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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Da wird nicht beschert, als am Todestage von Joachims Einzigem. Der Tag ist noch immer der Trauer geweiht, obwohl man ja sonst viel vernünftiger geworden ist, dank dem Vorhandensein des Kleinen und dem Ableben der Tante Bertha. An diesem Tage darf nicht ’mal Rothe kommen. Ditscha will allein bei Onkel bleiben, und klein Achim muß sich mit Mademoiselle die Zeit vertreiben. Cilly aber wird Besuch haben, ganz heimlichen, lieben Besuch. – Er hat sich bei Schlüchterns angemeldet für die Festtage. Daran denkt Cilly jetzt nur und darum wippt sie vor Freude auf ihren kleinen Füßen hin und her.

Ditscha leidet unter der Gegenwart der jungen Witwe schrecklich, endlich hört sie kaum noch, was dieselbe plappert. „Ach, Cilly,“ bittet sie endlich, „ich habe so heftiges Kopfweh, entschuldige mich bei Onkel, ich kann unmöglich zu Tisch kommen.“

Cilly begreift endlich und geht. An der Thür wendet sie sich um. „An Deiner Stelle,“ bemerkt sie, sich des Brautkleides wieder erinnernd, „hätte ich lieber Brokat genommen; mit vierundzwanzig Jahren kann man schon Brokat tragen. – Ich werde – ich würde jedenfalls nur Brokat genommen haben.“

Ditscha schließt hinter ihr zu. Dieselben Martern, dieselben Zweifel quälen sie, quälen sie bis in die Nacht hinein. Aber sie hat ja noch Zeit, morgen kann sie den Brief noch holen lassen. – Sie zählt jeden Glockenschlag in der langen Nacht, die nun folgt, Stunden, in denen sie alles Schreckliche auskostet, was es giebt. Gegen Morgen ist sie mit sich einig geworden, sie will den Brief wiederhaben. Sie fühlt sich nicht unwürdig, sie lügt nicht, wenn sie sagt, ich habe nur Dich geliebt – gewiß nicht. – Ach, sie kann nicht von ihm lassen!

Sie schickt das Mädchen zu Franz, er solle hinüberreiten nach Dombeck und einen Brief holen, aber gleich!

Der Franz liegt zu Bette mit einer Halsentzündung. Cillys Groom ist mit einem langen Zettel Kommissionen nach Bützow in aller Herrgottsfrühe, der zweite Kutscher kann nicht fort von den Pferden – –

Vielleicht hat der Pächter einen Boten?

„Is denn so grote Il?“ fragt Hanne.

„Ja!“ stößt Ditscha hervor.

„Is nich noch Tid bis Middag? Dann kann de Mine hinüber padden; se kümmt in fifviertel Stünnen hin, wenn se über de Wische geiht, wo’s doch en Hundeklaff näher is. – Nu is sie eben noch bei’s Gänseslachten.“

„Wenn’s nicht anders geht,“ sagt Ditscha. Sie weiß ja, er wird erst um neun Uhr abends in Dombeck eintreffen.

Gegen Mittag kommt ihr kleiner Bruder ins Zimmer, in der einen Hand einen Brief für Ditscha, in der anderen einen Apfel, so rotbäckig und frisch wie der Junge selbst. „Ditscha,“ sagt er und klettert auf ihren Schoß, „es ist so langweilig bei Mademoiselle, schreib’ doch, daß die lütte Ella wieder herkommt.“

Ditscha nickt, streichelt ihn und betrachtet das Schreiben. – Aus Hamburg? Eine ganz entsetzlich ungeübte Schrift, schlechtes Papier – –

Sie öffnet mit der bestimmten Ahnung, daß es etwas Unangenehmes enthält, aber das hat sie doch nicht erwartet – das Schreibeu ist von Grete Busch:

  Hochwohlgeborenes gnädiges Fräulein!
Mit schwerem Herzen und zitternder Hand ergreife ich die Feder, um Sie mein neues Unglück zu berichten, weil ich weiß, wie gut gnädiges liebes Fräulein immer sind.

Wir befinden uns nun hier in Hamburg, weil wir mit das Geld, was mir gnädiges Fräulein gegeben, heimlich nach Amerika wollten – und nu’ so ein Unglück! Gnädiges Fräulein, bewahre Sie der Herrgott vor so’n Schicksal – mein Mann ist ein slechter Kerl, er hat all’ die achthundert Thalers verspielt gestern nacht in ein hiesiges Lokal, und als ich ihn Vorwürfe mache, hat er mir geschlagen, ich sah aus wie eine kranke Kartoffel. Und um mich könnt’ er ja thun, was er will, aber er ist nu’ so wild und sagt: Sie könnten uns noch einmal ’was geben dafür, daß er uns beide damals auf die Station gefahren hat, und daß er und ich da zu keinem Menschen ’von gesprochen haben –

O, liebes gnädiges Fräulein, ich thät’s nich’ schreiben, aber er zwingt mir dazu, indem er sagt, wenn Sie ihm nichts geben thäten, so ginge er zu Herrn Rothe, der würde dann schon sorgen, daß wir nach Amerika rüber kämen, und zwar in die erste Kajüte – im Zwischendeck auf keinen Fall! Gnä’ Fräulein, ich beschwöre Sie, geben Sie noch einmal eine Summe her, und in drei Tagen sind wir aufs Schiff. Ich habe keine Macht über den Menschen, und bedenken Sie man, es thut nich’ gut, wenn so ’was zwischen die Liebe kommt.

