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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

zu erleichtern, bestehen in einigen Städten besondere Verkaufsläden, in welche der Blinde seine fertigen Waren bringt. Die meiste Anerkennung hat sich dasjenige System der Fürsorge zu verschaffen gewußt, welches im Königreich Sachsen befolgt wird. Es ist kurz folgendes. Ist der Zögling ausgebildet, so wird er in die Heimat oder, falls es aus irgend einem Grunde für zweckmäßiger gehalten wird, nach irgend einen andern Ort des Landes hin entlassen. Der Anstaltsdirektor hat eine passende Wohnung gemietet und für ihn einrichten lassen. Mit dem nötigen Handwerksgerät und Material versehen, beginnt der Blinde seine Arbeit. Durch eine Anzeige im Lokalblatt wird er dem Publikum empfohlen. Eine angesehene Persönlichkeit des Orts (ein Gutsbesitzer, Geistlicher, Beamter, Lehrer etc.) wird gewonnen, sich in jeder Weise für das Fortkommen des Blinden zu verwenden. Dieselbe dient sowohl dem Blinden als auch der Anstalt als Mittels- und Vertrauensperson. Durch Ueberlassung des Materials zu Engrospreisen, durch Ueberweisung von Arbeitsaufträgen, durch Abnahme fertiger Waren, die der Blinde an seinem Wohnort nicht absetzen kann, durch kleine Geldunterstützungen etc. wird er in Fällen der Not vor Mutlosigkeit bewahrt und zur Anstrengung aller Kräfte angespornt. Weiß er doch, daß ihn die Anstalt nicht verläßt, wenn er selbst nur redlich seine Pflicht thut. In allen wichtigeren Unternehmungen holt er den Rat der Anstalt, seines Vaterhauses, ein. Auf jährlichen Inspektionsreisen sucht der Anstaltsdirektor sich durch den Augenschein über die Lage jedes einzelnen Entlassenen zu unterrichten, so daß er fortwährend genau weiß, wem Hilfe not thut und in welcher Form sie am zweckmäßigsten zu gewähren ist. In dieser Weise hat Sachsen alle seine früheren Anstalts-Blinden versorgt. Manche von ihnen haben sich ein eigenes Haus erworben und stehen sich gut.

Dies System der Fürsorge ist allerdings nur durchführbar, wenn der Anstalt ein bedeutender „Fonds für Entlassene“ zur Verfügung steht, wie das in Sachsen der Fall ist. Durch freiwillige Beiträge (Vermächtnisse, Geschenke etc.) ist er dort auf die bedeutende Höhe von etwa 11/4 Million Mark gebracht, wovon die Zinsen zur Verwendung kommen. In den übrigen deutschen Staaten sucht man das glänzende Beispiel Sachsens nachzuahmen, wenn auch mit entsprechenden Abweichungen.

Dank dem opferfreudigen Gemeinsinn unseres Zeitalters hat sich die Lage der Blinden gegen früher wesentlich gebessert. Immer mehr kommt das Publikum zu der Einsicht, daß der arbeitsfähige Blinde seine Teilnahme beanspruchen darf, nicht in der Form des Almosens, mit dem sich der blinde Vagabund begnügt, sondern dadurch, daß man von seiner Arbeitsfähigkeit Gebrauch macht und ihm sein Arbeitsprodukt abkauft. Das ist für den Blinden „Hilfe zur Selbsthilfe“. Möge die Zeit nicht mehr fern sein, wo „blind sein“ und „betteln müssen“ für den Unbemittelten aufgehört haben, zusammengehörige Begriffe zu sein!


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Sturm im Wasserglase.

Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts.
Von Stefanie Keyser.

 (9. Fortsetzung)

Als der Abend hereindämmerte, ging Märten mit weitausgreifenden Schritten auf den Wegen, die noch die Spuren der Husarenpferde, die tiefen Furchen der Kanonenräder zeigten.

Die Nacht kam rasch; dickes Gewölk bedeckte den Himmel; eine drückende Schwüle lagerte auf den der Sense harrenden Getreidefeldern, von denen sich, schwarz auf dunklem Grunde, hier und da eine Baumgruppe abhob.

In dem Feldhölzchen, in das er einbog, vermochte Märten nicht die Hand vor Augen zu sehen.

Er schlug Feuer an, brannte einen dürren Ast an, und ihn schwingend, wanderte er weiter.

Als er unter den Bäumen hervortrat, ragte vor ihm in der Nacht eine wunderliche Gestalt auf, dreibeinig – es war der Galgen. Auf der Erde, über die er schritt, hatten dermaleinst die verstreuten Knochen der Rädleinsführer gebleicht.

