Seite:Die Gartenlaube (1895) 875.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Zeit gleichsam aus dem Jenseits herüber zu vernehmen. Der Entwurf zu einem Schreiben an Heiberg lautet, wie folgt:

„Auch nur eine kurze historische Skizze über das Leben des Mannes, dessen siebzigsten Geburtstag Deutschland zu feiern sich anschickt, zu verfassen – was Sie mir mit dringenden Worten ans Herz legten – kann ich nicht unternehmen. Wie ich Ihnen sagte: ich bin mit den Verwicklungen, Gefahren, Tendenzen des 9. Jahrhunderts in meinem Geiste vollauf beschäftigt. Ich suche den Faden der Ariadne in diesem Labyrinth zu finden; ich hoffe noch, es mir und andern verständlich zu machen. In diesem Augenblick Studien über das 19. Jahrhundert zu unternehmen, ist mir unmöglich. Dennoch reizt es mich, ich bekenne es, Ihren dritthalbhunderttausend Abonnenten ein Wort über die gewaltige Kraft zu sagen, welche in die Geschicke von Deutschland so tief eingreift, wie jemals ein Minister in der Monarchie vermocht hat. Glücklicherweise greifen die inneren Impulse unseres Kaisers und seines Kanzlers so vollkommen ineinander, daß eine Differenz der Tendenzen innerhalb des Kreises, den die Regierung ausmacht, nicht vorkommen kann.

Das Wichtigste, der Gedanke, von dem die politische Bewegung ausging, ist ein gemeinsamer: der preußische Staat mußte von dem Druck, welchen die auswärtigen Verhältnisse ihm auferlegten, befreit werden. Der dänische, der österreichische und der französische Krieg sind daraus gleichmäßig hervorgegangen. Dem Einfluß einer fremden Nationalität auf das nördliche Deutschland, der auf einem dynastischen Verhältnis beruhte, welches eben unterbrochen wurde, mußte ein Ende gemacht werden, wenn die Nation jemals ihrer Einheit innewerden sollte. Aber der Hader, der zwischen den beiden in Deutschland vorwaltenden Potenzen lange bestand und hierdurch noch geschärft wurde, konnte unmöglich länger fortdauern, wenn der preußische Staat seiner vollen Unabhängigkeit sich erfreuen sollte. War doch vor kurzem der Versuch gemacht worden, die Einheit der Nation in dem Hause Habsburg zur Darstellung zu bringen. Die Bundesfürsten, der Bundestag schienen sich dem zu fügen. Der gordische Knoten der deutschen Verwicklungen konnte nicht gelöst, er mußte zerhauen werden. Dies konnte nicht unternommen werden ohne Gefährdung der eigenen Existenz – auf diese Gefahr hin wurde es unternommen. Aber dank der Ausbildung, welche eine lange vorausrechnende Sorge der Regierung dem militärischen Geiste des Volkes und der Armee verschafft hatte, gelang es vollkommener, als man je erwartet hätte. Der einzige Bundesstaat, der sich dem wirksam entgegensetzte, wurde vernichtet. Dem alten Nebenbuhler wurde kein Fuß breit Landes entrissen; aber ein neuer Bund wurde geschlossen, der den Einfluß desselben auf das übrige Deutschland abschnitt.

 Der „dicke Heinrich“.
Ansicht von Querfurt.

