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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

spielen hoffte, hatten sie schon seit Wochen in einen Taumel erwartungsvoller Glückseligkeit versetzt. Das Ausmalen des herrlichen Abends bis ins kleinste Detail hinein war schon so entzückend gewesen, daß die Wirklichkeit sich beträchtliche Mühe geben mußte, wenn sie mit dieser strahlenden Phantasie nur einigermaßen Schritt halten wollte. Die erste Vorbedingung zu dem formenreichen Bilde war natürlich, daß der Fähnrich, der unter den übrigen Herren, etlichen Primanern und angehenden Studenten, schon durch seine Uniform die Stelle des Schwans unter den – anderen Vögeln zu spielen berufen war, sofort auf das Geburtstagskind losstürzen und ihr mit bewegter Stimme einen tief bedeutsamen Glückwunsch aussprechen werde. Dieser Moment und die Gratulationswünsche wurden in Hänschens Einbildungskraft täglich in neuen und immer schwungvolleren Wendungen ausgemalt.

Und dann würde der Fähnrich nur – oder doch fast nur mit ihr tanzen! Am schönsten dachte sie es sich, daß er, wenn sie doch ’mal andern Gästen ihre Zeit widmen müßte, sich mit schmerzlichem Ausdruck und gekreuzten Armen an die Thür lehnen und ihr finster nachblicken würde. Es würde ja dies auffallende Gebahren allerdings etwas Peinliches haben – aber die Freundinnen würden doch gewiß alle vor Neid außer sich geraten, ein Umstand, der ja den meisten Mädchenfreundschaften eine besondere Würze verleiht.

Die freudige Erwartung und die mannigfachen Aufregungen des Tages ließen unsere kleine Heldin gar nicht zur Ruhe kommen. Als man vom Tisch aufstand, war sie so blaß, daß der Präsident mit einem prüfenden Blick auf sein Töchterchen nach schnöder Väterweise bemerkte: „Mädel, Du siehst so aus wie ein Teller saure Milch. Ich werde wohl ’mal nachsehen müssen, wieviel noch von Deiner Geburtstagstorte übrig ist!“ – was in Anbetracht der ganzen Situation und der sechzehn Geburtstagslichte recht häßlich war und die kindliche Liebe der Tochter für die Dauer von etwa zehn Sekunden fast erschüttert hätte.

Die Aufforderung, sich noch eine Stunde ruhig hinzulegen, wurde auch mit Entrüstung von Hänschen zurückgewiesen – sie hatte noch soviel zu thun!

Die Schleifen und Cotillondekorationen waren auf zwei Sophakissen zu stecken – wobei ein besonders prachtvoller Orden mit einem silbernen Schwan und einem Spiegel in der Mitte sehr pfiffig etwas unter unscheinbarere Sterne verborgen wurde, da er bestimmt war, die Heldenbrust des Fähnrichs zu zieren. Die Sträußchen für die Damen mußten in Körben geordnet – die Tanzkarten geschrieben werden, kurz, tausenderlei erfreuende und Herzklopfen erregende Vorbereitungen, die noch zu treffen waren, ließen den Nachmittag doch etwas schneller dahingehen.

Trotzdem wurde der wehklagende Ruf: „Ich glaube, heute wird es nie halb Sieben!“ mehrfach laut, und das Geburtstagskind schien demnach der Zeit den gewiß seltenen und ungerechtfertigten Vorwurf zu machen, daß sie aus „reiner purer“ Bosheit heute ’mal ganz stillstände.

Wie aber von erfahrener Seite mit ruhiger Sicherheit prophezeit wurde, „es wird schon halb Sieben werden!“, so geschah es.

Die Lampen wurden angezündet, eine frostig feierliche Atmosphäre herrschte in dem ausgeräumten Tanzsaal. Ein majestätischer Lohndiener, der wie ein englischer Premierminister aussah und in dem ehrenvollen Ruf stand, blechgefütterte Taschen zu haben, damit ihm der etwa zutraulich hineinschlüpfende Fasan keine Flecken in dem Frack verursache, deckte mit geräuschloser Gewandtheit den Eßtisch. Im Kinderzimmer schälte sich inzwischen die Klavierspielerin, eine kleine Person, so vertrocknet und runzlig wie eine getrocknete Birne, aus ihren winterlichen Umhüllungen, blieb aber im „Seelenwärmer“, um ihren musikalischen Leistungen nicht durch mangelnde Temperatur das nötige Feuer zu nehmen – kurz, die Anzeichen des hereinbrechenden Festes mehrten sich.

Hänschen, in ihrem neuen weißen Kleide, den Zopf heute hoch wie ein Krönchen aufgesteckt, was sie um drei Centimeter größer und „beinahe“ erwachsen aussehen ließ, handhabte ihren ersten Fächer mit Entzücken und Vorsicht und frug sich immer im stillen, ob die Welt wohl oft so schön wäre, während sie bei jedem Klingelton in glückseliger Nervosität zusammenfuhr.

Inzwischen fanden sich die erwarteten Gäste nach und nach ein.

Die Herren Primaner, in tadellosen Einsegnungsröcken, mit einer Maske gänzlicher Blasiertheit und Weltverachtung, durch die bei mehr als Einem höhnisch die tödlichste Verlegenheit hindurchblickte, machten die soeben frisch gelernten Tanzstundenverbeugungen mit großer Würde und kritzelten eifrig in ihre Karten.

