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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Die ablösende Schwester hat sie nicht erblickt, das Hausmädchen auch nicht, aber das Stubenmädchen sagt, das gnädige Fräulein sei früh schon ausgegangen.

Spät abends langt Ditscha auf einem Mietwagen in Beetzen an. Der Diener, der ihr den Schlag öffnet, erschrickt wie vor einem Gespenst. Sie redet kein Wort, sie schwankt die Stufen der Treppe empor und verschwindet in ihrem Zimmer. Die Jungfer und Hanne, die von dem Diener benachrichtigt sind, kommen eilig herbei; sie finden ihre Herrin an der Erde auf den Knien wie eine Verzweifelte.

„Ich bin nur gestolpert über den Teppich,“ sagt sie und versucht sich aufzurichten.

„Um Gotteswillen!“ schreit Hanne, als sie das furchtbar veränderte Gesicht erblickt, „Fröln, wo seihen Se ut? Da is’ ein Unglück passiert – uns’ Jungherr is’ dot!“

„Nein,“ sagt Ditscha, „nein, er lebt – aber ich, Hanne, ich bin –“ Und die alte treue Seele hält ihre bewußtlose Herrin in den Armen.




Es ist ein Tag zu Ende des September, ungewöhnlich heiß, fast gewitterschwül, als der junge Baron von Kronen aus seinem Badeaufenthalt, den er in Wiesbaden und später behufs völliger Kräftigung in Blankenberghe verbracht hat, zurückkehrt nach Beetzen.

Mama Cilly hat ihn getreulich überallhin begleitet; er ist so niedergedrückt, daß sie ihn unmöglich allein reisen lassen konnte. Und außerdem sind sowohl Wiesbaden wie Blankenberghe Plätze, die zu besuchen sie schon längst gewünscht hat. Und in der That, es war ganz herrlich dort. Sie schrieb ihrem Mann einen begeisterten Brief über den andern, ihm, der sich mit Teplitz begnügen mußte, da er so teure Orte nicht besuchen kann und sich von seinem Stiefsohn nicht gern traktieren läßt – mit Cilly ist das ja etwas anderes.

Herr von Bredow ist Pedant geworden, der auf Ehre, guten Ton und untadelige Gesinnung alles giebt, aber ganz vergessen hat, daß er als junger Lieutenant etwas Schlimmeres gethan als silberne Löffel stehlen, indem er seinem Vorgesetzten das Herz der Gattin raubte. Die Frau wollte zwar ihr Herz, welches nicht ihr Eigentum mehr war, sich sehr gern stehlen lassen, aber es blieb doch immerhin ein Diebstahl, wenn auch unter mildernden Umständen. Davon wußte er nichts mehr, gar nichts mehr! Es giebt eben Leute, die ein beneidenswertes Talent haben, unangenehme Dinge zu vergessen.

Cilly hat während der ganzen Zeit, die dem Tage folgte, an welchem Ditscha ohne Abschied aus Dresden verschwand, nicht einmal von ihr mit Achim gesprochen. Erstens – er hätte sich aufregen können, und fürs zweite war sie längst eifersüchtig gewesen auf Ditscha. Sie ist ja doch die Mutter und besitzt wahrlich das erste Anrecht auf seine kindliche Verehrung, die Ditscha völlig an sich gerissen hatte; sie hat sich schon genug geärgert über den Kultus, den der Junge mit seiner Schwester trieb – trieb – denn das ist vorbei, seitdem er die Entführungsgeschichte erfahren. Es ist nun ’mal so; die Männer erlauben sich selbst allerhand kleine Abschweifungen, aber die Frau darf das nicht thun, und wenn sie es dennoch thut, dann sicher nicht ohne Strafe – wie es sich hier ’mal wieder deutlich zeigt.

Was hat sie nun? Sie ist eine einsame, verlassene alte Jungfer, deren zweiter Bräutigam, als er den Skandal erfuhr, den Rückzug antrat, die jetzt der Bruder sogar hat fallen lassen, so sehr, daß er nicht einmal mehr mit ihr korrespondiert. Wenn sie den alten Onkel totgepflegt haben wird, steht sie allein da und hat nichts als die Reue über ihre Dummheit. Na, übrigens wäre Ditschas Herrschaft ja so wie so bald vorüber gewesen, wenn es wahr ist, daß eine unglückliche Neigung oft glücklichere Liebe erzeugt. So hat sich’s an Joachim erwiesen; in seiner Brieftasche steckt neben der Photographie der reizenden Komtesse Vollrathen eine Locke ihres blonden Haares; und Frau Cilly findet, daß sie sich als jugendliche Schwiegermutter so übel nicht ausnehmen wird.

Der Zug fährt eben in den Bahnhof ein, Cilly nimmt das Handgepäck zusammen, stellt sich ans Fenster und mustert den Perron.

„Bin neugierig, ob Ditscha uns abholen wird,“ sagt sie über die Schulter zurück. Einmal muß sie ja doch von ihr sprechen.

Joachims Gesicht ist finster und sehr blaß. Er kann der Schwester noch nicht verzeihen; er fürchtet sich vor dem Wiedersehen, dem Zusammenleben mit ihr.

„Ich sehe niemand außer dem Diener,“ erklärt Cilly, ihre langgestielte Lorgnette fallen lassend.

