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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

thränenden Augen ihr Leid. Der Vater vergehe ganz in der Sehnsucht nach seiner Schulglocke, Tag und Nacht lasse es ihm keine Ruhe und der Arzt habe schon angedeutet, es werde ihm wohl die letzte Kraft vor der Zeit nehmen oder gar den Verstand. Ob ich ihm denn um Gottes willen nicht den Willen thun und ihn wieder läuten lassen wolle.

Das war nun eine wunderliche Sache. Ich selber war ja gern bereit, und die Kollegen nahmen es schon auf sich, die Sache den Schülern unauffällig zu erklären. Aber nun wollte der Neue nicht. Es sei ein Eingriff in seine Dienstpflichten, meinte er, und es schade seiner Reputation bei den Schülern und in der ganzen Stadt, wenn es aussehe, als ob er nicht einmal pünktlich genug sei, um zu läuten. Mit Mühe brachte ich ihn in einigen Tagen herum – eine kleine Geldsammlung unter den Kollegen – der Mann hatte glücklicherweise gerade Geburtstag – mußte nachhelfen. Während dieser Zeit hatte ich noch ein paar Besuche von der Tochter zu überstehen, und der Alte strich den ganzen Tag um den Schulhof herum, ganz blaß und gebückt und immer nur nach dem Glockentürmchen ausspähend.

Als er nun aber das Läutseil wieder anfassen durfte – diese Freude! Sogar der Neue wurde gerührt davon. „Herr Direktor,“ meinte er, „es ist mir jetzt ganz recht. Einem alten Kameraden muß man schon etwas zugute halten. Und wenn er mal nicht pünktlich ist, so werde ich schon aushelfen.“ Aber das war nicht nötig. Der alte Kallmeyer hatte während seiner ganzen Dienstzeit die Glocke nicht pünktlicher bedient als jetzt. Und ordentlich aufzuleben schien er bei ihrem dünnen, grellen Klang.

Eines Tages aber – es war ein paar Wochen vor dem Abiturientenexamen, dem letzten in unserem alten Klosterbau; das neue Gebäude war fertig, mit einem schönen Glockentürmchen und einer neuen Glocke darin – da winkte mir der Alte beim Vieruhrläuten so heimlich zu und deutete nach seiner Glocke hinauf. „Herr Direktor,“ flüsterte er, „sie hat einen Sprung!“ „Das weiß ich lange,“ sagte ich, „das müssen Sie doch auch wissen, man hört es ja schon seit Jahren!“ Aber er schüttelte den Kopf und meinte, er habe es nie vorher gemerkt.

Tags darauf fehlte der Alte beim Schulaufang; der Neue mußte für ihn einspringen. Ich schickte gleich nach der Wohnung des alten Liktors. Der Bote kam zurück mit einer Empfehlung von der Tochter: der Vater sei plötzlich schwer erkrankt, man habe sie noch in der Nacht hereinberufen.

Das gab mir ordentlich einen Stich ins Herz. Es war ja auch für mich wieder eine Mahnung, einer von den Boten des Todes, von denen das alte Volksmärchen erzählt, die er so höflich vor sich her zu einem schickt und die man so achtlos vorüberläßt.

Und da hat mir meine Prima – meine letzte – eine große Freude gemacht. Der Sprecher kam zu mir und verriet mir namens seiner Kameraden, daß sie schon vor Wochen heimlich sich an den Maler Mahrholtz gewandt und bei ihm – wohl mehr für gute Worte als Geld – ein Bild bestellt hatten, welches sie dem alten Liktor bei der Feier des Abschieds vom alten Gymnasium schenken wollten: es stellte ihn selber dar, wie er das Läutseil in der Hand, den Blick nach der Schuluhr gerichtet, seines Amtes waltete. Das Bild war just tags zuvor eingetroffen, nun baten sie, daß ich es – wenn der Arzt erlaube – mit ihnen unter Beisein meiner Kollegen jetzt schon dem Kranken überreichen möge.

