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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Höhe empor und trat unter eine mächtige Linde, die ihre Aeste weithin streckte. Sie trug das erste zarte Grün, das noch keinen Schatten gab, und durch die erst halb belaubten Zweige fiel das volle Mondlicht auf den Mann, der sich an den Stamm lehnte. Es war eine hochgewachsene Gestalt in dunkler Reisekleidung, unter dem Hute hervor drängte sich üppiges, blondes Haar, das mit der auffallend dunklen Färbung des Gesichtes im Widerspruch zu stehen schien, und der Blick schweifte langsam, wie suchend über die ganze Umgebung.

Das Thal und die Berge ruhten im träumerischen Glanze der Mondnacht. Das weiße Licht lag hell auf den Dächern und Häusern der alten Bergstadt mit ihrer jetzt zum Fürstenschloß gewordenen Feste. Man sah deutlich die hohen Giebel, die engen Straßen, die Brücke, welche über den Fluß führt, und jenseit derselben die weißen Häuser und Villen des Badeortes. Und über dem allen lag tiefe Ruhe und tiefer Frieden.

Es war eine kalte, beinahe rauhe Frühlingsnacht, aber der Fremde dort unter der Linde atmete die herbe Luft in so tiefen, vollen Zügen, wie ein Durstiger den erquickenden Trank schlürft, und jetzt richtete er sich empor und lauschte weit vorgebeugt. Die Luft war ruhig, kein Windhauch regte sich, aber von den Bergen herüber kam ein Hallen und Rauschen, das in der stillen Nacht weithin vernehmbar war. Dort oben, unter den starren, weißen Gipfeln schien ein geheimnisvolles Leben erwacht zu sein, es klang wie fernes, fernes Brausen und Tosen, wie dumpfe Meeresbrandung.

„Ah, die Gletscherbäche!“ sagte der nächtliche Wanderer halblaut, mit einem tiefen Atemzuge. „Der Schnee schmilzt da droben, die Wasser stürzen – es wird Frühling im Lande!“

Er wandte sich wieder nach Burgheim zurück und versuchte durch das Gitterthor einen Einblick zu gewinnen, aber das war kaum möglich, denn das Haus lag still und dunkel da im Schatten der hohen Bäume, es war kaum in seinen Umrissen sichtbar.

„Mauern und Gitterthor!“ murmelte er. „Sonst war eine lebendige Hecke hier und eine kleine Gartenpforte. Das Haus scheint unverändert zu sein, aber die Tannen sind hochgewachsen und die alte Linde hier draußen auch. Ob ich mir den Eingang suche? Da drinnen schläft ja alles und im schlimmsten Falle – gleichviel, ich muß hinein!“ Ein Druck an der Gitterthür zeigte ihm, daß sie fest verschlossen war, er betrachtete prüfend die Mauer, die, hoch und glatt, nicht den mindesten Stützpunkt für den Fuß bot, aber die weit ausgebreiteten Aeste der Linde reichten bis in den Garten und der Fremde blickte mit einem flüchtigen Lächeln zu ihr hinauf.

„Nun, so versuche ich es mit Dir, Du alter Freund. Hast mich ja oft genug getragen, so thu’ es heut’ noch einmal!“

Er klomm gewandt an dem knorrigen Stamme empor, schwang sich auf den größten Ast und gewann die Höhe der Mauer. Ein kecker Sprung trug ihn hinunter in den Garten. Drinnen im Hause schlug ein Hund an, kurz und laut, aber da der Eindringling die Vorsicht gebrauchte, einige Minuten lang regungslos stehen zu bleiben, so schien sich das Tier wieder zu beruhigen, es verstummte.

Langsam schritt nun der nächtliche Wanderer durch den halbverwachsenen und verwilderten Garten dem Hause zu. Das Mondlicht, das draußen so hell auf der Erde lag, schien hier abzugleiten an den schwarzen finsteren Tannen, nur hin und wieder ließen die Zweige oder das dichte Gebüsch einzelne Strahlen hindurch, die gespenstig über den Boden hinhuschten. Die stille Mitternachtsstunde, das dunkle, einsame Haus, das dämmernde bläuliche Licht, das alles hatte etwas Geisterhaftes, etwas, das fernab zu liegen schien von dem Leben und der Welt im hellen Strahl des Tages.

„Die echte deutsche Märchenstunde!“ sagte der Fremde leise. „Kaum setzt man den Fuß auf den alten Boden, so ist man auch schon wieder in dem alten Bann, und ich glaubte doch frei geworden zu sein in den langen Jahren. Da dringe ich wie ein echter, rechter Märchenheld ein in das verwunschene Schloß, das im Zauberschlafe liegt, und mache mich unglaublich lächerlich, wenn ich dabei ertappt werde – aber lassen kann ich es nicht!“

Er stand jetzt vor dem Hause, dessen Läden fest geschlossen waren, nur der hohe Giebel ragte hinein in das Mondlicht, alles andere lag in tiefem Schatten. Aber durch zwei Tannenwipfel hindurch fiel ein breiter, heller Streifen gerade auf die Terrasse und auf die halbeingesunkenen, moosbewachsenen Stufen, die zu dem Eingang hinaufführten. Der fremde Mann blickte stumm und unverwandt darauf nieder, lange, lange Zeit, dann plötzlich warf er sich auf die Knie und drückte seine Lippen auf die verwitterten moosigen Steine, so heiß, so leidenschaftlich wie ein Pilger, der die heilige Stätte grüßt – wie der verlorene Sohn, der die Schwelle der Heimat küßt!