Der Sieg von Sadowa eröffnete eine neue Aera für die Politik der Welt; nicht alle Welt aber acceptirte denselben. Noch immer wollte Frankreich den Einfluß nicht entbehren, welchen es früher in Deutschland ausgeübt und den es zu Anfang desselben Jahrhunderts beinahe zu einer wirklichen Oberherrschaft ausgebildet hatte. Es hoffte noch immer, die Niederlagen, die es danach erlitten, durch eine neue Erhebung wettzumachen. Man hat später erfahren, wie tief das noch immer auf die Zersetzung in Deutschland wirkte: alle Hoffnungen, die alten Zustände wiederherzustellen, schlossen sich an Frankreich. An und für sich hätten die beiden Nationen wohl nebeneinander bestehen können. Unausgesetzte Eifersucht aber bewirkte endlich einen Bruch, der zum Kriege führte, in welchem die Monarchie Friedrichs des Großen den Sieg über die napoleonischen Tendenzen und ihre Streitkräfte davontrug. Hierdurch erst wurde die volle Unabhängigkeit gesichert. Was die politischen und militärischen Führer der letzten Jahrzehnte geträumt, wurde vollendet. Es liegt die größte Befriedigung des Selbstgefühls einer Nation darin, wenn sie weiß, daß auf Erden kein Höherer über ihr ist. Gleichsam von selbst geschah es dann, daß die preußische Monarchie sich zum Deutschen Reich erweiterte; alle die, welche den Sieg hatten erfechten helfen, nahmen theil an der neuen Gestaltung.

Drei kriegerische Handlungen, deren wahre Ursache in der Entwicklung der inneren Kraft lag, deren Beginn und Gang jedoch nicht ohne den die auswärtigen Geschäfte leitenden Minister vollzogen werden konnte, welcher die Einheit der Idee in sich selbst trug und in jedem Momente der Differenzen gegenwärtig erhielt. Die größte intellektuelle Fähigkeit hatte sich mit dem universalen Interesse identifiziert. Notwendig fiel es ihr zu, dann auch den Frieden zu leiten, die allgemeine Teilnahme an der Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten verfassungsmäßig zu sichern. Noch weniger als bisher könnte ich hier auf eine Einzelheit eingehen; ich will nur beim Allgemeinsten stehen bleiben, ohne die Irrungen zu berühren, die dann eintreten mußten und eingetreten sind. Das vornehmste Objekt von allen ist die Organisation der nationalen Institute, welche dem entsprechen mußte, was in den europäischen Staaten überhaupt die maßgebende konstitutionelle Idee geworden ist, zugleich aber das Verdienst hatte, das Volk selbst in seiner Tiefe zu ergreifen und heranzuziehen. Das gehörte nun einmal zu dem Ganzen der Umwandlung, die sich vollzog, Wir sind inmitten derselben begriffen. So widerwärtig und verabscheuenswürdig die Ausschreitungen sind, die dabei dann und wann vorkommen, so läßt sich doch erwarten, daß die Velleitäten des Umsturzes durch den Gedanken der allgemeinen Umfassung und Entwicklung aller Kräfte zurückgedrängt werden.

Aber noch etwas anderes möchte ich von meiner Seite in Erinnerung bringen. Die wissenschaftlichen Studien, die nie in größerer Ausdehnung in Deutschland geblüht haben als heutzutage, bedürfen des Friedens; denn nur aus langjähriger Anstrengung und Arbeit der Gesamtheit und der Einzelnen können große Resultate hervorgehen. Eine solche Epoche ist dem deutschen Geiste in den Jahren seit dem letzten großen Kriege gewährt worden – ebenfalls hauptsächlich durch das Verdienst des Staatsmannes, der in jedem Augenblick den kriegdrohenden Impulsen entgegentrat und, indem er sie zurückwies, zugleich eine Art von Vorsitz in dem europäischen Rate davongetragen hat.

Noch ist aber auf diesem Wege viel zu thun übrig. Das innere Verständnis in der Nation selbst muß vollendet, die äußere Stellung nach allen Seiten hin gesichert werden. Wenn man den siebzigsten Geburtstag Bismarcks feiert, so geschieht das nicht allein in Bewunderung dessen, was durch ihn geschehen ist, sondern in der Erwartung, daß die Gründungen, die seinem Kaiser und ihm gelungen sind, für alle Zukunft bestehen und für jedermann die erfreulichsten Früchte, nicht der Ruhe, sondern der Thätigkeit hervorbringen werden. Das walte Gott!“ a/D.     


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 875. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_875.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2023)