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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

großartigen Zügen, Düring mit dem kecken Wurf seiner komischen Genrerollen, die imposante Edwine Viereck, die leidenschaftliche Antonie Wilhelmi, die reizende Tänzerin Fanny Cerrito, die es liebte, auf dem gartenumhegten Königsberger Schloßteich umherzurudern, die schlanke Grisi und andere Ballettköniginnen . . . alles, was damals Ruf und Namen hatte! Vor diesen Sternen am Kunsthimmel zog dann auch der schroffe Direktor liebenswürdigere Saiten auf; doch behauptete die böse Fama, daß diese Liebenswürdigkeit in auffallender Weise nachließ, wenn die Gastspiele keinen klingenden Erfolg hatten, und daß da bisweilen auch den auswärtige Ehrengästen gegenüber der Bär zum Vorschein kam.

Woltersdorffs Eigenart brachle es mit sich, daß um sein Haupt ein Kranz von Anekdoten sich bildete, in denen Wahrheit und Dichtung oft in einer schwer zu sondernden Weise verschmolzen. Dieser Anekdotenkranz bietet viel Ergötzliches; doch ist dabei das Mißliche, daß ein charakteristischer Zug desselben die volkstümliche Derbheit ist, deren sich der Direktor befliß, wenn er in unbewachten Augenblicken seinem Humor die Zügel schießen ließ. Einige kleinere Proben mögen indes Striche zum Charaktergemälde des ostpreußischen Bühnenleiters geben.

Wie alle Direktoren von Stadttheatern, die aus eigener Kasse wirtschaften, war auch Woltersdorff sehr auf Ersparnisse bedacht; er machte indes daraus kein Hehl wie manche andere Bühnenleiter, welche derartige geschäftliche Rücksichten unter den hochtönenden Wendungen eines „künstlerischen Programms“ zu verschleiern suchen. Für das Gleichgewicht des Etats zu sorgen, war er eifrig bemüht, und jeder Finanzminister hätte sich an ihm ein Muster nehmen können. Lange Jahre war an seinem Theater ein Musikdirektor angestellt, dessen Frau eine vorzügliche Chorsängerin war, eine gute Stimme hatte und stets in erster Linie stand. Eines Tages ließ Woltersdorff ihn zu sich kommen, sagte ihm, er habe sich viele Jahre lang gequält, sei stets fleißig gewesen und habe stets seine volle Zufriedenheit erlangt. Deshalb habe er beschlossen, ihm fortan für den Monat sechs Thaler Zulage zu geben; Dank verlange er nicht dafür. Hochbeglückt geht der Musikdirektor nach Hause, wo die Kunde von der Gehaltserhöhung große Freude bereitet. Einige Tage darauf wird die Frau aufs Direktionsbureau bestellt; Woltersdorff nimmt seine gestrenge Miene an und sagt sehr kurz angebunden zu ihr: „Liebe Frau, Sie thun zwar immer noch Ihre Pflicht, aber ich muß ein paar jüngere Chorsängerinnen annehmen, mit den alten geht’s nicht mehr. Wenn Sie also bleiben wollen, muß ich Ihnen sechs Thaler monatlich abziehen.“ Und so war das Gleichgewicht des Etats gerettet.

Sein Ansehen suchte sich Woltersdorff stets zu wahren und wenn er auch einmal im Dunkeln tappte, so ließ er sich doch nichts davon merken, sondern trat mit gewohnter Sicherheit und Unfehlbarkeit auf. Eine neu engagierte Sängerin kam zu Anfang der Saison ins Theaterbureau und beschwerte sich über eine Rolle, die sie erhalten habe, aber nicht singen wolle, da sie ihr nicht liege und dies auch nicht ihr Fach sei. „Gerade für dies Fach habe ich Sie engagiert,“ erwiderte Woltersdorff, „bitte, gehen Sie nach Hause und studieren Sie diese Rolle.“ Als die Künstlerin das Bureau verlassen hatte, fragte er den Sekretär, wer denn die Dame gewesen sei.

Nichts konnte ihn mehr außer sich bringen als ein Zweifel an seiner Gerechtigkeitsliebe. Ein Komiker, der sich in keinen günstigen Verhältnissen befand, wurde auf Grund der Theatergesetze in Strafe genommen. Als dieser sich bei Woltersdorff darüber beschwerte, erhielt er von ihm zur Antwort: „Mein Theater ist wie eine Lokomotive; da muß ein Rad ins andere greifen; dasjenige, welches den Dienst versagt, rangiere ich aus!“ Darauf erwiderte der aufgebrachte Komiker: „Sehen Sie sich nur vor, daß Ihnen nicht einmal solch ein Rad in den Nacken springt, Sie Blutsauger!“ Ueber diese empfindliche Kränkung konnte sich der Direktor nicht beruhigen; er ließ den Kapellmeister und alle die ersten Angestellten zu sich kommen; sie mußten einen Schein unterschreiben, daß er kein Blutsauger sei.

Uebrigens war Woltersdorff einer der ersten und der wenigen Theaterdirektoren, welche durch einen Titel seitens der Regierung ausgezeichnet wurden. Anlaß dazu gab ein Gastspiel seines Opernpersonals am Berliner Hoftheater, bei welchem er die Opern von Dittersdorf und andere Spielopern des vorigen Jahrhunderts zur Aufführung brachte, die er vorher in Königsberg seinem Repertoire einverleibt hatte. Es war dies jedenfalls ein Verdienst und zeugte von der tonangebenden Selbständigkeit seiner Direktionsführung. Er erhielt den Titel „Geheimer Kommissionsrat“. Auch als Schriftsteller hat sich Woltersdorf versucht, indem er wie Heinrich Laube einen eingehenden gewissenhaften Bericht über seine Theaterführung veröffentlichte.

