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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


„Es passiert nichts, Hanne, Du kannst nachher gehen – ich werde aufstehen.“

„Gottlob und Dank!“ sagt die alte Frau, „wie gern will ich Ihnen helfen, gnä’ Fröln Ditscha – ziehen Sie sich’n warmen Morgenrock an.“

„Nein, ein Kleid, mein neustes Kleid.“ Ditscha ist durch den armen trostlosen Kopf der Gedanke gefahren: Wenn er zurückkehren will, dann kehrt er heute zurück oder – nie mehr! Und sie will ihn wenigstens erwartet haben.

Wie sie die ersten Schritte in ihrem Zimmer macht, taumelt sie, als sei sie schwerkrank gewesen. Hanne flößt ihr Wein ein und nötigt sie, etwas zu essen; sie hatte ja alle die Tage kaum etwas zu sich genommen.

Sie will sich ihre Haare flechten, die aufgelöst über die Schultern fließen, aber vor Zittern ist sie es nicht imstande; Hanne bürstet und kämmt sie, als sei sie ein kleines Mädchen.

„Nun will ich mich ans Fenster setzen, Hanne,“ sagt sie, „und Du gehst in die Kirche und – bete für mich, Hanne, bete für mich!“

„Ja, daran soll’s nich fehlen,“ antwortet die alte Frau, „hätt’s auch so schon gethan, Fröln Ditscha.“ Und nachdem sie einen bekümmerten Blick auf ihr vergöttertes „Fröln“ geworfen, geht sie, um sich für den Kirchgang anzuziehen.

Ditscha bleibt am Fenster sitzen, den Kopf zurückgelehnt an die Polster des Armstuhls, den Blick hinausgerichtet in die Schneelandschaft, die allmählich der Tag verläßt, und sie wartet, wartet, wie wohl kaum je ein Mensch gewartet hat auf einen anderen, in solch verzehrender zitternder Angst, in solch heißer Sehnsucht –. Er muß kommen, einmal muß er noch kommen, und weiter will sie nichts –. Nur das Eine will sie ihm sagen, daß er der Einzige ist, den sie liebt und je geliebt hat und das Einzige noch bitten, daß er ihr vergeben solle – weiter nichts – weiter nichts –

Wie es weiter werden soll mit ihrem zertrümmerten und verfehlten Leben, daran denkt sie jetzt nicht; all ihr Empfinden beherrscht der Gedanke: er wird kommen!

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Und indessen ist in der Kinderstube Achim ganz allein. Er hat mit dem Baukasten gespielt und mit den Soldaten, er hat auf dem Schaukelpferde gesessen und Mademoiselle hat ihm in höchst zerstreuter Weise ein Märchen erzählt, das er immer wieder unterbrechen mußte mit dem Vorwurf: „Aber Du hast eben gesagt, der König heißt Grimbart, und nun heißt er mit einmal Klingsohr?“

Oder: „Du hast doch eben erzählt, die Schwester hat sieben Brüder, und jetzt hat sie nur fünf?“

Endlich ist die Geschichte zu Ende gekommen und Mademoiselle hat gesagt, er solle nur recht ruhig und artig sein, sie komme bald wieder und werde ihm etwas mitbringen vom Weihnachtsmann, den sie höchstwahrscheinlich sehe, und dann ist sie nach einem Blick in den Spiegel verschwunden.

Der brave kleine Kerl giebt sich auch redlich alle Mühe, artig zu sein, und steht nun schon geraume Weile am Fenster, starrt in den Park und amüsiert sich über die feinen Wolken stöbernden Schnees, die der Wind in förmlichen Wirbeln über die Rasenplätze treibt. Aber endlich hat er sich satt daran gesehen. Mademoiselle bleibt so lange, und zu Onkel Jochen darf er heut’ nicht kommen, ist ihm von Hanne gesagt. Der alte wunderliche Mann hat es in der That abgelehnt, den kleinen Liebling zu sehen, denn dieser Tag sei der Erinnerung geweiht an Sohn und Frau. Nein, Berthachen würde es ihm sicher nicht vergeben, wenn er das Heute vergessen wollte, auch nur einen Augenblick –- as wäre treulos gegen den Verlorenen. Achim ist auf morgen vertröstet.

Das Kind seufzt, es ist so spukhaft still in dem großen Zimmer, in dem eine graue Dämmerung schon alle Winkel und Ecken füllt. Er fängt plötzlich an, sich zu fürchten. Kommen heute wirklich die Engel unhörbar in die Menschenwohnungen, um zu sehen, ob die Kinder fromm sind? Er wendet sich langsam um und wirft einen scheuen Blick an die dämmernde Ecke jenseit des Ofens. Das Weiße dort hinten? – Er fährt zusammen, schluckt ein paarmal und faßt sich an die Kehle, der kleine Wicht.

Aber nein, das ist ja Mademoiselles Frisiermantel! Mademoiselle hat die schlechte Angewohnheit, sich in Achims Zimmer zu frisieren, weil der Spiegel dort so „hübsch“ macht.

Oder doch – ist’s ein Engel? Er möchte hingehen und das Weiße anfassen, aber er getraut sich nicht. Die große Stille und Einsamkeit überfallen das Kind plötzlich mit schreckhafter Gewalt.