Der Zug hält; sie steigen aus und verfügen sich zum Wagen. Das große Gepäck wird durch eine Pächterfuhre nach Beetzen gebracht, sie können also ohne Aufenthalt abfahren. Daß der alte Franz auf seinem Bock verweinte Augen hat, sehen sie beide nicht.

Joachim ist wortkarg, Frau Cilly sagt: „Findest Du es nun eigentlich nett von ihr, daß sie Dich nicht abholt? Was soll denn werden, wenn gleich von vornherein die Situation auf ‚gespannt‘ gestimmt ist? Du hast doch wirklich genug für sie gethan, Achim, wenn Du Dich halb totschießen läßt um ihre Thorheit.“

Er antwortet nicht und sieht stumm in die Gegend hinaus.

„Das Gewitter kommt nicht vor heute nacht,“ bemerkt Cilly nach einer Pause, „aber es liegt doch schon auf den Nerven – ich habe eine ganz schreckliche Unruhe.“

Als der Wagen vorfährt, erscheint Hanne in der Thüre, Hanne, mit einem merkwürdig blassen Gesicht und so gebeugt, als sei sie um zehn Jahre älter geworden seit dem Frühjahr.

„Der Herr Baron läßt sich entschuldigen, er ist man eben noch ein büschen eingeschlafen,“ sagt sie, aber es klingt, als wollten ihr die Worte kaum aus der Kehle.

Joachims Gesicht ist womöglich noch blasser als vorher; er spricht kein Wort, er nickt nur und blickt um sich, als vermisse er etwas.

In der Wohnstube sieht es merkwürdig öde und verlassen aus, leichter Staub auf den Möbeln überall und in keiner Vase eine frische Blume wie sonst immer – Cilly kann ihren Unwillen nicht länger bemeistern. „Mein Gott,“ ruft sie, „es ist doch wunderbar! Der junge Baron kommt nach langer Krankheit genesen zurück, und niemand erscheint, der ihn begrüßt? Wo ist denn das gnädige Fräulein? Wohl gar nicht zu Hause?“

„Ach, gnä’ Fru,“ sagt Hanne – sie steht in ihrem dunklen Anzug mitten auf dem Parkett, und ihre Hände suchen hastig in der Tasche nach dem Schnupftuch – „ins Haus is’ sie woll noch, abers – – das kann der Herr Pastor“ – sie zeigt auf den eben eintretenden Geistlichen – „ja beter seg’n als wie ich.“ Und dann nimmt sie das Tuch vor die Augen und wendet sich ab.

Es ist nicht mehr der alte weißhaarige Mann, mit dem der Baron Whist spielte, als Ditscha noch ein junges Mädchen war, es ist ein ernster Mann um die Vierzig herum, der Achim eingesegnet hat und der im Hause Beetzen sehr verehrt wird. Er wendet sich zunächst an den jungen Baron, aber die Worte wollen auch ihm kaum aus der Kehle.

„Herr Baron, Sie kehren in einer traurigen Stunde heim,“ beginnt er. „Der Herr hat Schweres über dieses Haus verhängt – heute früh sechs Uhr ist der Todesengel eingezogen, und – –“

„Barmherziger Gott!“ schreit Cilly, „der Onkel! wie ist denn das so plötzlich – –“

„Nicht der Herr Baron,“ fährt der Prediger fort, „der alte schwergeprüfte Mann hat noch den Schmerz erleben müssen, die treue Pflegerin und Stütze seines Alters zu verlieren. Seine Nichte, Ihre Schwester, Herr Baron, ist nach längerem Kränkeln heute früh verschieden.“

Eine längere Pause entsteht, man hört nur das Schluchzen der alten Hanne, dann ist Cilly zu Joachim getreten, der plötzlich schwankt und so sonderbar verstört aussieht. Auch der Geistliche schließt stützend seine Arme um ihn. Hanne kommt mit einem Glas Wasser, ihre Thränen rinnen jetzt ungehindert über das gute alte Gesicht. „Ja, Herr, nu’ is uns aller Sonnenschein fort,“ sagt sie; es klingt wie ein Schrei, das letzte Wort.

Joachim kann nicht reden. Nun macht er sich hastig von dem Prediger los und geht zur Thüre hinaus.

„Herr Baron,“ ruft Hanne, „lassen Sie den ollen Herrn man, er is ja wie zerschlagen von die Trauer!“

Er bleibt stehen. „Warum?“ fragt er halb erstickt, „warum hat man mir nicht geschrieben, daß sie krank ist?“

„O, Herr Baron, sie hat’s nich’ gelitten,“ sagt Hanne ünd faltet die Hände, in denen sie das feuchte Tuch hält; „Sie sollten sich auch um ihr nicht ängstigen, hat sie immer gesagt, Sie wären selbsten krank. Und sie is auch bis vor drei Tagens, wo sie die Nachricht kriegte, daß Sie wedder kommen wollen, noch immer auf gewesen, wenn sie sich auch kaum hat sleppen können, un’ Herr Rothe hat ihr ümmer die Treppens hinauf und herunter tragen müssen, wenn sie zu’n Onkel gewollt hat.“

„Herr Rothe?“ fragt Cilly, die zitternd in einem Sessel sitzt.

„Ja, gnä’ Frau; er hat sie hegt und plegt, weil daß sonst keiner nach ihr fragte, un in seinen Armen is sie hüt’ morgen eingeslafen, un ihm hat sie ihre letzten Grüße bestellt vor ihren Bruder.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_496.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)