Seite:Die Gartenlaube (1895) 339.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Kopf war müde, und sein altes Herz fand nicht mehr die Kraft, sich nach dem schweren Leid, das es betroffen, noch einmal aufzurichten.

Käthe konnte ihm so wenig helfen wie sich selbst. Das Letzte, das Bitterste, hatte ihnen beiden den Mut gebrochen. Sie standen nebeneinander wie früher, aber sie hielten sich nicht mehr im Geiste stets an der Hand; sie fanden kein frohgemutes Wort, kein Lächeln mehr, sich selbst zu täuschen und eines dem andern auf dem Wege fortzuhelfen, der so rauh und steinig geworden war.

Dann machten die Herbststürme den alten Mann verdrießlich und kränklich. Er hüstelte immer, die Pfeife schmeckte ihm nicht, und endlich hatte er gar kein Verlangen mehr, den Lehnstuhl am Ofen einmal zu verlassen.

Käthens bemächtigte sich eine dumpfe Ergebung in die Trauer des Lebens. Sie dachte nie mehr weiter als von einem Tage zum andern und schien in den häuslichen Beschäftigungen aufzugehen.

Daß Gusti wieder fortgegangen war, gereichte ihr zur Beruhigung. Ein lebendiges Zeugnis des vergangenen Jammers, das sonst immer vor ihr gestanden hätte, war damit ihr entrückt.

Der alte Doktor kam zeitweise ins Haus und schüttelte den Köpf, wenn er es verließ. Endlich konnte er nicht anders, als Käthe sagen, daß ihn des Vaters Zustand sehr besorgt mache, daß er sehr ernst sei.

Sie fügte sich auch in das, als gäbe es gegen nichts mehr eine Hoffnung, eine Abwehr, und wurde seine Krankenpflegerin.

Wenn sie ausging, war es stets derselbe Gang, durch die schmalen Gassen zur Kirche, wo sie sich still in einen Winkel setzte und lange dablieb, am liebsten gegen Abend, wenn die Kirche fast leer war und die Dämmerung zwischen den Pfeilern aufwuchs.

Mit dem Vater wurde es immer schlechter, er wurde schwach und hilflos wie ein Kind und konnte das Bett nicht mehr verlassen. Weihnachten rückte trostlos heran; der alte Mann keuchte und fieberte und fand keinen Schlaf.

„Fräulein Käthe,“ sagte der Arzt, dem ihre bleichen Wangen und ihre steinerne Ruhe nicht recht waren, „so können wir’s nicht fortmachen. Wenigstens für die Nächte muß eine ‚Schwester‘ ins Haus. Und es wäre doch wohl gut, wenn Sie Ihren Bruder benachrichtigen würden.“

Die Schwester kam dann jeden Abend, eine stille erfahrene Person, deren freundliches Wesen Käthe im Herzen wohl that. Manchmal heftete sie ihren Blick mit einer Art Verwunderung auf sie. Diese opfern ihr ganzes Leben, alle ihre Gedanken, alle ihre Kraft. Ihnen selbst bleibt nichts. Und doch sind sie zufrieden. So muß also das Opfer ein ganzes sein, damit das Herz ruhig wird.

Der Vater sah sie zuweilen fragend an, wenn sie an seinem Bette saß. Aber er sprach es nicht aus, an was er dachte, und dann wendete er sich plötzlich gegen die Wand um, wie um ihr seinen Blick zu verbergen.

Dann kam der Bruder, und so waren sie wieder beisammen zur Weihnacht, aber keiner sagte ein Wort von seinem Empfinden.

Am Christabend, als Käthe im Bette lag, irrte ein Lichtschimmer durchs Fenster, und gerade über sich sah sie den goldenen Papierstern an der Wand flimmern, den sie im vergangenen Jahre dort hinaufgehängt hatte. Sie kniete auf, machte ihn mit zitternden Händcn los, erhob sich und verschloß ihn in ihre Tischlade.

Und über Neujahr hatte sie zwei Gräber draußen auf dem kleinen Friedhof, und ihr war, als hätte man ihr eigenes Leben begraben und es wehte der Schnee darüber und die Winterstürme, die kein Grün und keine Blüten dulden. Der Bruder blieb ein paar Wochen da, und sie sprachen über die veränderte Lage. Er erzählte ihr, daß er einen eigenen Hausstand gründen wolle. Am liebsten möchte er dann hierher ziehen ins Haus. Käthe machte ihm die Zweifel leichter. Sie wollte nichts für sich. Ein lange gehegter Gedanke war zum festen Entschluß geworden und sie sagte dem Bruder, daß sie ihr Leben der Krankenpflege widmen wolle als barmherzige Schwester.

Er war sehr erschrocken und versuchte liebevoll, ihr es auszureden. Aber sie blieb dabei, und er merkte wohl, daß er nichts ändern könne. Und nachdem sie es ausgesprochen hatte, kam eine Art Beruhigung in ihr Herz.

