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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

den Rahmen der Thür tritt, flammen dort neben dem Krankenlager die dreißig Lichter einer kleinen grünen Tanne so weihnachtlich und zaubergleich zu ihr herüber, und der unerwartete Anblick – Ditscha hat nie ein Weihnachtsbäumchen gehabt – erschüttert sie so, daß sie auf den nächsten Stuhl sinkt, die Hände vor das Gesicht schlägt und weint, zum Herzbrechen. Sie weiß, wie sehr Tante Klementine sich hat überwinden müssen, um dies zu thun, und weshalb sie es gethan. – Aber das ist ja nun alles zu spät!

„Komm, Ditscha,“ sagt die Kranke weich.

Sie schwankt hinüber und legt den Kopf auf die Kissen neben Tante Klementines Haupt.

„Weine nicht, Kind,“ spricht diese fröhlich, „Du glaubst gar nicht, wie wenig Grund Du gerade zum Weinen hast! Schau Dir an, was unter dem Bäumchen liegt, und freue Dich!“

Ditscha fährt empor. „Ich habe allerdings gar keinen Grund zu weinen,“ sagt sie mit zuckender Lippe. „Ich habe ja alles, was mein Herz begehren darf, ich sitze im wohldurchwärmten Zimmer, habe vorhin gut zu Abend gespeist, und hier brennt ein Baum für mich und unter ihm liegen Geschenke; ich werde im weichen Bette schlafen und – – genau so gut hat es Frau Oberförster ihr Lieblingsdachs auch, nur daß statt der Marzipankringel Würstchen an den Zweigen hängen.“ Sie lacht jetzt schrill und tupft sich hastig mit dem Taschentuch gegen die Augen, springt auf und tritt an den Tisch.

Hanne hat einen roten Kopf vor Aerger. Die heutigen Menschen sind ’was verrückt, denkt sie, und nach einem Blick auf die blaßgewordene Kranke sagt sie scheltend: „Und Bäuker zum Lesen kriegt wahrscheinlich das Viehstück auch, und Schmucksachen und Geld und was da allens noch liegt. Nich’ wahr – das allens kriegt der Tackel ebenso!“

Aber die Kranke winkt ihr. – Sie hat dasselbe unbefriedigte Sehnen gehabt, dasselbe heiße junge Herz; sie kennt die Qual der Unthätigkeit, des Wartens auf eine Zukunft.

Ditscha achtet schon längst nicht mehr auf die hübschen Geschenke; sie sieht zu Boden und preßt die Lippen zusammen, um ein nervöses Schluchzen zurückzudrängen. Nach einem Weilchen gelingt es ihr; sie kommt herüber und kniet wieder vor dem Stuhl der alten Dame. „Ich danke Dir für alles, Tante,“ sagt sie leise, „und bitte, trage mir nicht nach, wenn ich Dich kränkte. Ich weiß, ich bin so unartig, so bitter jetzt gewesen – vergieb mir!“

Und Tante Klementine streichelt ihr die Wange und das braune Haar. Dann schweigen beide und sehen, wie die Lichter leise knisternd herabbrennen. Und Hanne holt einen Korb und packt die Geschenke ein. Es ist auch etwas vom Onkel und von Tante Bertha dabei, ein altes Schmuckstück der Großmutter Kronen; die hat das Diamantanhängsel an einer Schnur um den Hals getragen, als die Stadt Bützow auf dem Rathause zu Ehren der schönen jungen Königin Luise ein Fest gab, zu dem auch der Adel der Umgegend mit Einladungen beehrt worden war; jetzt ist’s als Brosche gefaßt. Papa hat Geld geschickt; die Börse reicht Hanne Ditscha hin, und sie steckt sie gleichgültig ein.

Als es zehn Uhr schlägt, erhebt sie sich. „Adieu, Tante Klementine – denk’ freundlich an mich!“

„Du bist ein sonderbares Kind, Ditscha,“ antwortet sie. „Und hör’, Mäuschen, weine nicht so viel morgen, wo Du allein bleiben mußt; sieh zu, daß Du den Tag leidlich vernünftig hinbringst.“

Das Mädchen nickt. Sie weiß, daß sie morgen niemand sehen wird von der Familie, die, jedes für sich, ihr Totenfest feiert. Ach, es ist alles wie geschaffen für das, was sie vorhat. Sie wendet sich noch einmal um an der Schwelle und sieht die Kranke an mit einem langen Blick, dann ist auch das überstanden.

Hanne trägt ihr die Geschenke hinunter, und in Ditschas Stube setzt sie den Korb auf den Tisch und sagt: „Wull de leeve Gott, Fröln Ditscha, Sie hätten ’nen gooden rechtschaffnen Mann und ’nen Hushalt, so grot, dat Se garnich op ’nen Stuhl to sitten kämen. Wet’n Se wat? Se sind so äverspönig ut lange Wil un ut nicks annern, un in der Art sind de vörnehmen Frölns slimmer dran as Unsereins, wat darto kein Tid hat, weil man sin paar Groschen verdeinen mutt, um to lewen. Na, nicks vör ungood, gnä’ Fröln, Se können ja nu mal de Welt nich anners macken.“

Sie hat eine Lampe angezündet, noch eine Weile mit in die Seiten gestemmten Armen dagestanden und auf Antwort gewartet. Als Ditscha aber stumm bleibt, seufzt sie, schüttelt den Kopf und geht mit der Beteuerung, daß dies zur Weihnachtszeit das schrecklichste Haus sei auf dem ganzen weiten Erdenrund.