Ich bin in allergrößter Unterthänigkeit Ew. Hochwohlgeboren Dienerin
Grete Bröse, geb. Busch.“ 

Ditscha hat den Brief gelesen; nun spricht sie sanft zu dem kleinen Bruder, der noch immer auf ihrem Schoße sitzt, am Apfel essend. „Steh’ auf, mein alter Junge, und thu Du mir den Gefallen, klingle einmal!“

Hanne, die zufällig auf dem Korridor ist, kommt herein. „Hanne,“ sagt Ditscha ruhig, „es ist nicht nötig, daß Mine nach Dombeck geht – es ist alles in Ordnung so.“

„Desto besser!“ meint die eilige Frau, „die Arbeit pressiert jetzt grad’ und ich glaube auch, der Herr Brüsam fährt sicher über Beetzen nach Dombeck, und dann können Sie ihm mit eins gleich mündlich ausrichten, gnä’ Fröln. – Junker, willst mitgehen in den Appelkeller?“

Und ob Junker Achim will! Im nächsten Augenblick sitzt Ditscha allein.

Es ist still in ihr geworden nach diesem Brief. – Sie darf ihn nicht in Unwissenheit lassen, sie muß ihm alles sagen, muß abwarten, ob er verzeihen will oder sie verstoßen wird, sie hat kein Recht, die Ehre seiner künftigen Frau der Willkür von Schurken preiszugeben.




Kurt Rothe ist zur bestimmten Zeit in Dombeck angekommen. Am liebsten hätte er den kleinen Umweg über Beetzen gemacht, aber er fürchtet, Ditscha zu erschrecken, sie muß entschieden krank sein, oder sehr nervös. Gleich morgen früh will er hinüber. Jedenfalls ist ein Brief von ihr da, denn bei seinem Schwager hat ihn keiner mehr erreicht.

Der Inspektor und der Volontär empfangen ihn an der Hausthür, er sieht’s schon an den Gesichtern, daß alles gut steht, und verabschiedet sie freundlich auf morgen früh. Die Dachse verrenken sich beinah’ vor Freude und die Dogge richtet sich langsam auf und berührt mit der Schnauze seine Wange, als wolle sie sagen: Ja, Du bist’s – willkommen, Herr! Mit diesem vierfüßigen Geleit steigt er nach oben, nicht ohne den Gedanken: Wenn ich nun einmal wieder heimkehre, dann ist’s mit ihr.

Sein Zimmer ist behaglich warm und die Lampe brennt. Im Eßsaal nebenan erwartet ihn ein einfaches Abendbrot. Er reibt sich die Hände vor Behagen, spricht mit dem Diener, streichelt die Hunde und will dann ins Schlafzimmer gehen, sich umzukleiden. Aber vorher tritt er noch an den Schreibtisch, da liegt eine Unmasse von Briefen, Zeitungen, Broschüren. – Er sucht vor allem irgend ein Liebeszeichen, ein paar Blumen, einen Tannenzweig, ein Buch ober ein Tellerchen mit seinem Lieblingsgebäck, wie er das so oft jetzt gefunden. – Vergebens, er findet nichts. Er wirft in seiner Hast die Briefe durcheinander – keiner von ihr?

Ein Schatten liegt auf seinem Gesicht, als er nach wenigen Minuten umgekleidet zurückkommt. Er setzt sich an den Schreibtisch, schraubt die Lampen höher und beginnt noch einmal und ruhiger zu suchen.

„Na, ja,“ sagt er endlich befriedigt, „da ist er ja doch!“

Friedrich erscheint in der Thür und meldet, daß die Bratkartoffeln serviert seien. Er reißt eben den Briefumschlag auf und ruft: „Komme gleich!“

Friedrich geht wieder. Sein Herr liebt es nicht, wenn die Dienerschaft dasteht, um zuzusehen beim Speisen. Kurt hat ein für allemal gesagt: „Ich klingle, wenn ich Sie haben will.“

Friedrich geht also. Er wartet eine viertel, eine halbe Stunde – kein Glockenton!

Er wartet dreiviertel Stunden, da meint er, sein Herr habe den Nachtisch vergessen und trägt die Schale mit Obst hinein. Er steht ganz verwirrt – am Tische sitzt niemand, Teller, Gläser, Schüsseln sind unberührt. Er setzt die Obstschale hin und läuft ins Nebenzimmer.

„Herr Lieutenant!“

Auch dort niemand, selbst die Hunde sind nicht da, und die Jagdmütze fehlt am Haken.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_410.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)