„Eine reine Freude schadet nie,“ meinte der Arzt, und so haben wir dem Alten – man hatte ihn auf das Gütchen seiner Kinder hinausgebracht – das Bild folgenden Tages feierlich überreicht. Gewiß, eine reine und große Freude war es für ihn. Es hat immer an seinem Lager gestanden während der paar Wochen, die er noch so still und schmerzlos auslebte. Jetzt hängt es – ein Vermächtnis des Alten an die Schule – in dem neuen Konferenzzimmer.

Als ich ihn zuletzt besuchte, konnte ich ihm noch die Meldung bringen, daß meine letzten Abiturienten alle bestanden hatten. Da blickte er mit dankbarem Lächeln auf das Bild und flüsterte: „Es war aber auch ein sehr guter Jahrgang, Herr Direktor!“

Vier Tage darauf – an einem schönen, goldduftigen Frühherbsttage haben wir ihn bestattet, auf dem alten Augustinerkirchhof, unfern der Schule. Alle Schüler, das Kollegium an der Spitze, holten ihn von der Stadtgrenze ein. Das umflorte Schulbanner wurde über seiner Gruft gesenkt; und als der Prediger geendet, da klang – wie es der Alte sterbend gewünscht – von dem Klosterbau herüber durch die weiche Abendluft noch einmal das klingelnde, schmächtige Geläut des Schulglöckchens und mischte seinen hellen Ruf in das dumpfe Geräusch der niederkollernden Erdschollen.

Es waren Abschiedsklänge auch für mich. Als sich im nächsten Schuljahr die Pforten des neuen Gymnasiums öffneten, da hielt ein neuer Direktor die erste Andacht ab – und ein neues Glöckchen läutete sie ein.



Blätter und Blüten.


Ein Ehrentag deutscher Arbeit in Siebenbürgen. (Mit Abbildung S. 132.) Seit den letzten zwei Jahrzehnten sind die Siebenbürger Sachsen den Reichsdeutschen vertraute Freunde geworden, und zwar hat im besondern die „Gartenlaube“ wiederholt in Wort und Bild über das Leben und Streben unserer Stammesgenossen im fernen Osten und über ihr Ringen um die Erhaltung der deutschen Eigenart berichtet. In den letzten sonnigen Septembertagen des verflossenen Jahres wurde nun in Hermannstadt ein Fest gefeiert, das sich zu einem Ehrentag deutscher Arbeit gestaltete. Es galt, das fünfzigjährige Jubiläum des Siebenbürgisch-Sächsischen Landwirtschaftsvereins zu verherrlichen, dessen segensreiche Wirksamkeit in wirtschaftlicher und nationaler Beziehung die vollste Anerkennung verdient. In den vierziger Jahren, da im Volksleben überall neue Kräfte sich regten, wurde jener Verein von warmherzigen Volksmännern ins Leben gerufen; das Jahr 1848 machte jedoch seinem Wirken einstweilen ein Ende und einer seiner Vorkämpfer, Stefan Ludwig Roth, mußte seine Hingabe für die Interessen des sächsischen Volkes mit dem Leben büßen; 1849 wurde er wegen angeblichen Landesverrats erschossen.

Mit dem Eintreten ruhigerer Zeiten begann der Landwirtschaftsverein seine Thätigkeit wieder und hob sich unter der trefflichen Leitung eines ausgezeichneten Mannes, des hochverdienten Josef Freiherrn Bedeus von Scharberg. Es wurden landwirtschaftliche Schulen gegründet, die Viehzucht gehoben, das Kreditwesen organisiert und eine Zeitschrift, die „Landwirtschaftlichen Blätter“, ins Leben gerufen, die, belehrend und unterhaltend zugleich, den siebenbürgisch-sächsischen Bauern die moderne Landwirtschaft als Kunst und Wissenschaft vermittelt. Die wirtschaftlichen Verdienste und der deutsche Patriotismus Scharbergs wurden auch anderwärts anerkannt, außer anderen Ehren wurde ihm die zu teil, daß ihn die Heidelberger Universität gelegentlich ihres 500jährigen Jubelfestes zum Ehrendoktor der Rechte ernannte.

