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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Vater sich in den Spielklubs und auf den Rennplätzen umhertrieb. Aber alle Vorstellungen waren umsonst, er behauptete, nicht leben zu können ohne die Nähe des Kindes, an dem er mit unsinniger Zärtlichkeit hing. Ich glaube, er hatte ein instinktmäßiges Gefühl, daß diese Nähe allein noch ihn vor dem Schlimmsten, vor dem völligen Sinken bewahrte, und klammerte sich daran wie an einen Rettungsanker.“

„Ich war heute morgen in seinem Hotel, um nach dem Kinde zu sehen,“ sagte Sonneck gepreßt. „Ich hörte aber, Sie seien bereits dagewesen und hätten es mit sich genommen.“

„Ja, ich habe die Kleine zu meiner Frau gebracht, die von jeher eine große Zuneigung für sie hegte, und einstweilen bleibt sie bei uns. Kennen Sie die Verhältnisse näher? Bernried war in dieser Hinsicht sehr verschlossen und sprach nie von seiner Familie, und doch wird man sich an sie wenden müssen.“

„Von den Bernrieds ist nichts zu erwarten,“ erklärte Sonneck mit Bestimmtheit. „Sie haben sich dieser Heirat von Anfang an mit vollster Feindseligkeit gegenübergestellt und das Kind gilt in ihren Augen ebensowenig für ebenbürtig wie die Mutter. Es ist ein hochmütiges, ahnenstolzes Geschlecht. Ich werde dem Großvater der Kleinen, dem Professor Helmreich, Nachricht geben, der jetzt in Kronsberg lebt. Aber vielleicht trifft Bernried selbst noch irgend eine Bestimmung. Ist er bei Besinnung?“

„Bis jetzt nur auf Minuten, aber ich glaube, daß vor dem Tode noch einmal volle Klarheit eintreten wird. Das geschieht oft in solchen Fällen und dann wird er zweifellos nach seinem Kinde verlangen.“

Sonneck schien einige Sekunden lang mit sich zu kämpfen, dann sagte er: „Darf ich ihn sehen?“

„Wenn Sie es wünschen, gewiß. Eine Aufregung ist hier nicht mehr zu fürchten und vielleicht ist Ihr Kommen noch eine letzte Freude für den Mann, um den sich sonst wohl keiner kümmern wird. Ich fahre heute gegen Abend noch einmal hinaus nach dem Hospital, Sie brauchen mich dort nur aufzusuchen. – Aber jetzt kommen Sie mit hinunter in den Garten, meine Frau ist dort mit der kleinen Elsa, ich möchte Ihnen das Kind zeigen.“

Als die Beiden die Treppe hinunterschritten, begegnete ihnen Reinhart Ehrwald, der beim Doktor ein Zusammentreffen mit Sonneck verabredet hatte und ebenfalls kam, um zu hören, wie es mit dem Manne stehe, dem die gestrige Niederlage so verhängnisvoll geworden war. Er schloß sich auf die Einladung des Doktors den Herren an.

Der Garten des Walterschen Hauses lag wie eine kleine grüne Oase mitten in dem Häusermeer der Stadt. Hier duftete und blühte alles in tropischer Fülle und Pracht und der zierlich gedeckte Frühstückstisch gab dem Orte etwas ungemein Trauliches und Behagliches. Eine Dame war eben beschäftigt, den Thee zu bereiten, und ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren jagte sich im lustigen Spiel mit einem winzigen weißen Hündchen umher.

„Da bringe ich Dir die beiden Wüstenhelden!“ sagte der Doktor scherzend, indem er mit seinen Gästen an den Tisch trat. Frau Walter, eine noch junge Frau mit feinen, anmutigen Zügen, begrüßte die beiden Herren, die sie bereits kannte, mit einfacher Liebenswürdigkeit und lud sie freundlich ein, an dem Frühstück teilzunehmen.

„Ich kann leider noch nicht den mindesten Anspruch auf den Titel machen, den mir der Herr Doktor giebt,“ sagte Ehrwald, indem er den angebotenen Platz einnahm. „Ich habe vorläufig nur den guten Willen, ihn zu verdienen.“

„Und die nötige Tollkühnheit dazu, das haben wir gestern bei dem Rennen gesehen,“ ergänzte Walter und wandte sich dann zu dem Kinde, das sein Spiel unterbrochen hatte und neugierig herbeikam, um die Fremden anzuschauen.

„Komm her, Elsa, und gieb diesem Herrn die Hand, es ist ein Freund Deines Papas!“

Die Kleine gehorchte und bot Sonneck zutraulich das Händchen. Es war ein allerliebstes kleines Geschöpf, schlank und zierlich wie eine Elfe, mit einem rosigen Kindergesicht, aus dem ein Paar großer dunkelblauer Augen hervorblickte. Das blonde Haar, das einen leicht rötlichen Schimmer hatte, fiel offen über Hals und Schultern, deren zarte Farbe es nicht verriet, daß das Kind schon mehrere Jahre lang unter der afrikanischen Sonne lebte. Sein weißes Kleidchen war reich mit Spitzen besetzt und an seinem Halse funkelte ein Medaillon von feinster arabischer Goldarbeit. Das ganze kleine Wesen war Lust und Leben, und als es jetzt, erhitzt vom Spiel, mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht strich und die Fremden anlachte, da sah es so reizend aus, daß Sonneck es mit einer fast leidenschaftlichen Zärtlichkeit an sich zog und küßte.

