Seite:Die Gartenlaube (1895) 771.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

0


Blätter und Blüten.


Oberammergau in der Schweiz. Am Fuße jener weit ausblickenden Höhe des Juragebirges, des Weißenstein, nahe bei der alten Stadt Solothurn, liegt inmitten grüner, obstreicher Matten Selzach, ein Dörfchen so still und friedlich wie nur eins. Hier wurde in diesem Sommer zum erstenmal in größerem Maßstabe ein Passionsspiel aufgeführt, das denen von Oberammergau und Höritz nacheiferte. Eine Nachahmung also? – Ja und nein. Jedenfalls ist das Unternehmen – seine Art und Entwicklung – nicht uninteressant, wie es denn auch die wachsende Aufmerksamkeit der Reisenden erregt hat.

Vor fünf Jahren zogen einige Selzacher unter Führung eines dortigen Uhrenfabrikanten – die Selzacher sind nur zur Hälfte Bauern, die andere Hälfte besteht aus Uhrenarbeitern – nach Oberammergau zum Besuche des Passionsspieles. Sie kehrten mit dem Entschlusse heim, ein gleiches oder ähnliches ins Leben zu rufen. Kühn, nicht wahr? – Und doch nicht so ganz. Denn man darf nicht vergessen, daß dem Schweizer die Liebhaberei, Theater zu spielen, in einem Grade eigen ist, der notwendig ein gewisses Talent dazu voraussetzt. Praktisch und nüchtern, wie man ihn nennt, traut mancher ihm das nicht zu. Allein so wenig die berufsmäßige Schauspielkunst seine Schwärmerei ist, wo es Scenen der vaterländischen Geschichte und Sage zur patriotischen Erbauung darzustellen gilt, sind alle mit Eifer dabei, Männlein wie Weiblein. Selbst der trockene Geschäftsmann tritt begeistert in den Dienst des schönen Scheins, mag er sich auch im übrigen für ganz andere „Scheine“ – schön oder nicht – begeistern. Die Tellaufführung, die Gottfried Keller im „Grünen Heinrich“ geschildert hat, ist keineswegs eine leere Erfindung. Auch heute will der Schweizer den „Tell“ nicht nur lesen, er will ihn auch spielen. Und nicht bloß den „Tell“. Es giebt Festspielschreiber genug, die für Abwechslung sorgen und denen es wenigstens nicht an patriotischem Feuer fehlt. Ja, ganz kleine Ortschaften wie Buochs am Vierwaldstättersee haben der Muse der dramatischen Liebhaberkunst ein eigenes, wenn auch bescheidenes Haus gebaut. Wo sich aber, wie es in Bern und Basel und auch anderwärts der Fall war, eine in jeder Art größere Leistungsfähigkeit findet, gestalten sich solche Schau- und Festspiele zu farbenprächtigen Bildern von hoher malerischer Wirkung, die damit verbundene musikalische nicht zu vergessen.

Nun, aus dieser nationalen Liebhaberei erklärt sich schon der kühne Entschluß der Selzacher. Daß sie aber, abweichend von der Regel, ein geistliches Schauspiel – ein Mysterium – zu spielen unternahmen, ist wohl auf ihre Konfession, auf den frommen Sinn ihrer Gemeinde zurückzuführen. Vom Entschluß bis zur That war freilich noch ein langer Weg. Aber Begeisterung hat dem schlichten Völkchen über Mühe und Schwierigkeiten hinweggeholfen, freudig widmete es seine freie Zeit dem Studium und der Probe. In der Person des schon erwähnten Fabrikanten fand sich ein geschickter Leiter, während ein Lehrer aus dem Ort – Herr Gottlieb vVögeli-Rünlist – den Text besorgte und die Einstudierung der Passionsmusik von H. F. Müller in Fulda, die dem neuen Spiele zu Grunde gelegt wurde, mit Verständnis betrieb. Vor zwei Jahren machte man den ersten Versuch vor der Oeffentlichkeit. Der Erfolg ermunterte, den Plan zu erweitern, dem Passionsspiel ein Vorspiel zu geben, das bis zu den Anfängen der biblischen Geschichte zurückreichte. Natürlich mußte für eine geräumige und technisch wohl ausgerüstete Bühne gesorgt werden. So baute man ein schlichtes, hölzernes Spielhaus mit elektrischer Beleuchtungsvorrichtung, vertieftem Orchester und einem Zuschauerraum für 1200 Personen.

