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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

krampfhaft mit zwei Bürsten und betrachtete das Resultat dieser Arbeit dann minutenlang in einem Handspiegel.

Sonderbarerweise hatte ihm der Anblick augenscheinlich nicht jede Eßlust verdorben, denn er entnahm einem Frühstückskorbe mehrere belegte Brötchen, die er erst mit der grimmig vor sich hin gemurmelten Bemerkung: „Leberwurst! Echt! Als wenn meine Frau nicht wüßte, daß ich die nicht so gern esse!“ auf- und zuklappte, dann aber mit solcher Energie und solchem Gesichtsausdruck vertilgte, als wenn jede Semmel sein erbitterter Todfeind wäre.

In dem Augenblick begab sich etwas Unerwartetes und Schreckliches.

Ludwigs Spankorb geriet in geheimnisvolle Bewegung; das Papier knisterte und raschelte – und zum allgemeinen Entsetzen, an dem selbst die Wissenden, Schuldigen, die Jungen, tiefsten Anteil nahmen, schob sich ein glatter, dunkelbrauner Kopf durch das Papier, dem der ganze Männe mit aalglatter Gewandtheit folgte.

Der Geruch der Butterbrötchen hatte den unseligen blinden Passagier aus seinem Inkognito hervorgelockt und er wand sich, von dem sichtlich unangenehmen Eindruck, den seine Persönlichkeit hervorbrachte, bewältigt, in tödlicher Verlegenheit am Boden des Coupés.

Der Landgerichtsrat, was nur menschlich war, vergaß bei diesem überraschenden Ereignis sämtliche Forderungen der guten Lebensart und die Anwesenheit von Fremden, er tobte gradezu, beschuldigte seine Frau, um die Hinterlist gewußt zu haben, wollte umkehren, Jungen und Hund auf der nächsten Station aussetzen – kurz, der sonst so wohlgesittete Mann machte einen solchen Mordsspektakel, daß seine Gemahlin sich ihres Gebieters bis zu Thränen schämte und sich nur innerlich mit dem Erfahrungssatz tröstete, daß heftige Gewitter am schnellsten auszutoben pflegen.

Der alte Herr, hocherfreut, endlich eine Gelegenheit zum Zanken zu haben, erhob nun auch ein Zetergeschrei. Er fürchtete sich mit Ostentation vor Männe, als wenn dieser kein bescheidener Dachshund, sondern ein ausgewachsener Tiger wäre.

„Hier ist ein Menschencoupé!“ rief er mit markerschütternder Stimme, „hier ist kein Hundecoupé! Und die Bestie hat nicht mal einen Maulkorb – die soll einen hier wohl zerreißen!“

Alles sprach laut durcheinander, der Vater räsonnierte auf die Jungen, der alte Herr drohte, die Notleine in Bewegung zu setzen, die Mutter entschuldigte und beschuldigte immer abwechselnd sich, ihre Söhne, ihren Hund und ihren Mann. Der „eingehakte Pastor“ und seine Gattin, die natürlich nicht losließ, flehten um Frieden und klopften Männe vierhändig, kurz, die Situation war ganz so, wie man es von einer ungestörten Nachtruhe verlangen kann.

Schließlich hatte sich alles müde und heiser gesprochen, die Mutter stellte sich schlafend, „Pastors“ schliefen wirklich und der Vater guckte zornig bald nach seinen Jungen, bald in den Morgen hinaus. Der alte Herr brummte noch eine Weile in sich hinein, wie ein abziehendes Unwetter, schneuzte sich so donnernd, als wenn er einen Tusch blasen wollte, und gab sich dann zufrieden. Männe schien als vollendete Thatsache vorläufig acceptiert und als Unvermeidliches mit Würde getragen zu werden. Aber – leider muß es zugestanden werden – er benahm sich bei dieser Gelegenheit nicht richtig. Er hätte als geduldeter Eindringling still und bescheiden unter den Sitz kriechen und seine Anwesenheit möglichst vergessen machen müssen, doch hatte er in der Eile und Hast der Abreise kein Frühstück bekommen. Er ertrug es nicht länger, und als eben der allgemeine Skandal etwas beschwichtigt war, beging Männe die Taktlosigkeit, sich vor dem zu seinem Frühstücke zurückgekehrten alten Herrn steil auf die Hinterfüße zu setzen und flehentlich zu bitten.

Der Eigentümer der Butterbrote warf aber dem Unbescheidenen nichts zu wie einen haßerfüllten Blick. „Rufen Sie doch den Hund weg!“ herrschte er den Landgerichtsrat an, „ich kann nichts essen, wenn er mir so jeden Bissen beneidet!“

Der Vater bekam vor Aerger und Blamage fast Nasenbluten, und als der Wagen an der nächsten Station hielt, stieg er zu seiner und der Seinigen Erleichterung aus und begab sich mit den verheißungsvollen Worten an seine Söhne: „Na, laßt uns nur erst dort sein!“ in ein anderes Coupé.

Die Situation gestaltete sich übrigens für die Zurückbleibenden erträglicher als zu erwarten stand. Die Mutter, eifrig um den lieben Frieden bemüht, brachte es über sich, auf die Eigenart des alten Murrkopfs duldsam einzugehen, und warb so lange um seine Gunst, bis er sie durch eine endlose Beschreibung seiner rheumatischen Schmerzen fast bis zur Ohnmacht langweilte. Er zeichnete förmliche Pläne auf, aus denen die Landgerichtsrätin ersehen konnte, wo die Schmerzen jetzt säßen, wo sie vor anderthalb Jahren gesessen hätten, und wo sie später sitzen würden.