Aber die mußten fest schlafen; denn er wußte von Fiekchen: wenn es an einem Ort nicht geheuer war, zeigte es sich durch ein Grauen an, das einen überlief. Ihm aber war ganz freudig zu Mute. Er konnte jetzt wettmachen, daß ein reputierlicher Mensch ihm seine Abkunft nicht nachgetragen hatte.

Vergnügt wirbelte er seinen Brand in der Luft.

Ein Schrei von einer hohen Stimme ertönte.

Ein kleiner Trupp Menschen, tauchte vor ihm auf.

Dreieckige Hüte, eine Haube und ein Köpfchen mit einem Tüchlein zeichneten sich dunkel ab.

„Ich bin der Lattermann!“ brüllte Märten. „Wer seid Ihr?“

Die Haube und der kleinere Hut gaben Fersengeld. Aber das junge sich umschlungen haltende Paar blieb stehen.

„Wir sind gottesfürchtige Kantoren,“ antwortete der Mann wohlgemut.

„Brüt’gam und Brut,“ fügte eine Lerchenstimme bei.

„Die Demoiselle Bachin!“ 0„Märten!“ erklang es zu gleicher Zeit.

„Wir kommen von Dornheim und haben die Trauung bestellt,“ fuhr Bärbchen Marei fort, „wozu der gute Herr Sekretarius uns die Erlaubnis verschafft hat. Der Arme!“

„Da Sie hier im Feld herummarschiert ist, hat Sie vielleicht gehört, wie weit die Husaren mit ihm gekommen sind?“ fragte Märten.

„Er hat nicht weit zu suchen,“ sagte Bärbchen Marei. „Den ganzen Nachmittag haben die Soldaten mit den Kanonen im Hohlweg gesteckt und geflucht, daß die Bauern vor Schrecken von ihren Feldern weggelaufen sind.“

„Haltet den Mund darüber, wer der Lattermann ist, auch gegen Euren Vetter Bach und Eure Jungfer Muhme da vorn,“ sprach Märten. „Wenn Er aber dem Sekretarius auch wieder eine Liebe thun will, Herr Kantor, so bleibe Er bereit, noch diese Nacht zu orgeln. Denn Struve hat heute noch Hochzeit und soll mit Sang und Klang getraut werden. Adjes!“

Nach verschiedenen Seiten setzten sie ihren Weg fort.

Da hob die hohe Stimme an zu singen: „Wachet!“, die große Haube sekundierte: „Betet!“ Der junge Kantor setzte mit der Gegenstimme ein: „Seid bereit!“ Der Vetter folgte nach. Die Melodien verwickelten, begegneten sich, die Familie Bach verschwand hinter dem Gebüsch des Raines; die Töne verklangen, und noch schien der Verwicklungen und Entwicklungen kein Ende zu werden.

Märten fand Geschmack an seiner Rolle als Lattermann. Er schwärzte sein Gesicht mit dem verkohlten Holz, hielt seinen Brand gen Himmel, wie es vom Lattermann erzählt wird, und wanderte so dem Dorfe zu, dessen Turmspitze sich in der Ferne schwarz in das Gewölk streckte.

Nun vernahm er schon ein Wiehern.

Vorsichtig schlich er sich heran.

Da kam er an die erste Scheune. Die Thore waren weit aufgethan. Stampfen, Schnauben tönte daraus hervor und lautes Schnarchen. Hier hatten die Husaren schon Nachtquartier bezogen.

Leise schloß er das Scheunenthor, schob die Riegel vor und schritt in die Dorfgasse hinein.

„Halt! Wer schleicht da herum?“ schrie ihn eine Stimme an. Es war der Nachtwächter.

Märten wirbelte seinen Brand. „Ich bin der Lattermann und will Euren Gefangenen holen. Wo habt Ihr ihn eingesteckt?“

Der Mann fiel auf die Kniee. „Alle guten Geister!“ begann er zähneklappernd zu beten. „Dort am Brunnen beim Schulzen.“

Märten faßte ihn am Kragen wie ein Häslein an den Löffeln, nahm ihm sein Horn ab, daß er nicht nach Hilfe tuten konnte, und warf ihn über einen Zaun.

Er ging auf das bezeichnete Haus zu.

In der Stube des oberen Gestockes brannte noch ein mattes Oellämpchen.

Den Schrei des Käuzchens nachahmend, pfiff Märten sein Struve wohlbekanntes Erkennungszeichen.

Das Fenster wurde aufgerissen.

Märten flüsterte: „Fang’ den Strick auf! Es sind Knoten drin.“

„Aber –“ zögerte Struve, dem allerhand juristische Bedenken kamen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_736.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2023)