Manchmal ja zuckte eine flüchtige Erregung darüber hin, als sie ihre kleinen Angelegenheiten zu ordnen begann, wie jemand, der auf eine lange Reise geht, oder einer, der für immer Abschied nimmt. Aber ihr Wille blieb stark und aufrecht. Sie wollte werden wie jene, die namenlosen Samariter, die um des einen Gebotes der Liebe willen das eigene Leben von allem entkleiden, was von dieser Welt ist, und um des Einen willen alles hingeben. Sie wollte das Entsagen lernen, als ein Opfer und ein Trost zugleich. Und wollte es hineinstellen in die unendliche Leere ihres Herzens. Dann wird wieder etwas da sein als Inhalt ihres Lebens, ein Sinn, ein Zweck, ein Ziel. Dann wird sie der furchtbaren Einsamkeit entrinnen, in der sie schmachtet. Und von ihrem Opfer soll der Rauch emporsteigen mit dem der andern. Ins Ewige begraben die Beter, was sie vom Ewigen empfangen, namenloses Hoffen und namenloses Elend.

Und so schied sie.

Fast wunderte ihr Entschluß niemand von den wenigen Bekannten: als ob ihr Wesen, das so still durchs Leben gegangen war, ein natürliches Ziel damit gefunden.

Ganz allein, auch in ihrem Herzen, knüpfte sie langsam einen nach dem andern von den Fäden los, die sie noch an die Vergangenheit banden. Ihr Herz war wie ein Fahrzeug, das im Port gelegen. Eins nach dem andern kappte sie die Taue ah, die es gehalten hatten, bis der Kiel sich hob und die Wellen es schaukelten, und dann trugen sie es hinaus in die offene See, so weit, daß das Gestade der Heimat am Horizont verblaßte und im zitternden Sonnenlicht verging wie ein Nebelstreif.

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.


Moderne Diskuswerfer. Das in Nr. 2 dieses Jahrgangs unter dem vorstehenden Titel veröffentlichte Bild ruft einem unserer Leser ein Spiel ins Gedächtnis, das er Ende der sechziger Jahre in dem kleinen Dorfe Bordenau, dem Geburtsorte Scharnhorsts, oft gesehen und an dem er sich selbst damals mit Eifer beteiligt hat. Er schreibt uns: Dieses gymnastische Spiel, dort als ein wahres Volksspiel eingebürgert, war dem Diskuswerfen sehr ähnlich. Der „Diskus“ bestand aus einer Scheibe von Kiefernholz, Triele genannt, die entsprechend dem Alter und der Kraft der „Diskobolen“ einen Durchmesser von 15 bis 25 cm, eine Dicke von 2 bis 5 cm hatte. Beim Spiel selbst wurden zwei gleich starke Parteien gebildet, die, mit meterlangen dünnen Holzstäben versehen, auf einem möglichst ebenen Wege sich in einer Entfernung von 30 bis 60 m einander gegenüber aufstellten. Der Stärkste und Gewandteste der einen Partei warf dann die „Triele“, die, richtig geworfen, mit ungeheurer Schnelligkeit auf dem Boden dahinrollte. Die Aufgabe der andern Partei war es, den „sausenden Diskus“ durch einen Schlag mit dem Stabe zum Stillstand zu bringen oder gar zurückzutreiben, was sehr schwierig und bei ungeschicktem Schlagen oft nicht ganz ungefährlich war. Von der Stelle aus, wo die „Triele“ zur Ruhe kam, warf dann die zweite Partei und suchte die Scheibe über den Stand der Gegner hinauszubringen. So abwechselnd werfend, versuchte man, sich gegenseitig zurückzudrängen und damit den Sieg zu erringen. Leider wird dieses Spiel, wie auch ein anderes, das „Ballschlagen“, welches besonders an Sonntagnachmittagen Jung und Alt zum fröhlichen, Körper und Geist gesund erhaltenden Wettkampf auf dem Anger vereinigte, jetzt nur noch vereinzelt von der Schuljugend gepflegt. Dafür findet man aber, wie anderswo, die kaum den Kinderschuhen entwachsenen Jünglinge mit von Bier und Schnaps geröteten Gesichtern in qualmiger Wirtsstube beim Kartenspiel. Hier kann man wohl ohne Einschränkung sagen: O gute alte Zeit! W. G.     

St. Leonhard im Pitzthal. (Zu dem Bilde S. 333.) Eine der großartigsten Hochalpengegenden in Tirol, welche erst die Thätigkeit des Deutschen und österreichischen Alpenvereins dem größeren Touristenverkehr erschlossen hat, sind die Oetzthaler Alpen mit ihren schroffen Hochspitzen und mächtigen Gletschern. Von den wildbachdurchrauschten Thälern, durch die man in das Gletschergebiet gelangt, ist neben dem Kaunserthal das Pitzthal neuerdings zu besonderem Rufe gekommen. Von Imst aus führt durch dasselbe ein zwölfstündiger Marsch zu dem großartigen Taschachgletscher, an welchem die Sektion Frankfurt des genannten Vereins eine jetzt starkbesuchte Unterkunftshütte erbaut hat. Auch kann man von hier über das Pitzthalerjöchl in das Oetzthal hinübersteigen, wobei man am Karleskopfe zu dem Klubhaus der Sektion Braunschweig gelangt, das eine vorzügliche Aussicht auf das weite Becken des Mittelbergferners und den majestätischen Aufbau der Wildspitze gewährt. In der Mitte des langgedehnten Hochthals zwischen den anderen Kirchdörfern Zaunhof-Lehn

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_339.jpg&oldid=- (Version vom 21.2.2021)