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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

nicht! Nicht irgend eine Todesart, der man die Absicht gleich anmerkte! Es mußte auf eine Art geschehen, der niemand ansah, daß man mit eigener Hand ein Ende gemacht hatte.

Man konnte Gift nehmen. Die junge Frau strich sich mit der kalten, schmalen, zitternden Hand über die Stirn – gewiß, man konnte Gift nehmen. Gab es nicht Gifte, die schmerzlos und sanft töten, ohne das Gesicht zu verzerren und zu entstellen, ohne je im Körper nachgewiesen werden zu können? Man starb, und es hieß dann, ein Herzschlag, oder ein langsamer Kräfteverfall habe einen getötet. Sie hatte gehört, daß es dergleichen gebe. Aber ihr waren die Namen solcher Stoffe, um die sie sich nie gekümmert hatte, unbekannt, und hätte sie dieselben gewußt, was hätte es ihr geholfen? Man geht nicht in die Äpotheke, verlangt ein Gift und erhält es.

Und doch, ein Mittel gab es vielleicht, zu erlangen, was sie begehrte.

Ob er sie wohl verstehen würde, der alte, seltsame, einsiedlerische Mann mit den klugen, sanften Augen und dem Zug von schmerzlicher Resignation um den Mund, jener alte Mann, von dem man sich erzählte, daß er ein vor langen, langen Jahren zerschelltes Lebensglück immer noch nicht vergessen und verschmerzen könnte, daß er die Erinnerung daran mit sich geschleppt hätte, fast durch die ganze Welt auf seinen großen Reisen durch fremde, zum Teil noch kaum erforschte Länder, und sie unverändert, unverblichen und unverwischt wieder zurück gebracht hätte in die alte Heimat?

Einsiedlerisch und weltfremd lebte er nun schon seit vielen Jahren; nur ein Zufall hatte sie damals, als sie voll strahlenden Glücks als junge Frau hier einzog, seine Bekanntschaft machen lassen, die sich schnell zu einer Art von Freundschaft entwickelt hatte. Sie war zuweilen auch in seinem Hause, das abseits vom Wege in einem großen Garten lag, gewesen. Mancherlei Wunderliches hatte er ihr da gezeigt, und sie entsann sich jetzt, daß er ein Schränkchen von indischer Arbeit aufgeschlossen und, auf allerlei Fläschchen von seltsamer Form deutend, mit einem halben Lächeln gesagt hatte: „Das ist eine Sammlung seltener, den meisten Europäern ganz unerreichbarer Gifte.“

Sie hatte den Kopf abgewendet und mit der Hand abgewehrt, der kleine Schrank war ihr geradezu unheimlich gewesen. Nichts in der Welt konnte damals ihren Gedanken oder Wünschen ferner stehen als der Tod. Und der alte Mann hatte genickt und mit seinem ernsten Lächeln gesagt, daß dies allerdings Dinge seien, für welche sie, jung, schön und glücklich wie sie sei, keinerlei Interesse haben könnte. Dann hatte er schnell zugeschlossen, den Schlüssel abgezogen und ihr chinesische Elfenbeinschnitzereien gezeigt, welche sie mit vielem Vergnügen betrachtet hatte.

Ob der alte Mann mit dem weißen Haar und den sanften, traurigen Augen sie wohl verstehen würde, wenn sie ihm sagte, daß sie sterben möchte? Ob er sie verstehen würde ohne nähere Erklärung – sie verstehen, ihr helfen und schweigen?

Sie glaubte es.

Es war etwas Verwandtes in ihm und ihr, etwas, das ihn befähigen würde, sie ohne viele Worte zu begreifen, das fühlte sie. Dieser alte Mann würde wissen, daß, wenn eine Frau wie Agnes Berner zu sterben begehrte, sie das Weiterleben wirklich unmöglich finden mußte.

Ja, sie wollte es thun! Tief atmete sie auf. Was vergangen ist, kann man nicht zurück ersehnen; aber Ruhe, Ruhe, die kann man sich verschaffen, einen langen Schlaf und Vergessenheit alles dessen, was einen quält.

Rasch warf sie einen wärmenden Mantel um und drückte einen unscheinbaren Filzhut auf das schöne Haar. Als sie auf den Flur trat, stand die junge Magd mit der brennenden Lampe draußen.