Da schlug drinnen im Hause von neuem der Hund an, diesmal lauter und anhaltender und es mußte auch noch jemand wach sein, denn man vernahm eine gedämpfte Frauenstimme, die das Tier beschwichtigte: „Still, Wotan! Es ist ja Bastian – kennst du ihn denn nicht?“

Der Fremde war aufgesprungen und wollte den Rückzug antreten, aber das Klirren eines Riegels verriet ihm, daß es bereits zu spät war. Wenn er jetzt durch den Garten eilte, mußte er bemerkt werden, der Hund spürte ihn jedenfalls auf. Er trat deshalb rasch seitwärts in das dichte Tannendunkel, das keinen Mondstrahl hindurchließ, und drückte sich fest an einen Baumstamm.

Der Riegel wurde in der That zurückgeschoben, ein heller Lichtschein fiel auf die Steintreppe und in der geöffneten Thür zeigte sich eine schlanke Mädchengestalt. „Bist Du schon zurück, Bastian?“ klang es in die Nacht hinaus. „Wird der Arzt kommen?“

Es erfolgte keine Antwort, der Fremde stand regungslos unter der Tanne und blickte auf die Erscheinung, die nun freilich so ganz dieser „Märchenstunde“ entsprach. Die Lampe, die das junge Mädchen in der Hand hielt, beleuchtete voll ihr Gesicht und die reichen, goldig schimmernden Flechten, die sich wie ein Kranz um den Kopf legten; aber neben ihr wurde jetzt auch ein mächtiger schwarzgrauer Hund sichtbar, der trotz der Beschwichtigung argwöhnisch und spürend den Kopf hoch emporstreckte.

Befremdet durch das Ausbleiben der Antwort, setzte Elsa die Lampe in der Flurhalle nieder und trat vollends heraus. Wotan aber schien jetzt zu wittern, daß sich irgend etwas Fremdes in der Nähe befand. Er stieß ein dumpfes, drohendes Knurren aus und drängte sich an seiner Herrin vorüber auf die Terrasse; dann aber schoß er plötzlich mit lautem wütenden Gebell die Stufen hinab und auf die Tannen zu, er hatte den Eindringling entdeckt.

Jeden anderen würde der Anfall des riesigen Tieres niedergeworfen haben, hier aber taumelte es, von einem furchtbaren Faustschlag getroffen, halb betäubt zurück, doch nur einen Augenblick lang. Dann stürzte es sich von neuem mit noch größerer Wut auf den Unbekannten und es schien sich ein wilder Kampf zwischen den beiden zu entspinnen.

„Wer ist da? Was hast Du, Wotan?“ rief das junge Mädchen, das gespannt lauschte, was denn Wotan etwa Feindseliges aufgespürt habe. Da klang eine fremde Stimme von drüben her: „Rufen Sie den Hund zurück! Ich bin in der Notwehr – wenn er mich nicht losläßt, erwürge ich ihn!“

Das schien keine bloße Prahlerei zu sein, denn das eben noch so laute Gebell Wotans klang jetzt dumpf und halberstickt, als fehlte ihm der Atem. Ohne Besinnen eilte Elsa die Stufen hinunter zu den Ringenden, die während des minutenlangen Kampfes in das Freie gelangt waren. Der riesige Wotan stand halb aufrecht, die Tatzen auf den Schultern des Fremden, den er gepackt hielt, aber dieser hatte beide Fäuste an der Gurgel des Tieres, das vergebens seine ganze Kraft aufbot, sich frei zu machen. Die eisernen Hände dort ließen nicht los und machten es wehrlos, seine wilden Laute erstarben in einem angstvollen Keuchen und Röcheln.

„Lassen Sie los!“ rief das junge Mädchen halb erschrocken, halb befehlend und riß den Hund am Halsbande zurück. „Wotan, hierher – leg Dich nieder!“

Der Fremde gehorchte, seine Hände lösten sich und er trat zurück, aber auch Wotan folgte dem Rufe seiner jungen Herrin. Mit dumpfem drohenden Murren kauerte er sich an ihrer Seite nieder, aber er erneuerte den Angriff nicht. Elsa schien seine Nähe für einen genügenden Schutz zu erachten, denn sie machte keine Miene, in das Haus zu flüchten, sondern hielt dem unerwarteten Abenteuer stand.

„Was wollen Sie hier? Wer sind Sie?“ fragte sie in einem Tone, der mehr Unwillen als Furcht verriet. Der Unbekannte zog den Hut und machte eine Verbeugung, so ruhig und artig, als stehe er in einem Salon und habe nicht soeben erst einen gefahrvollen Kampf bestanden. „Ein Fremder, mein Fräulein,“ antwortete er, „der um Verzeihung zu bitten hat, daß er unberechtigterweise in Ihren Garten geraten ist.“

Elsa stutzte beim Laut dieser Stimme, es war ihr, als hörte sie diesen vollen, tiefen Klang nicht zum erstenmal. Betroffen sah sie auf den Mann, der nur wenige Schritte von ihr entfernt im hellen Mondlichte stand, denn der Mond war jetzt über die Tannenwipfel emporgestiegen und erhellte den ganzen Platz vor dem Hause.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0222.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)