Hinter ihr schließt Ditscha die Thür ab; denn was sie jetzt thut, darf niemand sehen. Sie schreibt, sie zerreißt Briefe, sie zieht Schubladen auf und öffnet Schränke. – Um ihren kleinen Schreibtisch herum beginnt es unordentlich auszusehen; im Ofen brennt Papier und verbreitet einen scharfen brenzligen Geruch; des Mädchens Gesicht glüht purpurrot. Als sie endlich fertig ist, schlägt es drei Uhr morgens und erschöpft wirft sie sich aufs Bett, wo sie in tiefem bleiernen Schlaf liegt, bis der Tag dämmert, der Unglückstag für sie, der Anfang von dem tiefsten Leid ihres Lebens.




Der Heilige Abend bricht an; im Hause ist kein Laut, kein Ton hörbar, kein hastiges fröhliches Treiben, keine jubelnde Kinderstimme, kein Kuchenduft. Kein Wagen bringt Gäste, kein Postbote geheimnisvolle Pakete. Die Dienstboten schleichen förmlich auf den Zehen umher, die Herrschaft befindet sich im Wohnzimmer und ist für heute unsichtbar. In einem der vorderen Räume, dem sogenannten Empfangssaal, hat Tante Anna Platz genommen auf einem Sessel, den sie zum Kachelofen gerollt; sie trägt ein schwarzes Kleid und hat ein schwarz gebundenes Buch mit Goldschnitt auf den Knien liegen. Sie ist der festen Ueberzeugung, daß an diesem Tage einmal etwas Schreckliches passieren wird, bildet sich ein, ihr Bruder Joachim werde den Verstand verlieren oder einen Schlaganfall bekommen, und hält es für ihre Pflicht, sich nicht aus seiner Nähe zu entfernen.

Wie Tante Klementine diesen Tag verbringt, weiß niemand außer Hanne, denn auch das Turmgeschoß ist verriegelt.

Wäre das, was Ditscha vorhat, ein gutes Werk, so hätte man meinen können, die Engel im Himmel ebneten ihr die Wege.

Nichts störte sie, nichts hinderte sie, niemand fragte nach ihr, sie kann mit völliger Bequemlichkeit in ihr Unglück rennen.

Um sechs Uhr abends kommt sie die Treppe herunter in die Halle. Sie ist im Pelzmützchen und Mantel und hat den kleinen Fußsack als Täschchen am Arm, wie sie ihn stets mit in die Kirche nimmt. Totenstill ist’s um sie, nur das Rauschen ihres Kleides hört sie und das Ticken der alten Uhr. – „Wo – hin? Wo – hin?“ klingt es dem jungen Geschöpf in die Ohren, als sie vorüberschreitet. Sie glaubt auch ein Seufzen zu hören, das schauerlich durch den halbdunklen Flur weht – vielleicht der Schutzgeist des Hauses? Mit scheuen Blicken sieht sie sich um, aber nichts – nichts, was sie hält.

Noch einmal schaut sie rückwärts, dann mit einem energischen Ruck öffnet sie die Thür. Der Sturm reißt sie ihr aus der Hand, um sie schmetternd zuzuschlagen, der Hall schlittert durch das ganze Gebäude, gewaltig und laut. Ditscha erschrickt; mit so einem Donnerschlag mag das Thor des Paradieses zugefallen sein, als Gott die Menschen hinauswies auf immer, so krachend, so vernichtend und unaufschließbar für sie.

Onkel Joachim, der ruhelos im Zimmer umherwandcrt, hat es gehört, Tante Bertha auch, aber sie nehmen keine Notiz weiter davon. Die Frau mit den rotgeweinten Augen sagt nur: „Horch, der Sturm, Jochen!“

Er nickt und wandert weiter. „Damals,“ sagt er endlich, „damals war auch so ein Sturmabend, Bertha.“

„Ja, und die schöne junge Eiche wurde umgeknickt, Jochen.“

Seine Eiche, Berthachen – ich hatte sie gepflanzt an dem Tage, wo er geboren wurde –“

Sie seufzt, ohne ihn anzusehen.

„Wär’ besser, wir hätten den Tag nicht erlebt, Bertha –“

„Ach, Jochen – und es war doch so schön!“

„Ja, wie ich in Dein Zimmer kam und hörte sein Stimmchen – hatte eine Lunge wie ein Posaunenbläser und sah so rot und quabbelich aus – – ich hab’ nie gemeint, daß einem Menschen so zu Mute sein kann, Bertha, so wunderbar – so – na, ich weiß nicht, wie? Und nun – alles hin, alles hin!“

Die Frau auf dem Sofa leidet furchtbar in solchen Stunden, vielleicht mehr als der Mann; aber sie versucht doch noch, ihn zu trösten. „Joachim, ich denke immer, es ist ihm vielleicht viel Leid erspart worden. Wer weiß denn, was er hätte alles durchkämpfen müssen, wär’ er leben geblieben! Er war so zartfühlend, so leicht verletzlich – denk’ nur ’mal an eine unglückliche Heirat! Der Jung’ wär’ an einer Frau, die nicht zu ihm paßt, einfach zu Grunde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_310.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)