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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

In meiner Hoffnung, das Stück kennen zu lernen, wurde ich gründlich getäuscht, denn alle Mitspieler murmelten, ohne sich mit Spielen anzustrengen, ihre Rollen sehr rasch und unverständlich herunter. Laut sprach nur einer und das war der Souffleur. Meine kleinen Scenchen gingen glatt vorüber und in einer guten Stunde waren die fünf Akte heruntergehaspelt.

Auch am Abend ging die Sache ganz glatt, bis auf einen kleinen Zwischenfall.

Der Souffleur, der sich wohl auf der Probe zu sehr angestrengt hatte, war gewiß von der löblichen Absicht beseelt gewesen, seine Kehle wieder felddiensttüchtig zu machen, und hatte nur leider das hierfür nötige Spirituosenquantum ein wenig überschätzt. Im ersten Akte zwar waltete er noch seines Amtes, jedoch nur ruckweise wie eine alte Spieluhr mit schadhafter Walze, im zweiten Akt zog er es vor, sich nur als Zuschauer zu verhalten, und zwar als wohlwollender. Unsere „Prinzessin“ entlockte ihm Töne des Beifalls. Damen lernen gewöhnlich nicht schlecht, auch ohne Hilfe des „Kastengeistes“ brachte sie ihren langen Monolog im Kerker so ziemlich zuwege. Wenn aber einmal eine Pause eintrat, so wurde dieselbe durch den Souffleur ausgefüllt, der recht vernehmlich herausrief: „Das Luderchen kann’s, sie kann’s wahrhaftig!“ Nun brachte ich die schon mehrfach erwähnte Ampel, sprach und verschwand wieder. Hinter mir her tönte es anerkennend: „Der Neie kann’s ooch!“

Aber die Situation sollte noch kritischer werden.

Unser Komiker, den ich schon die Ehre hatte vorzustellen, war in dem ehrwürdigen Ritterstück gleichfalls mit zwei Aufgaben betraut, die natürlich, wie es einem routinierten Künstler zukam, viel wichtiger waren als die meinigen. Er hatte den „Grafen“ und den Hofnarren des Königs, Pedrillo, zu „machen“.

Der Graf in dem besagten Stück ist ein sehr edler Mann. Er tritt in den Kerker der Prinzessin, erklärt ihr in längerer Rede, er wolle sie befreien, läßt es aber bei bloßen Worten nicht bewenden, sondern überreicht ihr zu nachdrücklicher Bekräftigung eine goldgestickte Börse.

Diese tugendsame Scene ging nun nicht ohne Schwankungen vorüber, Schwankungen im eigentlichsten Sinne des Wortes. Wie es schien, hatte der gestrige Willkommstrunk auf dem Bahnhof noch manche Wiederholungen erlebt. Mit einem Schritte und einer Haltung, die charakteristischer für einen Matrosen während einer steifen Nordnordostbrise als für einen spanischen Granden erschien, lavierte der Graf zunächst eine Zeit lang an der Mittelthür, kreuzte dann über die Bühne, um sich endlich vor dem Souffleurkasten vor Anker zu legen.

Aber wie er auch die Netze seiner Ohren auswarf – meine seemännischen Vergleiche sind zu schön, um sie nicht ins Poetisch-hyperbolische fortzuspinnen – keine Rettungsboje wurde ihm zugeworfen, nur unheimlich klang es im Ton tiefster innerster Ueberzeugung heraus: „Der kann’s nich!“

Hierauf ward längere Zeit von keinem der Beteiligten ein Wort gesprochen.

Endlich schien es unserm Künstler doch aufzugehen, daß er irgendwie in den Gang der Ereignisse einzugreifen habe, die Börse, die er krampfhaft in der Rechten hielt, gab ihm eine dämmrige Vorstellung seiner Aufgabe, und mit staunenswertem Lakonismus faßte er den ganzen Inhalt der Scene in ein einziges Wort zusammen, er hielt der Prinzessin das Geld hin und lallte: „Da!“

Die edle Dame war jedoch nicht gesonnen, die schönsten Stellen ihrer Rolle so ohne weiteres preiszugeben; sie fuhr – denn sie war ja in der angenehmen Lage es zu können – unentwegt in ihrer Rolle fort und deklamierte mit erschütterndem Pathos ihre nächste große Rede. Auf den Grafen machte dies aber wenig Eindruck, mit noch energischerer Bewegung und noch kräftigerem „Da!“ fuhr er dazwischen, und als er damit die wie ein Uhrwerk weiter schnarrende Prinzessin nicht zum Schweigen bringen konnte, donnerte er ihr ein drittes „Da!“ entgegen und versuchte kurzer Hand sein bislang verschmähtes Gold in die Halsöffnung des Kleides der Prinzessin zu stecken, so daß diese, um namenloses Unglück zu verhüten, gezwungen war, den Beutel rasch zu nehmen, entgegen dem Hauptgrundsatz römischen Rechtes: Beneficia non obtruduntur, Wohlthaten können nicht aufgezwungen werden.

