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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

und es war hübsch, ihren schlanken weißen Fingerchen dabei zuzusehen. Als Wildenberg sie jetzt fragte, warum sie so schweigsam sei, hob sie die braunen Augen lächelnd zu ihm empor und antwortete neckend mit einem klassischen Citat: „Ich freue mich, wenn kluge Männer sprechen, daß ich verstehen kann, wie sie es meinen.“

„Bravo, Kleine!“ rief Hella; ihm aber wurde ganz warm ums Herz, denn er fühlte instinktiv, daß seine kleine Nachbarin zur Linken für ihn Partei nahm. Das gab ihm die wohlige Empfindung einer heimlichen Zusammengehörigkeit.

Man trank den Kaffee nach Tisch im Gartensaal, dessen Glasthüren geöffnet waren, und hatte Wildenberg vorher alles andere neben der königlichen Gestalt der blonden Hausherrin übersehen, so konnte er jetzt kaum die Blicke von dem jungen Mädchen wenden, das wie ein lebendiger Sonnenstrahl durch das Zimmer glitt, Tassen, Zucker und Sahne geschäftig hin und her tragend. Frau von Ostrau hatte sich mit einer Häkelarbeit in ihre Sofaecke zurückgezogen und zeigte nicht übel Lust, sich hier an diesem ungestörten Plätzchen ein verstohlenes Nachmittagsschläfchen zu gönnen.

Hella nahm auf einem Bambussessel unweit der offenen Thür Platz und winkte dem Gast, sich neben sie zu setzen. „Du könntest wohl etwas Musik machen!“ rief sie Lili zu.

„Gewiß, Tante Hella!“ gab das Mädchen bereitwillig zur Antwort und eilte zum Notenschränkchen.

„Nun, was sagen Sie zu meinem Pflegetöchterchen?“ fragte Hella halblaut, sich zu Wildenberg wendend.

„Sie ist ein gottbegnadetes Menschenkind!“ gab er begeistert zurück, obgleich er für dieses Urtheil nichts anderes hätte in die Wagschale werfen können, als daß sie ihm über die Maßen gefiel.

Sie dankte ihm mit einem warmen Blick. „So sind auch Sie dem Zauber der Kleinen verfallen, dem sich niemand entzieht? Mir ist sie förmlich ins Herz gewachsen – wenn sie meine Schwester wäre, könnte sie mir nicht lieber sein. Habe ich sie mir doch mühsam erkämpft und beinahe mit Gewalt ihren Eltern genommen, die im Begriff waren, das junge Geschöpf völlig zu verderben. Ich hoffe, das Kind bald auf eigene Füße zu stellen und seinen Platz in der Welt ausfüllen zu sehen.“

„Und was haben Sie sich als Beruf für die junge Dame gedacht?“

„Hören Sie Lili nur erst singen und Sie werden nicht mehr nach ihrem künftigen Beruf fragen. Ich beabsichtige, sie im Winter unter dem Schutz der Schwägerin unseres Pastors nach Berlin zu schicken, damit sie dort die Hochschule für Musik besucht und ihr Talent in jeder Richtung ausbildet. Sie hat es dann in der Hand, neben ihrem Auftreten als Konzertsängerin zugleich Gesangsunterricht zu erteilen und sich in irgend einer großen Stadt niederzulassen.“

„So jung schon auf eigenen Füßen?“ entfuhr es ihm. „Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, aber haben Sie überlegt, welche Gefahr darin liegt?“

„Zunächst hat es wohl noch einige Jahre Zeit, bis diese Selbständigkeit für Lili beginnen kann. Dann aber glaube ich, daß sie durch die Erziehung, welche sie hier erhalten hat, genügend gefestigt sein wird, um ohne Gefahr ihren eigenen Weg gehen zu können. Natürlich werde ich stets dafür sorgen, daß sie Anschluß an zuverlässige Menschen findet.“

„Ich bitte um Vergebung, aber nach meiner Ansicht gehört ein so junges Wesen doch in die Familie.“

„Ja, wenn sie eine hat!“ warf sie dazwischen. „Aber ich habe das Gefühl völliger Unfähigkeit, selbst für seine Existenz zu sorgen, in meinem eigenen Leben zu bitter empfunden, um nicht jede, die mir nahe steht, vor diesem Gefühl bewahren zu wollen.“ Er verstand sie nicht, sie sah es seinem Gesicht an. „Ja, meinen Sie denn, ich hätte immer im Ueberfluß gelebt wie jetzt?“ fuhr sie rasch fort. „Freilich, in meiner Kinderzeit wurde ich an Luxus gewöhnt; meine Mutter hatte ihrem Gatten, der selbst nichts besaß, ein bedeutendes Vermögen in Grundbesitz mit in die Ehe gebracht. Mein Vater übernahm wie etwas Selbstverständliches die Bewirtschaftung des Gutes, trotzdem er nichts davon verstand und meine Eltern nicht in Gütergemeinschaft lebten. Natürlich ging die Sache nicht. Von Jahr zu Jahr wurden die Einnahmen kleiner, die Ausgaben größer, man war es ja dem Namen schuldig, auf großem Fuß zu leben, von Jahr zu Jahr bewog mein Vater seine Frau, ihre Zustimmung zur Aufnahme neuer Hypotheken zu geben, die zu immer höherem Zinsfuß auf ihren Besitz eingetragen wurden. Endlich wurde selbst ihr argloses Gemüt stutzig; sie verstand zwar nichts von geschäftlichen Dingen, da man sie ja von jeher in vollständiger Unkenntnis darüber gelassen hatte, aber die unaufhörlichen Unterschriften, die von ihr verlangt wurden, fielen ihr doch auf, und sie bat wiederholt um Aufklärung über den Stand ihrer Angelegenheiten. Endlich erfuhr sie durch einen Zufall, daß ihr Vermögen nahezu verbraucht war, daß nur noch ein günstiger Verkauf eine kleine Summe für sie retten könnte. Aber von diesem Ausweg wollte mein Vater nichts wissen, er lachte meine Mutter aus und versprach ihr, beizeiten schon einen besseren Ausweg zu zeigen. Sie wollte sich aber nicht dabei beruhigen, dachte auch an mich und meine Zukunft und bestand auf dem Verkauf. Er verweigerte seine Zustimmung. Sie wandte sich mit der Bitte um Rat und Beistand an Freunde und Verwandte – man zuckte die Achseln, niemand wollte sich einmischen. Sie hatte ja in der Person ihres Mannes ihren Vormund und Vertreter. Es fanden sich zahlungsfähige Käufer, aber meine Mutter war nicht imstande, den Verkauf abzuschließen, weil ihr Gatte seine Zustimmung verweigerte und ihre Unterschrift allein unter einem Vertrag, der ihr eigenes Hab und Gut betraf, keine Gültigkeit besaß.

