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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

sie gewandelt. Und plötzlich schlägt sie die Hände vor das Gesicht und ein Schütteln geht durch ihren Körper. „Mein Gott,“ sagt sie laut, „wie furchtbar strafst Du mich!“ Und dann sitzt sie und schaut auf einen Fleck, bis es dämmerig geworden, ja endlich dunkel, und sie schreckt erst empor, als es an ihre Thür klopft und das Stubenmädchen meldet, Herr Rothe sei soeben gekommen.

„Dörte – ich – kann nicht hinuntergehen – ich habe so heftiges Kopfweh,“ sagt sie, „ich lasse um Entschuldigung bitten.“

Sie sinkt wieder zurück in den Stuhl. Nur niemand sehen jetzt, niemand, am allerwenigsten ihn.

Dann hört sie auf der Treppe und im Korridor etwas schlürfende Tritte und gleich darauf einen Schlag gegen die Thür, und herein tritt der Onkel. Ditscha kann ihn nicht erkennen, sie weiß aber, daß er es ist.

„Na, da brate mir einer – – weshalb sitzt Du so im Dunkeln, Kind? Wo bist Du denn? Mach’ doch, um aller Barmherzigkeit willen, Licht – bist Du denn so krank? Und wo steckst Du denn? Wenn ich Dir Dein Tackeltüg und Deine Plünnen vom Tisch reiße, kann ich nichts dafür,“ redet er in die Dunkelheit hinein.

Ditscha zündet Licht an und wendet sich dem alten Herrn zu.

„Du siehst wirklich krank aus! Alle Wetter, Ditscha, was hast Du denn?“ fragt er. „Du stichelst zu viel! Daß Ihr Weiberzeug Euch immer vor der Hochzeit krank machen müßt mit Eurer Wäsche und sonstigem Zeugs. Kannst Du denn nicht hinunter kommen, nur einen Augenblick, damit Rothe sieht, daß Du noch lebst? Er ist ganz wie vor den Kopf geschlagen. – Nun, geht es nicht? Na, komm doch nur!“

„Onkel,“ sagt sie plötzlich entschlossen und tritt vor den alten Herrn mit blassem, zuckendem Gesicht, „Onkel, ich habe Dich schon immer fragen wollen –“

„Du bist ja ganz heiser, Deern, laß Dir von Hanne ’mal in den Hals gucken – hast Du Hitze?“

Sie wehrt seine Hand ab, die den Puls suchen will. „Ich habe Dich schon immer fragen wollen, Onkel,“ wiederholt sie, „hast Du eigentlich an unserem Verlobungstage die Geschichte von mir und Hans Perthien Kurt erzählt, wie Du versprachst?“

Er wird sehr verlegen. „Fang’ doch von dem alten Blech nicht immer wieder an!“ schnarrt er ärgerlich.

„Also, Du hast es nicht gethan?“ forscht sie.

„Zum Donnerwetter – nein!“ schreit er zornig. „Wozu denn auch? Kannst’s ihm erzählen, wenn Ihr ’mal silberne Hochzeit macht!“

Sie antwortet nicht. – Er geht heftig in der Stube auf und ab, sodaß das Licht flackert, hustet, räuspert sich, will sprechen und unterläßt es und fragt endlich: „Na, wirst Du hinunterkommen, oder nicht – Ditscha?“

„Ja, in einer Viertelstunde bin ich unten.“

„Na also – und hör’ endlich auf von der dämlichen Geschichte! Wenn man so etwas feierlich erzählt, so sieht’s ja aus wie ein Drama, und es war doch nur eine Posse, ein lächerliches Nichts. – Komme bald, er denkt sonst, Du liegst im Sterben.“ Und er geht.

„Eine Viertelstunde“ hat sie gesagt – an diese Viertelstunde aber wird sie denken, so lange sie lebt. Sie will ihn noch einmal sehen heute, noch einmal haben, ehe sie ihm das Geständnis macht, ihn vor eine Entscheidung stellt. – Ganz wie sonst soll es sein, denn morgen wird sie ihm schreiben, alles, auch das von Grete Busch, rückhaltlos, nichts beschönigend, wird ihn bitten, er soll bestimmen – Tod oder Leben, denn so kann es nicht weiter gehen. Mit einem Gefühl im Herzen, begiebt sie sich hinaus, wie es Jephthas Tochter ähnlich bewegt haben mag, als man ihr noch drei Tage ihres jungen Lebens gönnte, bevor sie sterben mußte.

Er kommt ihr schon an der Schwelle des Zimmers entgegen, ängstlich und besorgt sie anschauend. „O, Ditscha, werde nicht krank,“ bittet er, „jetzt nicht, wo ich noch nicht das Recht habe, Dich zu pflegen!“

Sie sieht ihn groß an. Wird er morgen auch dies Recht noch wollen?

