.“

„Nicht möglich! Ich denke, die sind gesprengt! Sie hat ihn ja mit der ‚Phantasie‘ sitzen lassen, das war doch ein infamer Streich. Wie soll er ihr trotzdem wieder so schnell beigegangen sein?“

„Trotzdem?! … Eben deswegen!“ lachte der andere. „Die kennt ihren Mann und weiß ihn zu behandeln. Teufelmäßig hübsch sah sie aus, das muß man sagen, ich bin ihr im Anfang nachgegangen, um zu erfahren, wer hinter der Maske steckt, und hernach, als ich’s wußte, erst recht. Denn jetzt beobachtete ich die beiden; ich sage Ihnen, das war wirklich interessant. Erst wütende Blicke und Ignorieren, dann Auflauern, wenn sie so recht von Herzen mit andern kokettierte, und schließlich große Scene drinnen in der Muschelgrotte. Es ging heiß her mit Blicken und heftigen Redensarten, ungarisch oder spanisch, was weiß ich? Der Kerl spricht ja alle Sprachen. Die Versöhnung habe ich nicht gesehen, es kamen andere dazu, und sie wurden verscheucht, aber das Finale vor einer halben Stunde in der Garderobe: Mantelumlegen, verklärte Blicke, Arm in Arm die Treppe hinunter und weg! … Die zwei sind einander wert, sage ich Ihnen, die kommen so bald nicht voneinander los!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_202.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)