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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Am untern Ende des Dorfes, wo man die Stromarme überblickt, liegt eine Schenke. Schon längst nimmt ein lebhafter Handelsverkehr von Süden nach Norden gerade hier seinen Weg über den Strom, wo die Inseln sein Ueberschreiten erleichtern. Seit einiger Zeit ist vom linken bis zum rechten Ufer eben mit Benutzung der Strominseln ein langer Brückenzug aus mächtigen Balken gefügt worden. Es ist nun gar nichts Seltenes, daß eine Tafelrunde von hochgewachsenen, kühnblickenden Blondbärten aus Deutschland am rohgezimmerten Tische unter der alten, noch vom Urwalde übrig gebliebenen Eibe um den Metkrug sitzt, während die entbürdeten Rosse auf dem Anger grasen oder mit den Troßknechten vor der Dorfschmiede halten. Dieser grauhaarige Schmied mit dem rotblond schimmernden Barte war der erste Deutsche, der sich hier bei den dunkelhaarigen Slaven ansiedelte. Er ist der einzige freie Mann des Dorfes. Alle andern sind Hörige, seit sich das große Polenreich über das Land erstreckt.

Volles Glockengeläute klingt über den Werder. Eine Prozession von Kähnen, besetzt mit den zur Kirchfahrt buntgeschmückten Bewohnern des Uferdorfes, bewegt sich den Flußarm aufwärts nach der jenseits gelegenen Insel … Welch anderes Bild gegen einst! Auf einer Landzunge ragt eine gemauerte Feste, flankiert von vierschrötigen Türmen und umgeben von einer roh geschichteten Mauer. Hier residiert mit seinem Burggesinde und seinem reisigen Gefolge ein Statthalter des Herrschers. Einen Bogenschuß entfernt, am anderen Ende des ansehnlichen Inselfleckens erhebt sich eine langgestreckte Basilika auf gemauertem Unterbau mit einem schlanken Glockenturme. Gegenüber wohnt im stattlichen, weitläufigen Gehöft der Bischof. Es herrscht ein buntes Leben auf der Insel, und der Burgflecken, der einen slavischen Namen trägt, aus dem später „Breslau“ wurde, gilt bereits als einer der wichtigsten Plätze des weiten polnischen Reiches.




Ein Vierteljahrtausend später … Die polnischen Herrscher gebieten schon längst nicht mehr über das Land, welches nun einen Teil des Hausstaates der Luxemburger bildet. Es ist in der letzten Zeit des klugen Kaisers Karl IV. Man nennt sie in seinen Landen die „goldne“. Von den früheren Hütten unseres Uferdorfes ist keine Spur mehr vorhanden, und das slavische Völkchen, das in ihnen leichtherzig in den Tag lebte, ist wie vom Winde verweht … Längs des erhöhten Dammes sieht man in dichterer Reihe als einst stattliche, mit Schindeln gedeckte Fachwerkgehöfte von deutscher Bauart. Nirgends fehlt das Wurz- und Kräutergärtlein, und hinter den Hofraiten gedeiht edles Obst.

Weithin ins Land dehnt sich die Flur. Da leuchten die saftig grünen Krautäcker, da wallt silbern das Korn, da glänzt der goldne Weizen, da duftet der Hanf und auf den Rainen weidet breitstirniges Rindvieh. Der tief in die Scholle greifende deutsche Eisenpflug entlockt dem Boden strotzende Fülle. Der in weite Ferne zurückgedrängte Wald hat nur einzelne Büsche an sickernden Gräben im Felde zurückgelassen. Schon seit einigen Menschenaltern sind hier die Deutschen seßhaft. Sie eroberten das ganze Land – aber nicht mit dem Schwerte – sondern mit Beil und Pflug, Hammer und Kelle. Es ist ein Volk von freien Männern. Die hier im Uferdorfe zinsen dem Kloster, welches die Rechts- und Territorialhoheit ausübt, aber freigewählte Schöffen „sitzen das Gericht und finden das Recht“.

Oberhalb des Dorfes steht inmitten des uralten Friedhofes an Stelle der vergessenen Kapelle eine auch schon altersgraue Dorfkirche. Dicht daneben aber breiten sich gleich einer besonderen Ortschaft mit behaglicher Geräumigkeit und in würdevoller Ruhe die zahlreichen und äußerst mannigfaltigen Baulichkeiten eines Prämonstratenserstifts aus. Da ist das Konventhaus mit seinem beschaulich gemütlichen Refektorium. Da ragen die romanischen Rundbogen der alten Klosterkirche mit seltsamem Schnitzwerk an Fenstern und Thüren. Um die Höfe gruppieren sich zwanglos die Wirtschaftsgebäude, das Brauhaus, die Scheuern und Ställe. Das Ganze umgiebt eine hohe Mauer mit Türmen. Wo sie am steilen Rande eines großen Teiches hinstreicht, umwuchert Gesträuch die steinernen Mauerrippen … Das Dorf steht im regsten Verkehr mit den frommen Brüdern und dem zahlreichen Klostergesinde. Man weiß draußen alles, was man drinnen sich lächelnd zuraunt von lebefrohen Mönchen … Aber auf das Kloster läßt man doch nichts kommen. Denn alle Jahre um Johanni giebt’s eine „Heiligtumsfahrt“. Da werden in der Klosterkirche die vielen, vielen wunderkräftigen Reliquien des Stiftes ausgestellt; und es strömen von nah’ und fern Tausende von Gläubigen zu Fuß, zu Wagen und zu Rosse herbei, um Heilung von mancherlei Gebresten, Gewährung von allerlei Gnaden und Sündenvergebung zu erlangen. Die Prozessionen und das Glockengeläute und die Messen nehmen gar kein Ende, und das giebt einen gewaltigen Strom von Gold und allerlei Gaben und Geschenken in die Truhen des Klosters, und im Dorf blüht das Geschäft und die Bewohner des Uferdorfes heimsen eine erste goldne Ernte ein … Am derben Eichentisch unter der uralten Eibe im Garten des stattlichen Kretschams, der auf der Stelle der verschollenen polnischen Schenke steht, wird manch ein Krug weißflockigen Braunbiers geleert bis in die sinkende Nacht hinein, und aus der uralten braven Schmiede schallt der Schlag der Hämmer und stieben lustig die Funken in den Abend heraus.