Wie gestaltete sich nun die Aufführung? – Nachdem, wie in Bayreuth, ein Fanfarensignal draußen im Dorf, dann drinnen im Saal den Beginn angekündigt hatte, zog vor den Blicken der Besucher eine Reihe lebender Bilder vorüber, begleitet von Musik und Gesang, unterbrochen von dem erklärenden Vortrag eines Deklamators. Die Bilder, die die Hauptmomente des Alten und Neuen Testamentes bis zum Einzuge Christi in Jerusalem veranschaulichten, bekundeten eine Phantasie, die ihren kindlich naiven Eingebungen treuherzig folgt, unbekümmert um das, was inzwischen in Bezug auf Kostüm und Landschaft seitens der Gelehrten ausgeklügelt worden ist. Man mochte sich der Illusion hingeben, in einer großen, altertümlichen Bibel voll charakteristischer und lebhaft kolorierter Zeichnungen zu blättern, wobei sich wohl allerhand Kritisches in uns regt, die Bewunderung des Schlicht-Naiven aber schließlich die Oberhand gewinnt. Der zweite Teil, das eigentliche Passionsspiel, war eine ungleich höhere Kunstleistnng, gehoben schon durch die Vorbilder aus dem Bereiche der Malerei, die man mehr oder weniger treu nachahmte, z. B. das Abendmahl von Leonardo da Vinci. Denn auch in dieser Abteilung herrschten die lebenden Bilder vor, sie umrankten und beschlossen die wenigen dramatischen Scenen, die von den Ränken des hohen Rates bis zur Verurteilung des Heilandes handelten. Da es nicht an geeigneten Gestalten, zumal nicht an einer edlen Christusfigur fehlte, wirkten die ergreifenden Bilder unverkümmert. Man kann den Selzachern Glück zu diesem Erfolge wünschen; sie sind denn auch durch einen immer zahlreicher gewordenen Besuch ihrer Aufführungen belohnt worden. J. G. Oswald.     

Daheim. (Zu dem Bilde S. 757.) Glücklich sieht sie nicht aus, die schöne junge Frau, die hier im holzgetäfelten Erkerzimmer allein den Sonntagnachmittag zubringt. Ihre Blicke haften auf den Seiten des alten Gebetbüchleins, aber es dauert lange, bis eine davon umgeschlagen wird, denn die Gedanken sind nicht dabei. Sie wandern weit, weit zurück in die sonnige Jugendzeit, wo man so glücklich im Elternhaus mit Geschwistern und Gespielen war, sie folgen einem dieser Gespielen, der früh ins Welschland zog und am Abend des Abschieds ihr ins Ohr sagte: Warte auf mich, Regina, ich komme in Jahr und Tag wieder! Er ist nicht wiedergekommen – die Eltern haben sie an den reichen jungen Bürgermeister verheiratet und sagten, es sei ein großes Glück für sie, auch alle anderen sagten es und Regina glaubt es selbst in Demut und Gehorsam. Nur wenn sie ganz allein ist, an so einem stillen Sonntag, da überkommt es sie seltsam mit Gedanken und Erinnerungen, die sie keinem andern Menschen sagen möchte. Deshalb bleibt sie gern daheim, wenn draußen vor dem Thore Tanz oder Vogelschießen ist; die Basen und Freundinnen wundern sich darüber, aber was würden sie erst sagen, wenn sie wüßten, daß diese einsamen Erinnerungsträume das Beste von dem Glück der vielbeneideten reichen jungen Bürgermeisterin sind! Ob sie selber weiß, daß sie eine von den vielen ist, welche sterben werden, ohne recht gelebt zu haben? … Ihr schönes Bild sieht uns wie eine wehmütige Frage danach an. Bn.     