Bei Hänschen hatte dies allerdings wenig Erfolg, da diese mehrere Tänze mit Löwenkühnheit verteidigte und namentlich den Cotillon nicht um alle Schätze Indiens hergegeben hätte – den mußte doch der Fähnrich beanspruchen und erhalten!

Die Tänzerinnen, eine Schar von Backfischen und jungen Damen, standen, ihrer sonstigen Natur entgegen, nicht schwatzend, sondern erwartungsvoll und still in einem Häufchen zusammen – etliche benutzten als Verlegenheitsableiter Lottchen, die im Besitze einer neuen Schärpe sich aber jeder Umarmung mit großer Ungezogenheit erwehrte, um ihre Prachtschleife nicht zerknittern zu lassen.

Karl klebte als stummer Beobachter in einer Ecke, nahm alles innerlich zu Protokoll und moquierte sich darüber, während er äußerlich den Eindruck eines bescheidenen, glattgekämmten Knaben machte, der sich seiner Stellung und seines kindlichen Jäckchens ganz und voll bewußt ist.

Zwischen den jugendlichen Tänzerinnen waren einige Erwachsene, die vom Vater ausdrücklich befohlen waren, damit der Assessor auch etwas Vernünftiges hätte und nicht immer mit den Backfischen herumspringen müßte.

Unter diesen zeichnete sich ein überreifes Fräulein hoch in den Zwanzigern durch eine Höhe von fast sechs Fuß und entsprechendes Gewicht aus. Sie hatte Augen wie Feuerräder, gewickelte Locken und eine prachtvolle Toilette, derzufolge sie den Eindruck machte: „Jeder Zoll ein Hundertmarkschein!“ Hiernach konnte sie mit vollem Rechte für das gelten, was man unter einer „schönen Erscheinung“ zu verstehen pflegt, wenngleich die innerliche Kritik von Hänschens Vater: „Die hätte einen hübschen Kutscher gegeben!“ nicht so ganz ohne Berechtigung schien.

Hänschen blickte immer gespannter nach der Thür – der Fähnrich ließ sich heute so erwarten! Wenn am Ende gar der Inspektionsoffizier, den der junge Herr ohnehin schon als einen wahren Franz Moor beschrieb, den Urlaub für den heutigen Tag abgeschlagen hätte – dem Geburtstagskind wurde schwarz vor den Augen.

Da – die Thür sprang auf – der Fähnrich erschien, ein Bouquet in der Hand, schön wie der junge Morgen, klirrend und hellblau. Hänschen warf einen beredten Blick auf ihre Freundinnen, in dem deutlich zu lesen stand. „Nun, habe ich Euch zu viel erzählt?“ und sah mit wildschlagendem Herzen der Anrede des Löwen der Gesellschaft entgegen. Der lang erwartete Moment verlief aber schon nicht ganz programmmäßig. Der Fähnrich chassierte zwar mit der ihm eigenen Anmut durch den Saal auf Hänschen zu und überreichte ihr sein Sträußchen, aber er bediente sich bei dieser Gelegenheit der nicht gerade durch Originalität verblüffenden Wendung: „Meinen besten Glückwunsch zum heutigen Tage!“ und kritzelte auf die Tanzkarte, statt daselbst irgend ein Gelüste nach Alleinherrschaft zu dokumentieren, sein Monogramm nur hinter den ersten Walzer, so daß Hänschen sich innerlich bitter enttäuscht fand.

Der Walzer selbst bot auch nicht gerade ein Uebermaß an Genüssen. Der Fähnrich war sichtlich zerstreut und ließ seine Augen immerfort im ganzen Saale herumrollen – er trieb die Geistesabwesenheit sogar so weit, auf Hänschens Frage: „Haben Sie schon meine Geburtstagsgeschenke gesehen?“ die überraschende Antwort zu geben: „Im Gegenteil!“ und setzte mit unheilverkündendem Eifer hinzu: „Wer ist die junge Dame in Rosa? Wenn gnädiges Fräulein dann die Güte haben wollen, mich vorzustellen“ – mit einer flüchtigen Kopfbewegung nach der Riesin deutend. Und nun begab sich etwas sehr Betrübendes. Der Fähnrich, trotzdem er der „jungen Dame in Rosa“ knapp bis an die Schulter reichte, trotzdem sie, schlecht gerechnet, sechs Jahre älter war als er – trotzdessen – oder vielmehr wenn man seine zarte Jugend in Betracht zieht, vielleicht eben deshalb! – verliebte er sich auf den ersten Blick so sterblich, so bis zur haarscharfen Grenze des Wahnsinns in die reife Schönheit, wie es eben nur ein Fähnrich oder ein Primaner fertig bekommt. Nachdem er den ersten Walzer als Arrangeur pflichtgemäß und gänzlich zerstreut mit der „Tochter des Gebäudes“ abgehaspelt hatte, verschwand er spurlos aus ihrer Nähe und schien den Abend im Schatten der Riesin verleben zu wollen.

Diese, nach einem alten ungalanten Sprichwort, wonach sogar das böse Prinzip in der Not mit Fliegen vorliebnehmen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_211.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)