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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


sein Verlangen bis zur Unwiderstehlichkeit. Ihm wäre es gewesen, als hätte seine Männlichkeit eine Niederlage erlitten, wenn er Lilly nicht küßte.

Er neigte sich, und schnell und heiß fühlte sie seine Lippen sich auf die ihren pressen.

In dem Stimmengeschwirr nebenan rief man nach Lilly.

Ohne René Flemming noch anzusehen, huschte sie davon. Er wußte nicht, ob er ihr folgen sollte, hatte auch auf einmal keine Lust mehr, noch dazubleiben, und ging durch den Saal in den Flur hinaus. Dort traf er Bekannte, schloß sich ihnen an und ging mit ihnen noch in den „Wilden“, wo er eine Stunde beim Glas Bier in höchst gemütlicher und völlig harmloser Stimmung verbrachte. Das Ballfest war sehr amüsant und für ihn ein ganzer kleiner Roman gewesen, der in dem eroberten Kuß seinen triumphierenden Abschluß gefunden. Innerlich war das Erlebnis für ihn ganz beendet, hatte aber den Wert einer sehr schmeichelhaften Erinnerung, welche ihm die gute Laune erhöhte.

Er schlief traumlos und fuhr am andern Morgen sehr ungnädig auf, als seine Wirtschafterin ihn weckte. Was, jetzt schon aufstehen? Ach ja, er hatte es, bevor er zum Ball ging, ausdrücklich befohlen, man solle ihn früh wecken. Um halb Zehn war eine Probe, vor der ihm graute.

Eine neue Oper, die ein Vetter Seiner Hoheit komponiert hatte, wurde einstudiert. René hatte das erst seinem Kollegen Viebig zuwälzen wollen, aber Hoheit hatten, so gütig wie sie stets waren, zu René gesagt „Mein lieber Flemming, ich hoffe, daß Sie selbst Ihr Interesse dem Werk zuwenden und es mit unsern besten Kräften besetzen werden. Insbesondere könnten Sie, wenn Sie auch der Meinung sind, die ‚Zenobia‘ mit der Lorenzen besetzen.“

René war nun zwar nicht der Meinung, aber man pflegt die von den Wünschen einer Hoheit abweichende nicht auszusprechen. Die Intelligenz der Kaspari, mit welcher letzteren er selbst die Rolle besetzt haben würde, hätte ihm die Arbeit erleichtert, welche mit der von Hoheit protegierten Lorenzen eine wahre Schinderei ward.

Er fuhr in seine Kleider, überflog beim Thee die eingegangene Post und stürzte ins Theater.

Hier umwuchsen ihn die Schwierigkeit seiner Aufgabe, daß er zehnmal dachte, er würde den Kopf verlieren, und dabei durfte er nicht einmal loswettern, denn Hoheit kamen selbst, um der ersten Orchesterprobe zuzuhören. Und obendrein ward ihm der „lebhafte Wunsch“ Hoheits überbracht, das neue Werk Sonntag in acht Tagen oder längstens in zwei Wochen zur Aufführung gebracht zu sehen. So ein „lebhafter Wunsch“ war ein Befehl. Der ganze Probezettel, der schon für die Woche festgestanden, wurde umgeworfen und für den Nachmittag und für jeden Morgen und Abend wurden Proben von „Zenobia“ angesetzt.

René prophezeite sich Verrücktheit als Folge davon, sprach sich gegen die Kaspari gründlich über die Borniertheit der Lorenzen, die schauderhaften Unzulänglichkeiten des Werkes aus und wünschte seinen Beruf zehnmal zu allen Teufeln.

Mittags aß er mit dem Tenor und dem Bariton, um ihnen bei Tisch gesprächsweise einige Lichter über ihre Rollen aufzustecken. Dann schlief er eine Stunde wie ein Toter und verbrachte den ganzen langen Nachmittag und Abend mit Klavierproben, in welchen er mit den Solokräften ihre Partien durchnahm. Abends dankte er seinem Schöpfer, als er im „Wilden Mann“ sein Beefsteak essen und mit guten Bekannten in übermütigen Späßen seinem überarbeiteten Hirn Beruhigung und Gegengewicht gönnen konnte.

Er hatte den ganzen Tag nicht an Magda gedacht, nur als er ins Bett ging, fiel ihm ein, daß er ihr eine Zeile schreiben wolle, um ihr zu sagen, wie er diese ganze Woche schwer beschäftigt sei. Er verschob es bis morgen.

Am andern Morgen fand er einen Brief von Wallwitz neben seiner Theetasse. Da erst fiel ihm die schöne Lilly wieder ein und mit einer kleinen Neugier öffnete er den Brief.