Achim ist da, er spielt Domino mit dem Onkel Jochen. Der kleine Mann, der das Spiel noch nicht erfaßt, macht die wunderlichsten Schnitzer, und Onkels Lachen schallt jeden Augenblick durchs Zimmer. Ditscha und ihr Bräutigam sitzen im Erkerfenster auf der altertümlichen Holzbank, Hand in Hand wie alle Tage ihrer Verlobungszeit. Er plaudert und fragt und bedauert sie ihres Kopfwehs wegen, und sie solle nur ja nicht, ja nicht sprechen, und zum Essen werde er auch nicht bleiben. Er komme dafür morgen eine Stunde zeitiger.

„Bitte, bleib,“ sagt sie flehend, „es ist mir wirklich schon besser.“

Er thut es ja nur zu gern.

„Mir hat geträumt,“ erzählt sie dann weiter, „Du liebtest mich nicht mehr.“

„O, Du thörichte Ditscha!“

„Ich habe – ich hatte im Traum etwas gethan, früher, ehe ich Dich kannte – ich glaube es war etwas Schreckliches – das erzählte ich Dir, und da ließest Du meine Hände los und wandtest Dich ab –“

„Was hattest Du denn angestellt, Ditscherle,“ sagt er gutmütig, in seinen schlesischen Dialekt verfallend.

„Rate!“

„Gestohlen?“

„Nein, Kurt.“

„Neugierig gewesen?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Onkel Jochen geärgert, oder Hanne?“

„Nein!“

„Oder in Deinem Innern geklagt: Ach Gott, nun ist die schöne freie Mädchenzeit bald vorbei, und ich höre die Ketten schon klirren, die unlösbaren Ketten, die mich an den häßlichen alten philiströsen Kurt fesseln sollen?“

„Nein!“

„Dann weiß ich nichts, Liebchen,“ gesteht er.

„Es giebt doch noch etwas! Mir träumte, ich erzählte Dir, daß ich einen andern Mann einmal früher zu lieben glaubte.“

Er läßt sie thatsächlich los, hastig, daß es beinah’ aussieht, als stoße er sie zurück.

„Ach, siehst Du!“ sagt sie leise.

Eine ganze Weile bleibt es still zwischen ihnen; endlich faßt er ihre Hand und zieht sie an die Lippen. „Verzeihe mir,“ bittet er, „was kannst Du dafür, wenn Du so dumm träumst, denn weiter willst Du doch damit nichts sagen, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht – natürlich nicht –“ stammelt sie und fühlt, wie ein Zittern durch ihren Körper läuft, und sie atmet auf, als Cilly herein tänzelt, die seit ewiger Zeit schrecklich häuslich geworden ist und dafür Unmengen von Briefen schreibt.

Sie verkündet, daß sie in ein paar Tagen ihre Weihnachtsbesorgungen in Berlin machen werde, wozu der große Jochen etwas Unverständliches brummt und der kleine zu betteln anfängt: „Darf ich nicht mit, Mama? Ja, darf ich mit?“

„I Gott bewahre, wo soll ich Dich denn lassen? Besuche muß ich doch auch machen!“

„Bringe mich doch so lange zu Onkel Bredow,“ schlägt er vor.

Cilly wird sehr rot und fordert ihn energisch auf, sie mit solchen Dummheiten zu verschonen, verspricht ihm aber dafür, etwas Wunderschönes mitzubringen.

Dann meldet Friedrich, daß serviert sei, und man geht zu Tische. Cilly ist lustig, und Onkel Jochen läßt sich von ihr aufheitern. Rothe ist verstimmt, und Ditscha sitzt da wie ein Automat. Man spricht von Weihnacht; das Kind giebt keine Ruhe, seitdem es gehört, daß Mama den Knecht Ruprecht in Berlin sehen wird. Onkel verspricht, einen kleinen Schlitten beim Christkind für ihn zu bestellen.

„Vergiß nicht, Onkel Kurt!“

„Nein, mein Junge.“

„Onkel, was schenkst Du der Ditscha? Sag’ mir’s leise,“ bittet er. Und das Kerlchen steht auf und neigt sein Gesicht gegen das Ohr des Mannes, der ihm etwas zuflüstert.

„Ah!“ staunt er, „aber da kann sich Ditscha freuen – das ganze Schloß?“

„Nun hast Du es aber schon verraten, Bösewicht,“ sagt Rothe scheinbar ernst, und halblaut setzt er hinzu: „Ja, denk’ Dir, das ganze Schloß mit allem, was darin ist, und mich selbst dazu!“

Ditscha kann ihre Thränen kaum zurückhalten. – „Und sich selbst dazu!“

„Laß mich Dich bis ans Parkthor begleiten!“ bittet sie, als er nach Tische aufbricht.

„Aber – Ditscha!“

„Ach bitte, bitte! Die Luft wird meinem Kopfe gut thun.“

Er wickelt sie auf dem Flur in den Pelzmantel, schickt den Wagen voraus und beide wandeln langsam durch die Wege.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_391.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)