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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Durch einen breiten Korridorgang des Erdgeschosses gelangen wir an eine Flügelthür und treten durch diese mitten in den Trubel des ersten Kieler Seemannsheims. Der elf Meter tiefe und sieben Meter breite Restaurationssaal der Mannschaften ist bis auf den letzten Platz besetzt. Auf geschmackvoll geformten, hellfarbigen Wiener Stühlen, einen den ganzen Fußboden deckenden Linoleumteppich unter den Füßen, sitzen die vergnügten Blaujacken um die blitzblank gescheuerten, unpolierten Eichentische; hier eine Gruppe vom Panzerschiff „Brandenburg“, dort eine andere vom Kreuzer „Kaiserin Augusta“; an diesem Tisch ein halbes Dutzend Rekruten von der „Sachsen“, denen sich ein paar Bekannte von der Torpedoabteilung beigesellt haben, an jenem, ringsherum dicht gedrängt in zweifacher Reihe, eine Schar Bootsgäste vom Wachtschiff „Pelikan“, denen ein „alter Kerl“ vom Artillerieschulschiff „Mars“ seine Seegeschichten zum besten giebt. Ganz besonders behagliche Plätze aber haben sich die heute rechtzeitig erschienenen Leute vom Aviso „Pfeil“ und vom Torpedoschulschiff „Blücher“ erobert, dort hinten an den drei hohen, mit rotbraunen Jutegardinen verhängten, durch blanke Pfeilerspiegel voneinander getrennten Fenstern, wo man durch Rücken an Rücken aneinandergefügte lederbezogene Sofas drei urgemütliche Nischen herstellte, von denen aus sich bei Tage der Straßenverkehr draußen vortrefflich überblicken läßt. Gleich links vom Eingang erweisen zwei Obermatrosen dem mächtigen Kachelofen eine besondere Aufmerksamkeit, deren Grund wir beim Nähertreten schnell erkennen. Denn die bekannte blaue Delfter Arbeit nachahmend, hat hier ein erfinderischer Malersmann die einzelnen Kacheln mit Schiffstypen, Leuchttürmen und humoristischen Scenen aus dem Seemannsleben – hier ein Matrose mit dem Sonntagsschatz am Arm, dort einige Blaujacken am Biertisch – geschmückt.

Die beiden scheinen bei bester Laune und lassen manch kräftigen Seemannswitz vom Stapel, der noch auf zwei Tische Entfernung ringsum allgemeines Gelächter hervorruft. Nur der junge Rekrut von der Werftdivision, der dort an dem auf besondere Anregung des Prinzen Heinrich in die Längswand eingelassenen alten Kamin lehnt, bleibt unerschütterlich ernst. Er scheint überhaupt eine nachdenkliche Natur zu sein, die am liebsten mit sich allein lebt. Schon eine Viertelstunde steht er am selben Platze, mit der Hand in der Tasche die lose darin aufbewahrten Nickel betastend. Wird’s reichen? Mal sehen! Jedenfalls rafft sich der Melancholiker jetzt auf, und zwischen den frohen Kameraden umherschleichend, besieht er sich hüben und drüben an den in graubraunen Oelfarben schablonierten Wänden die wohlgelungenen Porträts des Prinzen und der Prinzessin Heinrich. Dann schaut er eine Weile bewundernd die beiden fünfarmigen Lampenkronen an, die dem belebten Bilde im Saal eine Fülle von Licht verleihen, und studiert schließlich die über allen Thüren lesbaren, auf das Schifferleben bezüglichen ernsten und heiteren Reime. Da heißt’s an der einen Wand:

Deutsches Haus und deutsches Land,
Schirm es Gott mit starker Hand!

oder an der andern:

Nordost is de Schippersfru er Trost,
Nordwest is de Schippers er Best.

und an einer dritten:

Nord und Süd, de Welt is wit,
Ost und West, to Hus is’t Best.

Hochdeutsche und plattdeutsche Verse wechseln über den Thüren, und hochdeutsche Rede und „plattdütscher Snack“ schwirren in dem angenehm durchwärmten, gut ventilierten und trotz sechzig bis hundert „Volldampfvoraus-Cigarren“ nur leicht vom Rauch verschleierten Raum durcheinander. Dazwischen wird manch gutes und billiges Glas Gerstensaft – Branntwein wird nicht verschenkt – mit Verständnis geleert, um hinterm Büffett von neuem gefüllt zu werden; zwei, drei und mehrere Male, je nach der Größe des Durstes und des – Portemonnaies. Denn absolut frei – natürlich ohne in Roheiten zu verfallen – sollen sich statutengemäß die „Kulis“, wie die nicht chargierten Blaujacken in der Marinestadt gemeiniglich benannt werden, im Seemannshaus bewegen dürfen; keinerlei militärischer Zwang noch irgendwelche genierliche Rücksichtnahme auf etwaige Vorgesetzte stört die Gemütlichkeit. Dabei hat niemand nötig, auch nur einen Pfennig zu verausgaben; aber was verzehrt wird, muß selbstverständlich bar bezahlt werden, und das wird selbst den weniger Bemittelten um so leichter, als alle Preise für Speise und Trank so niedrig wie möglich angesetzt sind. Daß gleichwohl alles drüben in der mit einem riesigen Kochherd ausgestatteten Küche unter Leitung der Gattin des Hausverwalters tadellos hergestellt und in reichlichen Quantitäten verabreicht wird, davon können wir uns schnell auf einem Gang rechts durch die Flügelthür in das ähnlich wie der Hauptsaal ausgestattete Speisezimmer überzeugen. Dort entdecken wir zwischen zahlreichen anderen emsig kauenden Gästen auch unseren Melancholiker wieder, vor sich einen für fünfzig Pfennig erstandenen Chimborazo von Eisbein, Sauerkraut und Erbsenmus, dessen er sich auch getrösten dürfte, selbst wenn ihm nicht nur noch ein letztes Jahr, sondern die ganze dreijährige Dienstzeit mit achtzehn Monaten Ostasien bevorstände. Und in der That! er tröstet sich auch. Denn nach beendetem Mahle wandert er gesättigt und stillvergnügt ein Zimmer weiter, um sich an dem dort zu freier Verfügung stehenden amerikanischen Billard die wünschenswerte Nachtischbewegung zu verschaffen und mit zwei pommerschen Landsleuten vom Seebataillon die Dessertcigarre auszuspielen.

Wir aber wenden uns inzwischen vom Hauptsaal zur Linken und gelangen ins Lese- und Spielzimmer, wo wir eine schweigsame Gesellschaft antreffen. In bequemen Wiener Armstühlen sitzend, gruppieren sich hier die Gäste um zwei nebeneinander durch die ganze Länge des Saals sich hinziehende breite Tafeln; die einen sind mit der Lektüre irgend einer der 84 Tageszeitungen beschäftigt, welche im Seemannshaus gehalten werden und in denen jeder sich die gewünschten Nachrichten aus seiner Heimat zusammenlesen kann; die anderen blättern in den illustrierten Journalen; die dritten vertiefen sich in irgend eins der in besonderem Glasschrank aufbewahrten Gesellschafts- und Geduldspiele. Hier spielt eine Gruppe Domino, dort ein Paar das Damenspiel, und dort wieder ein einzelner den „Blitzableiter“, „Grillenlöser“, „Zornbrecher“ und wie die Geduldspiele alle heißen, die zu Dutzenden zur Verfügung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0258.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2020)