„Lieber Flemming! Du warst gleich nach dem Cotillon Dienstag Abend verschwunden, während wir noch riesig gemütlich zusammen blieben. Eine der jungen Damen, ich glaube es war meine Schwester, machte den Vorschlag, wir unverheirateten Kameraden sollten in unserm Kasino zur Nachfeier einen Nachmittagsthee geben; der Gedanke fand enormen Beifall. Meine gütige Gönnerin, unsere Majorin, erklärte gleich, die Honneurs machen zu wollen. Natürlich wählten wir einen Tag, an welchem keine große Oper ist. Also Freitag. Ich lade Dich hiermit im Namen der Kameraden ein. Auf Lillys Wunsch spielt unsere Musik aus Deiner ‚Suite‘ den ‚Reigen‘. Dein Wallwitz.“ 

René fühlte bei dieser letzteren Mitteilung einen kleinen nervösen Schauer. Die schmetternde Militärmusik sollte seinen „Reigen“ verarbeiten, dessen Wirkung von traumhafter Zartheit auf den Geigen, den Holzblasinstrumenten und der Harfe beruhte.

Dann dachte er ungefähr: „Ei, seh’ einer an. Lilly Wallwitz scheint den kleinen Ballroman weiterspinnen zu wollen.“

Er hatte nur gerade im Moment so gar wenig Zeit für solchen Zeitvertreib. Und doch in all der greulichen Arbeit, die so gar nichts Erhebendes hatte und dennoch alle Kräfte anspannte, war das ein amüsanter Zwischenfall.

„Viebig muß Freitag Nachmittag mit der Lorenzen repetieren,“ beschloß er bei sich.

In Gedanken über diese kleine Angelegenheit verloren, vergaß er wieder, an Magda zu schreiben. Abends war der „Freischütz“. Renés Auge überflog jedesmal den ersten Rang, wenn er in den Orchesterraum trat. Von Magda konnte er nichts entdecken. Wohl aber saß Lilly in der äußersten Loge rechts und vorn, so daß er nicht nur grüßen mußte, sondern auch immer das Bewußtsein ihrer Anwesenheit behielt. Sowie er sich nur ein wenig nach rechts wandte, sah er den hellen Fleck, den ihr Kleid im verdunkelten Haus bildete, und sah, daß ihr Opernglas auf ihn gerichtet war.

Freitag morgen empfing er einen Strauß Gardenien, ein Kärtchen hing daran und es stand darauf zu lesen:

„Dem großen Meister.“

René lachte laut und warf das Kärtchen achtlos in den Papierkorb.

Er wußte ganz genau, daß der Spenderin seine „Meister-“, respektive „Künstlerschaft“ ziemlich fremdes Land war und nur die willkommene Etikette freieren Verkehrs.

Indessen stellte er doch den Strauß sogleich ins Wasser und schmückte sein Knopfloch nachmittags mit einer Blume aus demselben.

Dabei fiel ihm etwas Merkwürdiges ein. Im Verkehr mit der ernsten Magda fühlte er alle herrischen Instinkte in sich erwachen und war wie von selbst der Leitende, Belehrende. Von der thörichten kleinen Lilly Wallwitz hatte er sich beinahe lenken und kommandieren lassen. Das kam: hier lieh er sich zu einem Spiel her, dort aber war der Ernst des Lebens!

Und just war ihm so recht ums Spielen. Er hatte den ganzen Morgen wieder Aerger und Plage gehabt.

Im Kasino ging es lustig zu. „Wenn Junggesellen Damen ein Fest geben, ist die Stimmung immer von vornherein eine besondre. Das Außerordentliche des Ereignisses scheint alle Schranken der Steifheit niederzureißen,“ sagte Hortense, die auch anwesend war und gleich auf René traf.

Er widmete sich ihr artig eine ganze Weile und war dabei neugierig, ob sie ihre von ihr prophezeite Herrschsucht bethätigen und etwas über den Wallwitzschen Ballabend sagen werde. Aber Hortense sagte nichts und der Name „Magda“ wurde zwischen ihnen nicht ausgesprochen.

Dann fand er sich mit Lilly zusammen, welche keck fragte: „Wieder eine Gardenie? Gekauft? Geschenkt bekommen?“

„Geschenkt bekommen! Und wenn ich die holde Spenderin nur ahnte, würde ich die kleine Geberhand so küssen“ sagte er und nahm ihre Hand und küßte sie.

Natürlich wollten die jungen Damen tanzen, obgleich sie in Besuchstoiletten waren und die Hüte auf dem Kopfe hatten. Die zum Konzertieren bestellte Kapelle war darauf vorbereitet.

Lilly wollte nach dem „Reigen“ aus der „Suite“ tanzen.

„Mir stehen die Haare zu Berge,“ flehte René lachend, „ich beschwöre Sie, von der Idee abzukommen.“

Aber gespielt sollte der Reigen werden. Alle hörten andächtig zu und klatschten stark Beifall. René jedoch war zu Mut, als liefen ihm Ameisen den Rücken entlang, ein so körperliches Unbehagen machten die brutalen Töne seinen Nerven. Dann überschüttete Lilly, die in schwärmerischer Haltung dagesessen, ihn mit überschwenglichem Lob für das Werk, dessen Geist und äußere Züge er selbst nicht wiedergekannt hatte in der harten Uebertragung.

In ihm war eine Doppelstimmung. Er fühlte ganz wohl, wie geschmacklos, wie gewollt das alles war, und dennoch gab er sich hin und dennoch reizte es ihn.

Er stellte keine Vergleiche an und ihm kam keine Erinnerung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 727. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_727.jpg&oldid=- (Version vom 25.7.2023)