Klein-Elsa ließ sich das ruhig gefallen und mit jener Wichtigkeit, mit der Kinder eine Neuigkeit erzählen, sagte sie: „Mein Papa ist verreist, aber er kommt bald zurück, sehr bald, und dann bringt er mir etwas Schönes mit, sagt der Onkel Doktor. Du kennst auch den Papa?“

„Ja, mein Kind,“ entgegnete Sonneck, und sich niederbeugend, setzte er so leise, daß nur das Kind ihn verstehen konnte, hinzu: „Ich habe Deinen Papa einst lieb gehabt, sehr lieb!“

Elsa sah ihn an, es war, als habe sie eine Ahnung davon, was in diesen Worten lag, denn plötzlich bot sie, ohne jede Aufforderung, dem fremden Manne den kleinen roten Mund zum Kusse dar.

„Nun will ich aber auch eine Hand und einen Kuß haben, kleine Landsmännin,“ sagte Ehrwald. „Ich will nicht leer ausgehen, komm zu mir!“

War es der übermütige, etwas befehlende Ton, oder mißfiel dem Kinde sonst etwas an dem jungen Manne, genug, es rührte sich nicht.

„Nun, Elsa, willst Du dem Herrn Ehrwald nicht auch die Hand geben?“ mahnte Frau Walter, aber Elsa schüttelte den Kopf und ließ ein sehr entschiedenes „Nein!“ hören.

Jetzt legte sich Sonneck ins Mittel und redete der Kleinen freundlich zu, aber vergebens. Sie glitt von seinen Knien auf den Boden nieder und stand nun da wie ein vollendeter Trotzkopf. Sie stampfte mit dem Füßchen und wiederholte mit vollster Heftigkeit:

„Nein! Ich will nicht! Ich will ihn nicht küssen!“

„Ei, wie feindselig!“ spottete Reinhart. „Da werde ich mir den versagten Kuß wohl erobern müssen.“

Er streckte die Arme nach dem Kinde aus, aber dies entglitt ihm blitzschnell und lief in den Garten. Der junge Mann sprang ihm nach und nun begann eine förmliche Jagd zwischen den Bäumen und Gebüschen.

Klein-Elsa machte es ihrem Verfolger schwer genug. Wie ein Pfeil schoß sie vor ihm hin, tauchte dann plötzlich im Gebüsch unter, kam an einer ganz anderen Stelle wieder zum Vorschein und entwischte ihm immer wieder, wenn er sie zu fassen glaubte. Das weiße Röckchen und die blonden Haare flatterten, während das Kind wie ein großer weißer Falter durch die blühenden Gesträuche huschte, und Ehrwald hatte so viel Mühe, es zu fangen, wie nur irgend ein Schmetterlingsjäger. Endlich aber erreichte er es doch und trug es zu dem Tische zurück.

„Da habe ich sie!“ rief er triumphierend und hielt seine Beute mit beiden Armen hoch empor. „Willst Du mich nun küssen, Elsa? Ja oder nein?“

„Nein!“ rief die Kleine zornig, während sie vergebliche Versuche machte, sich zu befreien. „Laß mich los! Du sollst mich loslassen!“

„Erst den Kuß!“ lachte Reinhart, und ohne sich an das Sträuben seiner kleinen Gefangenen zu kehren, drückte er einen Kuß auf das widerstrebende Gesichtchen.

Das Kind schrie auf, so laut und angstvoll, als habe man ihm irgend ein Leid angethan. Dann aber ballte es die kleine Faust und schlug dem jungen Manne so nachdrücklich in das Gesicht, daß er es betroffen, fast bestürzt aus seinen Armen gleiten ließ. Diesmal machte Elsa keinen Versuch, zu flüchten, sie stand regungslos da, aber all die sonnige Liebenswürdigkeit war plötzlich wie ausgelöscht in dem Wesen des Kindes. Die Hände waren noch geballt, die Zähne zusammengebissen, und das waren auch keine Kinderaugen mehr, die zu Reinhart aufblickten. Es sprühte darin seltsam, beinahe unheimlich, er mußte unwillkürlich an die Augen Bernrieds denken, als dieser gestern seinen Gegner maß, während er jene letzte verzweifelte Anstrengung machte, die ihm den Tod bringen sollte.

„Aber Elsa, wie kannst Du so unartig sein! Was soll der fremde Herr von Dir denken?“ rief Frau Walter. Da regte sich das Kind, es lief zu ihr, barg den Kopf in ihrem Schoß und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0026.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)