„Mama!“ schreit er laut, „Mama!“ Aber Mama hört nicht, Mama hat auch gesagt, er solle nicht zu ihr kommen heute nachmittag, sie hat mit dem Weihnachtsmann zu thun.

„Hanne!“ Jetzt weint er schon. „Hanne!“ Aber Hanne faltet in der schwach erleuchteten Kirche die Hände über dem Gesangbuch und betet für Fröln Ditscha; das Weinen des kleinen Junkers, der „Hanne, liebe Hanne!“ ruft, kann sie nicht erreichen. Und sie schaut mit thränenden Augen zu dem leeren Herrschaftsstuhl empor, keiner ist da aus Haus Beetzen, keiner, und doch hatte ein glückliches junges Paar seine Andacht feiern wollen, heute abend! Fräulein Ditscha hat ihr ja vor zehn Tagen noch selbst gesagt: „Am Weihnachtsabend treffe ich meinen Bräutigam in unserer Kirche, Hanne!“ – Nun ist sie krank, und der Bräutigam fehlt. – Ja, Hanne kann nicht hören, wie das Kind ruft.

Und plötzlich faßt sich das tapfere Bürschchen ein Herz und läuft eilends aus der Stube in den Nebenraum, der Mamas Ankleidezimmer ist, und von dort in ihre Schlafstube, an dem großen rosaseidenen, spitzenverhangenen Bette vorüber, in das er früher zuweilen gehuscht ist, um Mama zu küssen und in den weichen Haaren zu zausen. Dann sieht er in Mamas Salon; alles schwimmt im dämmerigen Schein der rosaverschleierten Lampe, die zur Seite von Papas Bild brennt, und nebenan, in ihrem Schreibzimmerchen, ist Mama selbst. Sie darf ihn doch nicht wieder wegschicken, die Mama, die von dem kleinen zärtlichen Herzen so geliebt wird, mehr noch wie der Hektor und das schöne Schaukelpferd, wie Onkel Jochen und Ditscha.

Und Achim fürchtet sich, und deshalb will er zur Mama, dazu hat er ein Recht. Er geht auf den Zehen und steckt das Köpfchen mit den bittenden Kinderaugen durch den Sammetvorhang, aber leichenblaß fährt das kleine Antlitz zurück. Es ist ein sonderbares Kind, keinen Ton giebt er von sich, nur die Fäustchen hält er geballt, der sechsjährige Junge, und auf seinem runden Gesicht prägt sich ein schmerzliches Staunen aus. Weinen kann er nicht, obgleich es um den roten Mund zuckt. Er steht nur da wie angewurzelt, dann macht er kehrt und läuft zurück in das noch finstere Kinderzimmer und von dort auf den Flur und zu der Thür von Onkel Joachims Gemächern. Aber, wie er sich auch reckt, die Klinke zu erfassen, sie giebt nicht nach, Onkel Joachim hat sich eingeriegelt. Nun läuft er die Treppe empor und nach Ditschas Zimmer – auch hier ist die Thür verschlossen.

„Ditscha!“ schluchzt er, „Ditscha!“ Und dann in höchster Zärtlichkeit, wie er von Onkel Rothe gehörte „Ditscherle! Süße Ditscha!“ Aber auch hier öffnet niemand. Ditscha ist für alles, was um sie her vorgeht, wie gestorben. Sie sieht sich erst zerstreut nach der Thür um, als Achim die Stufen der Treppe schon wieder hinunter schleicht, ein geängstigtes, gequältes Kind, das niemand findet, der es beruhigt.

Eiu paar Augenblicke bleibt der ratlose kleine Bursche unten im Flur stehen, bereit, in ein furchtbares Schreien auszubrechen, da fährt ihm ein Gedanke durch den Kopf. Onkel Rothe! Onkel Rothe soll helfen den Mann fortjagen, der seine Mutter geküßt hat – er soll sie erinnern an Achim – Achim ist doch noch da! Sie darf Achim nicht verstoßen und vergessen, und Onkel Rothe soll helfen. –

Er trippelt zur Hausthür, springt an der Klinke in die Höhe, und siehe da, sie ist unverschlossen. Mühsam öffnet er den schweren Flügel und nun schiebt er sich durch den Thürspalt und läuft in die Nacht hinaus.

Er ist in einer dünnen Sammetbluse und Kniehöschen, der blonde Kopf unbedeckt, die kleinen Füße in leichten Hausschuhchen. Was kümmert ihn der Schnee und der Wind, es ist ja gar nicht weit bis Dombeck, er war ja schon oft mit Ditscha dort, und hier draußen hat er keine Angst; er will ja weiter nichts, er will nur Onkel Rothe holen nach Beetzen.

Die alte Uhr im Beetzener Hausflur wundert sich nicht; sie weiß ja, Weihnacht passiert immer etwas Außergewöhnliches, aber ihr „Wo – hin? Wo – hin?“ klingt heute noch eindringlicher, trauriger, und beinahe hört es sich an, als riefe sie: „Hil – fe! Hil – fe!“

Aber niemand ist da, der sie hört.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_412.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2023)