Der Wald des Werders ist verschwunden und frei schweift der Blick darüber nach der altbesiedelten Dominsel. Auch dort ist das Bild verändert. Von der alten polnischen Burg ist nur ein einsamer unförmlicher Turm geblieben; und wo der Burghof von lautem Treiben wiederhallte, schaut hinter Wildrosenhecken ein braunes gotisches Kirchlein hervor. Dicht daneben ragt eine eben vollendete schön gegliederte Kirche mit kühnen Strebepfeilern und Spitzenbogenfenstern in die Lüfte. … Auf dem Platze der früheren bescheidenen Dombasilika fesselt eine große gotische Kathedrale mit stolzem Portal die Blicke …

Auch flußabwärts welch eine neue Welt! Das jenseitige Ende des alten Brückenzuges verschwindet im Gewirr hochgegiebelter Häuser, das die kleine dem linken Stromufer vorliegende einst öde Sandinsel bedeckt. Auf den Uferrand des Eilands hat sich ein massiges Klosterstift mit seinen Gehöften hingelagert, und daneben ragt, die steinernen Fundamente fast in die rauschenden Wellen des Stromes tauchend, majestätisch in blinkender Neuheit, noch von Gerüsten umsponnen, die stolze Stiftskirche.

Am linken Stromufer, aber weit landeinwärts, erstreckt sich ein mächtiges Handelsemporium. Da, wo vor kaum 200 Jahren nur finstrer Wald, einsames Sumpf- und Moorland den wandernden Kaufmann begleiteten, braust und brandet, hämmert und hastet heute das kraftstrotzende, schaffensfrohe Leben einer deutschen Handelsstadt. Frei wie nur irgend eine der freien Städte „draußen“ im Reiche, blühen unter der Herrschaft staatskluger Konsuln aus reichen Patriziersippen Handel und Gewerbe in nie geträumter Fülle. Noch kürzlich hat Kaiser Karl innerhalb ihrer Mauern glänzend Hof gehalten und Fürsten und Abgesandte aus dem Osten und Westen um sich versammelt …




Abermals ist ein Vierteljahrtausend über das Dorf dahingegangen. Wir schreiben 1620. Nun liegt es schon nicht mehr einsam draußen im Freien. Von Westen her ist längs des rechten Stromufers allmählich – man merkte es kaum, wie in langen Zeiträumen ein Gehöft ans andere sich fügte – eine dorfartige Vorstadt herangekrochen, immer näher, bis sie ans äußerste Gehöft des Uferdorfes stieß.

Auch an seinem östlichen Ende hat es eine gewaltige Umwälzung gegeben. Vergeblich sucht der Blick das mächtige getürmte Mauergeviert des stolzen Prämonstratenserstifts. Die Stätte ist öde und leer, von Gestrüpp und Gras und bunten Wiesenblumen überwuchert. Nur am steilen Ufer des schimmernden Teiches erinnern noch einige geborstene Mauerreste, über welche die Hagebuttensträucher kletteru, an die geschwundene Stiftsherrlichkeit. Es sind bald an die hundert Jahre her, daß die Städter auf Befehl des mächtigen Rates der Stadt drüben mit Aexten und Schaufeln, Hebeln und Hämmern in hellen Haufen heranrückten, um Hals über Kopf das altehrwürdige Stift niederzureißen. Es drohte nämlich damals der Großtürke ins Land zu fallen, und man fürchtete, seine Kriegsvölker möchten sich in dem festen Kloster einnisten.

Mit dem Flußarm geht es zur Neige. Schilf und Meerlinsen dämpfen das Wasser, und die Sonne schlürft es aus, so daß es den gelben Nixblumen nicht mehr behagen will.

Drüben auf der Dominsel ist es recht still geworden. Rührten sich nicht täglich mehrere Male die Glocken, man könnte glauben, alle Leute dort wären eingeschlafen. Der Bischof kommt nur selten her. Die allzunahe ketzerisch gewordne Stadt verleidet’s ihm.

Im Uferdorfe selbst zeigen die Gehöfte noch die alten derb ländlichen Gesichter. Die Bewohner halten, trotzdem sie beinahe Vorstädter sind, zäh an der Väter Weise in Haus, Hof und Feld

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0331.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)