Nun, Sie können sich wohl vorstellen, daß mein Vater den versprochenen Ausweg nicht fand. Schlechte Zeiten kamen dazu, Zeiten, in denen die Einnahmen nicht mehr die Zinsen deckten und als ich siebzehn Jahre alt war, trat der vollständige Zusammenbruch unserer Verhältnisse ein. Onkel Gotthardt, der Besitzer von Strehlen, ein Bruder meiner Mutter, erbot sich sofort, sie und mich hierher zu nehmen und dem Vater ein Jahrgeld zu zahlen. Aber die Art, in der dies Anerbieten geschah, verletzte sein noch immer sehr reges Selbstgefühl, er lehnte rundweg ab mit dem Bemerken, er werde schon selbst für seine Familie sorgen. Ich denke mit tiefem Grauen an die zwei Jahre zurück, welche nun folgten. Von Ort zu Ort gezerrt, von einer Enttäuschung zur andern, täglich mit Sorgen und Entbehrungen kämpfend, unter der steten Mißstimmung meines Vaters leidend, führten wir ein trauriges Dasein, um so trauriger, als ich meine gänzliche Unfähigkeit erkannte, auch nur das Geringste selbst zu erwerben, da nach keiner Richtung hin irgend eine meiner Fertigkeiten gründlich ausgebildet war. Dieses Bewußtsein einer vollständigen Unzulänglichkeit des eigenen Könnens war das Härteste, was ich zu ertragen hatte, und wenn mein Charakter sich seitdem vielleicht etwas zu energisch entwickelt hat und Schärfen und Ecken aufweist, die nicht mit den landläufigen Begriffen von Weiblichkeit zusammenstimmen mögen, so tragen daran meine damaligen Erfahrungen die Schuld. – Auf einer seiner Reisen als Beamter einer Feuerversicherungsgesellschaft verunglückte mein Vater und starb kurze Zeit darauf an den Folgen einer inneren Verletzung. Wenige Wochen später siedelten meine Mutter und ich hierher nach Strehlen über. Was ich seitdem geworden bin, verdanke ich dem edeln Mann, der uns eine Heimat bot und mich geistig zu sich emporzog, mich selbständig machte in jedem Sinn. Sie werden es sich jetzt vorstellen können, daß ich es als meine Aufgabe betrachte, meinen Mitschwestern soviel als möglich die helfende Hand zu reichen und unermüdlich zu kämpfen für die vernünftige Entwicklung der Frauenrechte.“

Trotz der Nüchternheit und Knappheit ihrer Ausdrucksweise hatten sich ihre Wangen lebhaft gefärbt und aus den blauen Augen strahlte ein Ausdruck beinahe fanatischen Eifers. Sie hatte wohl gar nicht beabsichtigt, so weit in ihren Eröffnungen zu gehen, und war mehr gegen ihren Willen von dem Thema und der Bitterkeit, welche diese Erinnerungen in ihr erregten, fortgerissen worden. Der Blick, den sie ihrem Zuhörer in ihr Leben und Denken thun ließ, hatte diesen mit einem träumerischen Zauber umsponnen, und als sie jetzt schwieg, blieb es einen Augenblick so still im Gemach, daß man die Fliegen an den Fensterscheiben summen hörte. Plötzlich kam durch die Stille vom Klavier her ein süßer Klang. Lilis Stimme erhob sich in jubelnden Tönen und zerriß mit einem Schlage den Bann, der ihn umfangen hielt. Er war ein leidenschaftlicher Freund und gründlicher Kenner der Musik und erkannte sofort, daß diese Stimme, die bis jetzt freilich noch wenig geschult war, in der That alle Erfordernisse besaß, der Eigentümerin eines Tages eine glänzende Stellung zu sichern. Unwillkürlich stand er auf und ging zu ihr hinüber.

Lili war Evastochter genug, um die offenbare Huldigung, die in seinen Augen lag, zu verstehen, und lächelte ihm nicht ohne einen Anflug von Koketterie zu. Die Töne quollen ihr so mühelos und leicht aus der Kehle wie einem Vogel, und sie fand vollauf Zeit, sich daneben mit Wildenberg zu beschäftigen, der mit verschränkten Armen in ihrer Nähe stand und entzückt lauschte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 560. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_560.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2022)