„Die gnädige Frau geht aus?“ sagte das Mädchen verwundert, „es ist sehr häßliches Wetter draußen.“

„Es schadet nichts, Marie, in einer halben Stunde bin ich wieder da.“

Das Mädchen sah ihr kopfschüttelnd nach, als sie nun auf die Straße trat. „Bei dem Wetter!“ sagte sie vor sich hin, „und in den leichten Schuhen! Die gnädige Frau ist doch sonst so ängstlicb vor nassen Füßen.“

Der feine, kalte Novemberregen sprühte Frau Agnes in das Gesicht und setzte sich in tausend winzigen Tröpfchen in ihr Haar. Der Wind zerrte an ihrem Schirm und an dem faltigen Mantel, das feine Schuhwerk, dessen sie sich zu entledigen vergessen hatte, war nach den ersten hundert Schritten durchweicht. Sie achtete nicht darauf, wenigstens war es ihr nicht widerwärtig. Im Gegenteil, es that ihr eher wohl, gegen das Wetter ankämpfen zu müssen. Sie war nun ganz ruhig. Der Entschluß hatte ihre Thränen versiegen lassen und ihre Erregung gedämpft.

Aber als sie nun vor dem Hause stand, welches sie suchte, zögerte sie doch wieder. Wie sollte sie dem alten Manne sagen, was sie wünschte? Bis jetzt hatte sie nicht daran gedacht, in was für eine Form man eine so seltsame und ungewöhnliche Bitte kleiden könnte.

„Der Augenblick muß es geben,“ dachte sie nach kurzem Sinnen und zog an der Glocke.

Nun stand sie auf dem matt erleuchteten Flur, und jetzt öffnete sich die Zimmerthür für sie.

Der alte Herr legte das Buch, in welchem er gelesen hatte, beiseite, stand auf und nahm den lichtdämpfenden Schirm von der Lampe. Der helle Lichtschein fiel auf sein weißes Haar und auf sein kluges, gütevolles Antlitz.

„Frau Agnes!“ sagte er, ihr mit einem liebenswürdigen und erstaunten Lächeln die Hand entgegen streckend. Sie hatte ihm gestattet, sie so zu nennen; er liebte den Namen.

„Frau Agnes – bei dem bösen Wetter!“

„Ach, das Wetter,“ sagte die junge Frau gleichgültig, aber sie nestelte zugleich unwillkürlich an den Schließen des schweren, nassen Mantels.

„Sie sind durchnäßt und Sie friert!“ sprach der alte Mann, nahm ihr den Mantel ab und rollte einen altmodischen Sessel für sie herbei, und dann, als das Licht voll in ihr weißes Gesicht fiel, fügte er langsam hinzu: „Sie sind mehr als das. Sie sind krank.“

„Krank – ach nein!“ Sie schüttelte den Kopf.

„Oder Sie bedürfen meiner Hilfe,“ sagte er fragend und sah ihr immer noch in das weiße Gesicht.

„Ja.“

„Und diese Hilfe kann Ihnen Ihr Mann nicht leisten?“

„Nein – er nicht.“ Ihr Gesicht wurde hart. Und plötzlich kamen sie ihr wieder, die Thränen, die sie schon alle ausgeweint zu haben meinte, sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und senkte den Kopf in die Hände.

Er ließ sie sich ausweinen, ohne sie zu stören, und nach einer Weile hob sie von selbst den Kopf wieder empor.

„Ich bin nicht krank,“ sagte sie ruhig, „ich bin nur sehr, sehr unglücklich.“

„Und Sie glauben, daß ich Ihnen helfen kann?“ sagte der alte Mann, sie aufmerksam und teilnehmend betrachtend.

„Ja!“ Dann wurde es wieder still.

„Können Sie mir sagen, was Sie bedrückt?“

„Nein, nein,“ sagte die junge Frau hastig, „das kann ich nicht. Es ist etwas – ich müßte jemand beschuldigen – nein, ich kann es nicht! Können Sie es nicht auch ohne das verstehen, wie einem das Leben so zur Last werden kann, daß man keinen anderen Wunsch mehr hat als den, es hinzuwerfen?“

Der alte Mann schwieg einen Augenblick. „Kind,“ sprach er dann, seine runzelige Hand auf ihre schlanke, weiße legend, „Kind, Sie sind so jung – und gesund, schön und begabt. Es stirbt sich nicht so leicht, wie Sie meinen.“

„Doch, es stirbt sich ganz leicht,“ sagte sie fest. „Können Sie nicht verstehen, daß einem so zu Mute sein kann?“

Er nickte langsam. In seine sanften Augen kam ein wunderlicher Ausdruck. „O ja, aber es geht vorüber, man lernt warten – und es war doch auch nicht das, mein Kind, wozu ich Ihnen helfen sollte?“

„Ja, das war’s.“ Nun war es heraus.

„Sie? Ich sollte –“ Der alte Mann erhob sich halb, „Sie sind krank, Frau Agnes, ich – ich sollte Ihnen helfen –?“

„Ja.“

Sie sahen sich ins Gesicht, Auge in Auge; es wurde wieder ganz still. (Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_786.jpg&oldid=- (Version vom 1.5.2023)