Diesem Manne brachte nun das Sachsenvolk am 28. September vorigen Jahres eine eigenartige Huldigung dar. Aus allen Gauen Siebenbürgens hatten sich Bauern und Bäuerinnen mit ihren Kindern eingefunden, um sich einem Festzug anzuschließen, in dem 3000 Bauern, von Künstlerhand geleitet, ein Stück deutscher Kulturarbeit sozusagen bildlich darstellten. Da ritt voran ein Bürgerbanderium mit den flatternden alten Standarten der Sachsen, ihnen folgten Stolzenburger Bauern zu Pferde in der farbenreichen Volkstracht. Hinter einer Bauernkapelle zogen allerlei bunte Gruppen, die Landwirtschaft in den vier Jahreszeiten darstellend. Den glänzendsten Punkt dieses Festzuges boten indessen die Neudorfer Bauern mit ihrem „Hochzeitszug“. Auf ihren prachtvollen reichgeschirrten Pferden saßen ergraute Männer und stattliche Burschen wie angegossen, schwenkten die Hüte und riefen ihr „Vivat, die Braut soll leben!“ Diese selbst saß verschämt im reichen sächsischen Schmuck im Wagen und nahm lächelnd die Huldigungen, die ihr in Form von reizenden Blumensträußchen aus allen Fenstern zuflogen, entgegen. Aus den vielen Typen dieses Festzuges haben wir gerade ein siebenbürgisch-sächsisches Brautpaar in der schmucken Nationaltracht herausgegriffen und führen es unseren Lesern auf der nächsten Seite im Bilde vor.

Der Festzug war verrauscht und am Abend des nächsten Tages brachten 800 Bauern ihrem verehrten Führer von Scharberg einen Fackelzug dar. Da richtete dieser edle Förderer der deutschen Kulturarbeit in Siebenbürgen an die Bauernschaft folgende Worte: „Wenn die Wurzel sich kräftig erweist, wird der Baum unserer Volksgemeinschaft forttreiben und grünen in dem mannigfachen Bestande von Laub- und Nadelgehölz, das in dem weiten Garten unseres Vaterlandes sich üppig aneinander drängt. So will ich denn dem zuversichtlichen Glauben mich hingeben, daß die Wurzel noch fort und fort gesund und lebenskräftig sich erhalten werde. Gott segne unsere sächsische Bauernschaft!“ Sicher findet dieser Wunsch kräftigen Wiederhall überall, wo deutsche Herzen schlagen! *     

Preußische Gardejäger auf einem Jagdzug im Wildpark von Compiègne. (Zu dem Bilde S. 117.) Der große, etwa 15 Quadratkilometer umfassende Park von Compiègne diente seit alten Zeiten den Königen von Frankreich als Lieblingsjagdgrund und auch Kaiser Napoleon III. pflegte in ihm gern Jagden abzuhalten. In den Februartagen 1871 stand in dem Parke ein Kommando des preußischen Gardejägerbataillons – lauter gelernte Forstleute – welches mit dem Abschuß von Wild für das deutsche Hauptquartier in Versailles betraut wurde. Nach einem solchen Jagdzuge, dessen Ergebnis eine gute Jagd genannt werden konnte, wurde ein Bauer aus dem nahen Pierrefonds, dessen gewaltiges 1390 von Ludwig von Orléans gegründetes Schloß im Hintergrunde unseres Bildes sichtbar ist, mit Pferd und Wagen zum Transport requiriert. Nachdem die Jagdbeute aufgeladen war und einer der Gardejäger auf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0131.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2023)