Dann wankte der Graf scheinbar tieferschüttert von dannen, die Beschenkte besah sich in sprachloser Verlegenheit die ihr zu früh zu teil gewordenen rettenden Schätze, bis der Vorhang sich endlich über dieser Scene des Edelmuts gerührt niedersenkte.

Der Graf sank in der Garderobe auf einen Stuhl, faßte sein Haupt in beide Hände und legte es auf den Schminktisch, es schien, als schluchzte er leise in tiefer Zerknirschung über seine Versündigung an Raupachs Dichtergenius. Als wir uns aber näherten, bemerkten wir, daß er sanft und selig eingeschlummert war. Keine Bitten der Mitspieler, kein Machtwort des Direktors waren im stande, ihn zu neuem Bühnenleben zu erwecken, – er schnarchte bereits.

Was war zu thun?

Die wichtige Rolle des Pedrillo, die er noch in den nächsten Akten zu „performieren“ hatte, konnte unmöglich ganz gestrichen werden.

Da zeigte sich das Feldherrngenie unseres Thespiskarrenlenkers in hellstem Lichte. Er überließ die Bierleiche ihrem Schicksal und hielt Umschau unter seinen noch kampffähigen Truppen.

Hierbei stellte sich heraus, daß der Darsteller des „Blas“ die Rolle des „Pedrillo“ vor längerer Zeit einmal gespielt hatte. Sofort avancierte der Bauernbursche Blas zum Hofnarren des Königs und ich wurde sozusagen auf dem Schlachtfelde zum „Blas“ befördert.

Mir schwindelte.

In einem Stücke, von dem ich gar keine Ahnung hatte, sollte ich während des Zwischenaktes eine verhältnismäßig nicht unbedeutende Episode „übernehmen“.

Aber es wurde mir keine Zeit zum Besinnen gelassen. Die Kutte, in der ich meinen Hampelmann gegeben hatte, wurde mir vom Leibe gerissen, eine Bauernjacke angezogen, eine blonde Dümmlingsperücke aufgestülpt, und während dieser Metamorphose las mir der Herr Direktor höchstselbst die Scene des Blas vor.

Halbbetäubt entnahm ich aus dieser Vorlesung, daß Blas ein tölpischer Bauernjunge war, welcher der befreiten, nun als Bauernmädchen verkleideten Prinzessin einen Kuß raubte und für diese Majestätsbeleidigung von ihr mit einem Backenstreich bestraft wurde.

Was dann noch vor sich gehen sollte, klang meinem Ohre nur noch wie das Brausen des Wassers dem Ertrinkenden, denn ehe ich noch zur Besinnung kam, fühlte ich mich nicht eben sanft auf die Scene hinausgestoßen und nun hieß es: Friß, Vogel, oder stirb!

Die ersten zwei, drei Reden waren meinem, ich darf wohl sagen, glücklichen Gedächtnisse so einigermaßen haften geblieben und ich konnte sie wenigstens dem Sinne nach herstammeln.

Dann wurde es dunkel um mich her.

Ich hatte nur, ganz wie der „Graf“, eine Empfindung: es mußte irgend etwas geschehen!

Was? – Es mußte geküßt werden!

Kurz entschlossen schritt ich also von Worten zu Thätlichkeiten. Meine geschminkte Partnerin erschien mir im Lampenlichte und im Geiste der Rolle küssenswert genug – ich vollführte es und nahm die vorgeschriebene Quittung in Empfang, was bei dem anspruchslosen Publikum lebhafte Fröhlichkeit erregte.

Das gab mir Mut und da ich beim besten Willen nicht wußte, was ich weiter hätte sagen oder thun sollen, ließ ich beherzt dem ersten Kusse einen zweiten folgen.

Die arme Prinzessin, der heut’ so viele Ueberraschungen zugedacht waren, wußte nicht recht, ob sie nochmals schlagfertig antworten sollte, ich ließ sie aber gar nicht dazu kommen, diese Gewissensfrage zu entscheiden, sondern förmlich berauscht von der immer mehr anwachsenden Heiterkeit der Zuschauer, versetzte ich der armen Dulderin eine ganze Serie von schallenden Küssen.

Schallender Jubel war mein Lohn, und da ich instinktiv fühlte, daß ich den Höhepunkt meiner Leistung erreicht hatte, drückte ich die verblüffte Dame nochmals herzhaft an mich, reichte ihren Lippen noch eine letzte und eine allerletzte Erquickung und verschwand dann „lang gebeint mit raschen Sätzen“ in der nächsten Coulisse.

Hinter mir her aber erscholl tosender Beifall – die Scene hatte ganz ungeheuer gefallen.

Es war mein erster großer Erfolg!

*  *  *

Ich schämte mich ehrlich noch acht Tage hinterher.

Der Direktor nannte mich aber von Stund’ an nicht mehr „junger Mann“, sondern händigte mir noch am selben Abend eine Rolle von sechs Bogen ein, die ich noch in derselben Nacht lernte und am folgenden Abend zur vollkommensten Zufriedenheit eines hochgeehrten Publikums „verzapfte“.

So geht’s in Wirklichkeit bei einer „Wandertruppe“ zu!


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_819.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2023)