Woltersdorff war ein sehr fleißiger Direktor. Er las, wie erwähnt, nicht nur alle Stücke, er diktierte auch alle Briefe selbst und hatte darin große Fertigkeit: es kam alles klar zu Tage und der Stil geriet nirgends ins Stolpern. Nur bei den Aufführungen selbst kam er etwas aus dem Gleichgewicht; er vermochte es nicht, in seiner Loge auszuhalten; wenn ihn etwas aufregte oder ihm mißfiel oder auch in minder wichtigen Scenen trottete er hinter den Coulissen in einer Art von nervöser Unruhe hin und her, korrigierte Zettel oder schrieb eigenhändig die Proben auf der schwarzen Tafel auf. Seine Bühnenleitung war keine ruhmsüchtige; sie ging nicht auf Experimente aus, von denen in den Blättern gesprochen würde; ihr Ziel war, das einfach Tüchtige hinzustellen, gute Vorstellungen gut ausgewählter Stücke – und in jenem ersten Jahrzehnt war das Repertoire in der That vortrefflich. Zu Hilfe kam die damalige Blüte dramatischer Dichtung. Welch ein köstliches Weinjahr für das Theater war z. B. dasjenige von 1847. Da kamen in einer Saison Laubes „Karlsschüler“, Gutzkows „Uriel Acosta“, Freytags „Valentine“ zur Aufführung! In der Leitung des Theaters unterstützten den Direktor zum Teil sehr tüchtige Kräfte; wir erwähnen nur August Wolf, den späteren Direktor des Burgtheaters, und Vollmer, der lange Zeit mit anerkannter Tüchtigkeit das Theater in Frankfurt am Main geleitet hat. Die frische geistige Bewegung, welche damals Königsberg zu einer politischen Leuchte für Deutschland machte, kam auch dem Theater zu gute: es regte und rührte sich alles am Pregel und Geister und Herzen waren empfänglich für Darbietungen der Kunst. Auch das Jahr 1848 mit seinen Straßenaufläufen und Volksversammlungen schädigte das Theater nicht allzusehr. Woltersdorff machte der Volksstimmung einige Zugeständnisse, obwohl ihm die Bewegung gegen den Strich ging. Ich selbst stand derselben näher. Es hatte sich eine Bürgerwehr gebildet und das Altstädtische Bataillon hatte mich zum Kommandeur gewählt, eine Auszeichnung, die ich neben meiner politischen Gesinnung meiner Dienstzeit bei den Berliuner „Neuschatellern“ (den Gardeschützen) verdankte. Durch mich kam auch das Theater in Beziehung zu jener Bewegung, allerdings nicht das Direktionsbureau, sondern die Garderobe, denn ich muß es nachträglich bekennen, daß der Säbel, den ich am breiten schwarzrotgoldenen Gurt trug, aus dieser Garberobe entlehnt war.

Das Königsberger Theater war damals im Sommer oft eine Wanderbühne; die Gesellschaft Woltersdorffs suchte einzelne Hauptstädte der Provinz heim, besonders Elbing und Memel, das äußerste Thule der preußischen Monarchie. Es gab noch keine bequemen Eisenbahnverbindungen: dafür hatte die Romantik des schauspielerischen Wanderlebens ihren eigenartigen Reiz. Zu Lande ging’s mit der Post oder im Mietswagen; Dampfer trugen uns über das Frische und das Kurische Haff. Das letztere besonders machte einen etwas ungastlichen Eindruck, nicht wegen seiner oft vom wandernden Sand heimgesuchten Nehrung, sondern besonders wegen der unbequemen Landungsstelle. Die von Memel kommenden Dampfer konnten, wegen der am Ufer sehr seichten Flut, nicht an dasselbe heranfahren; kräftige Fischer und Dorfbewohner mußten deshalb, durchs Wasser watend, die Passagiere an Bord tragen. Es war dies für die erste Liebhaberin, die Primadonna und die andern Künstlerinnen immerhin etwas Neues und die hilfeflehenden Gesichter der getragenen Schönen, zwischen Aengstlichkeit und Koketterie schwankend, ließen fast vergessen, welche gefährliche Brandstifterinnen sich unter ihnen befanden. Woltersdorff selbst machte diese romantischen Fahrten nicht mit; er erschien später, um seine vorgeschobenen Truppen zu besichtigen. Auch fanden sich oft in seinem Gefolge angesehene Königsberger Theaterfreunde ein, welche beobachten wollten, wie sich die Kunst der Hauptstadt in der Provinz ausnahm, und nebenbei den Künstlerinnen eifrig und ungestörter als dort den Hof machten.

So blühte die Romantik des Theaters auch unter dem Scepter der gestrengen Woltersdorffschen Direktion. Ich schreibe hier nicht die Chronik derselben; später versandete bisweilen ihre frische Strömung, und durch Gründung des Wilhelmstheaters, noch mehr aber durch diejenige des nach Woltersdorff benannten Berliner Theaters geriet

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_523.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2023)