Da bekanntlich Leute seines Schlags sich nur gut amüsieren, wenn sie von ihren Leiden oder Gewohnheiten erzählen und jemand finden, der mit einem Schein von Interesse zuhört, so war der alte Querulant besänftigt und betrachtete unsere Hausfrau mit milderen Blicken.

Der Gedanke, diese Reisebekanntschaft während des ganzen Badeaufenthaltes mit sich herumschleifen zu müssen, lastete allerdings wie Blei auf den Nerven der Landgerichtsrätin. Als aber eine Station erreicht war, von der verschiedene Bahnen sich abzweigten, begann der alte Herr mit großer Umständlichkeit seine Gepäckstücke zu sammeln und rücksichtslos über die Köpfe der Mitreisenden heruntersausen zu lassen.

„Hier steige ich aus!“ bemerkte er dann, „ich muß noch zwei Stunden mit dem Dampfer fahren – seekrank werden – hübsches Vergnügen!“ Damit trat er, ehe der Zug völlig still stand, an die noch geschlossene Coupéthür und begann mit größter Wut daran zu rütteln und an die Fenster zu trommeln.

„Lassen Sie mich hinaus, Schaffner – werden Sie wohl gleich aufmachen!“ schrie er zornig. „Hier soll man wohl sitzen bleiben! Das ist echt! Der Kerl macht nicht auf!“

Zum Glück erschien ein Bahnbeamter, der gänzlich ungerührt von dem Toben des alten „Unausstehlius“ die Thür öffnete und ihn heraus ließ, während seine Reisegefährten ein stilles Dankgebet zum Himmel sandten, daß sie ihn los geworden waren.

Sie beobachteten ihn noch, wie er sich in der Ferne wütend mit einem Kofferträger zankte, und sahen ihn dann, von einer jauchzenden Menge geleitet, in den andern Zug steigen, der ihn seinem Ziele zuführte.

Auch unsere Reisenden – es hatte sich herausgestellt, daß die „eingehakten Pastors“ ebenfalls Gäste der Pension Paula zu werden im Begriff standen – waren an dem Endpunkt ihrer Eisenbahnfahrt gelangt. Eine kurze Dampfertour über das Wattenmeer wäre ereignislos verlaufen, hätte nicht Männe für Abwechslung gesorgt. Er, den man vor den Mitreisenden wieder zu verheimlichen bestrebt war, jagte plötzlich unter wahnsinnigem Gebell rund um das Deck, um eine Möwe zu erhaschen, die aber in ironischer Ueberlegenheit dicht an seiner schnüffelnden Nase vorbei strich und die Sache ganz belustigend zu finden schien.

Der Gesellschaftswagen der Pension Paula erwartete die Reisenden an der Landungsbrücke. Männe wurde wieder in den Wagen geschmuggelt, wo er als bebender Knäuel zwischen Ludwigs Füßen saß und innerlich erwog, ob es nicht bei Portiers ebenso hübsch gewesen wäre.

Die Wirtin der Pension Paula lächelte berufsmäßig und hold jedem Aussteigenden entgegen, verzerrte sich aber sichtlich beim Anblick des hausordnungswidrigen Männe und erklärte, sie könnte ihn unmöglich unter irgend einer Voraussetzung als Pensionär aufnehmen, da sie „nervöse Herrschaften“ im Hause habe, die sich nie mit der Anwesenheit eines Hundes einverstanden erklären würden. Der zwecklose Wunsch, daß Männe nie geboren wäre, tauchte flüchtig in der Brust des Landgerichtsrates auf – er stand mit den Seinigen ratlos vor der Thür, während der „eingehakte Pastor“ samt Frau schon längst im Hause verschwunden war.

Da fühlte der Fuhrmann des Hotels ein menschliches Rühren und erklärte sich bereit, den obdachlosen Männe für die Nacht in Quartier zu nehmen. Am Tage konnte er ja mit den Kindern am Strande sein und für seine Leibesnahrung mußte eben irgendwie Rat geschafft werden, da der Fuhrmann ein Junggeselle war und auswärts speiste. – Männe wurde denn mit einem Kofferriemen am Wagen festgeschnallt und von seinem neugewonnenen Pflegevater davongefahren. Sein Geschrei spottete jeder Beschreibung, und bei der absoluten Stille der Insel hörte man dasselbe noch erschallen, als der Tonkünstler selbst längst nicht mehr zu erblicken war.

Karl stand kreideweiß vor Mitgefühl und sah dem Entschwundenen nach, Ludwig machte es gar wie der Zöllner in Bürgers „Lied vom braven Mann“ – „er heulte noch lauter als Strom und Wind“ um seinen Männe, und die Familie hielt im Zustand äußerster Blamiertheit ihren Einzug in die Pension Paula.

Der Vater war zum Glück zu angegriffen von der Reise, um die seinen Jungen zugedachte Strafe sogleich zu vollziehen, und diese ließen schweigend und widerspruchslos alle zoologischen Ehrentitel über sich ergehen, was den Landgerichtsrat rührte und entwaffnete.

(Schluß folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0291.jpg&oldid=- (Version vom 13.7.2023)