Der Erstgeborene. (Zu dem Bilde S. 761.) Wie viele Leser wissen wohl, von wem die Rede ist, wenn wir ihnen verraten, daß hier Anne Bäbi Jowäger sitzt und mit versammelter Familie ihr erstes vorhin getauftes Enkelein bewundert? Wer liest heute außerhalb der Schweiz den prächtigen Jeremias Gotthelf, in dessen Bauerngeschichten kaum weniger Humor, Gestaltungskraft und gesunde Realistik zu finden ist als in den allbekannten Reuterschen Werken? Seine „Anne Bäbi“ ist eine meisterhafte Figur, ebenbürtig dem „Onkel Bräsig“, aber leider viel unbekannter im Deutschen Reich. Vielleicht verhilft ihr die nächstens erscheinende illustrierte Ausgabe zur Popularität und nebenbei dem ganzen Kreis der Hausgenossen, welche der Künstler hier so wohlgetroffen vorführt: dem guten Pantoffelhelden Hansli, der voll großväterlicher Freude das kleine Menschenkind auf dem Arm der Patin betrachtet, seinem schüchternen Sohn Jakobli, dessen neue Vaterschaft ihn noch lange nicht in Anne Bäbis Augen mündig macht, der lieblichen jungen Mutter Meyeli und ihrer Freundin, der hübschen resoluten Patin mit der schlagfertigen Zunge, welche es allein von allen fertig bringt, der alten Haustyrannin kräftig Widerpart zu halten. Alle diese und wie viel andere in Gotthelfs Büchern sind Figuren von sprechendster Lebenswahrheit, mit großartiger Realistik gezeichnet, lange ehe der Realismus zum allgemeinen Schlagwort wurde, herzerfreuend und unvergeßlich, trotzdem zwischen ihren Thaten und Schicksalen mancher heftige Meinungserguß des ziemlich konservativ gesinnten Verfassers gegen die schlimme Neuzeit eingeschoben ist, der heute entbehrlich scheint. Er war ein ganzer Mensch, dieser grobkörnige Bauernpfarrer Bitzius, der unter dem Namen Jeremias Gotthelf seine Geschichten ins Land sandte, und ein bedeutender Künstler dazu. Unter den sehr Wenigen, die wirklich Bauern gezeichnet haben, steht er weit obenan und niemand, der Gotthelfs Hauptwerke gelesen hat, wird sie wieder vergessen können. Möge ihm das so anheimelnde Bild Bachmanns viel neue Leser erwerben: das „Schwyzer-Dütsch“ seiner Leute ist nicht schwerer zu verstehen als Fritz Reuters Platt und in seiner Art ganz eben so ergötzlich eindrucksvoll wie jenes!

Bei der Kartenlegerin. (Zu dem Bilde S. 765.) Wohl niemand hat triftigeren Grund, über den trägen Gleichlauf der Tage sich zu beschweren, als die vornehme Orientalin nach der alten Mode. Wie so ganz ist ihr Tagesleben im Harem von den großen Interessen der Welt losgelöst, vom Verkehr mit klugen Männern und von den brennenden Tagesfragen! Ihr tiefster Konflikt nennt sich Eifersucht, ihr größter Wetteifer ist der um äußeren Glanz, ihre schönste Tugend, die im Grunde des Rühmens nicht wert ist, weil sie dem Weibe zur Natur gehört, ist die treue Mutterliebe. Aber freilich: wenn drei oder vier Frauen nebeneinander einem Mann angehören, wenn die Kinder eines Vaters sehr verschiedenen Müttern angehören, findet da nicht die Eifersucht einen ganz anderen Keimboden als in einer nach europäisch-christlichen Begriffen regelrechten Ehe? Und wie schutzlos ist sie vor dem Ansturm solcher Leidenschaft. In sich selbst und ihrer Bildung findet die Orientalin keine Lösung für die quälenden Rätsel, welche die Eifersucht in ihrer Seele aufwirft, und so sucht sie dann gern Rat bei den dunklen Mächten des Aberglaubens.

Wenn die Frauen sich den lieben langen Tag hindurch genug gethan haben mit Plaudern, Naschen, Brettspiel, Lautenklimpern und Rauchen, trippeln sie auf ihren hackenlosen Pantöffelchen, wohlverhüllt von Jaschmak und Feredjé, dem Schleier und Mantel, durch die bunten, lärmenden Straßen des Bazarviertels und verschwinden, von der verschwiegenen Dienerin begleitet, in eines der stillen Seitensträßchen hinter der großen Moschee. Dort verbergen verfallene Hausfronten mit engvergitterten Fenstern reiche Höfe aus Jahrhunderten der Pracht. Farbige Rundbogengänge, Wände, mit herrlichen Fayenceplatten belegt, umgeben plätschernde Brunnen und auf alten Teppichen stehen niedrige Tischchen mit dem Kaffeegerät. Wie gut duftet der starke Trank aus Yemen mit dem breiigen Bodensatze in den „Findschans“, den im becherförmigen „Sarf“

ruhenden Emailschälchen, von denen eines auch auf der flachen Silberschale am Boden steht, und wie aufmerksam lauschen die kauernden und lagernden Gestalten der vier lieblichen Frauen den Weisheitssprüchen der schlauen runzligen Kartenschlägerin. Sie weiß besser nach dem Munde zu reden als Lalé, die junge Zigeunerin, die aus Fall und Lage ihrer trocknen Bohnen wahrsagt, deshalb hat das Schicksal ihr auch Reichtum in den Schoß geworfen. Jeden Abend streicht sie die goldne „Lira“ und den silbernen „Ghurusch“ in ihren Säckel. Heute weiß sie viel Aufregendes zu sagen; die dunklen Augen ihrer Zuhörerinnen funkeln unter den gemalten Brauen, die feinen Händchen mit den rotgefärbten Fingerspitzen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_771.jpg&oldid=- (Version vom 21.7.2023)