Seite:Die Gartenlaube (1896) 0332.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

und machen Mienen, als könnten sie bis ans Ende aller Dinge dieselben bleiben. Wohlhabend sind sie geworden! An Sonn- und Feiertagen treiben sie es arg mit teurem Gewand, schneeigem Linnen, silbernen Knöpfen und Senkeln und Goldhauben. Längst haben sie vergessen, daß ihre Urväter auch einmal als Fremde ins Land gekommen sind. Die uralte Eibe im Garten des Kretschams soll ja gar aus der Heidenzeit stammen. Kann schon sein. Die Bauern trinken und spielen heidenmäßig darunter, daß es ein Graus ist …

Heute aber – es ist ein kalter, windiger Februartag – geht es hoch her drüben in der Stadt. Und sie sind alle, Männer und Jungvolk und vor allem „das Frauenzimmer“, über die Brücken hinübergewandert. Nun summen in der Stadt die Glocken feierlich von allen Türmen. Von den Wällen und Bastionen krachen die Kartaunen und Feldschlangen. Die Wintersonne strahlt. Der von den aufständischen protestantischen Böhmen gekürte König Friedrich von der Pfalz hat unter Jubel seinen Einzug gehalten. Zum erstenmal ist ein neuer Herrscher nicht zum Dome hinüber, sondern zur evangelischen Kirche des Rates gezogen. Der neue König wird in zierlichen lateinischen Versen als „Bringer des Friedens“ begrüßt.

Der Winterabend bricht herein. Ueber der Stadt erscheinen bunte Raketengarben. Aber vom Walde her über den eisfunkelnden Teich und die wüste Klosterstätte rast der Sturm und tutet es unheimlich. „Das ist der wilde Jäger!“ meinen die Alten. „Der Herr behüt’ uns vor einem langen, grausamen Kriege!“




Hundertundsechzig Jahre später. Es herrscht nun wirklich ein Friedrich im Lande, ein Ur-Urenkel jenes unglücklichen „Winterkönigs“. Aber der Zoller ist aus härterem Holze. Sie nennen ihn den „großen König“ und wissen viel von seinen klugen, blauen Stahlaugen zu erzählen … Die Zeiten freilich sind streng und knauserig. Silberne Knöpfe und Goldhauben kennt man bloß noch vom Hörensagen; und man fängt eben erst an, ein wenig aufzuatmen …

Es ist auch gar nicht mehr das richtige Dorf. Viele alte Kräuterfamilien sind fortgezogen; und dafür haben sich allerlei städtische Gewerbetreibende ansässig gemacht. Die Schmiede steht noch auf dem alten Flecke. Die Gassenfront zeigt ein seltsames Gemisch von Dorf- und Vorstadtcharakter. Zwischen Schindel- und Strohdächern heben sich solide rote Ziegeldächer ab. Hier und da lugt sogar im Schatten eines parkartigen Gartens aus blitzblanken Fensteraugen das schlichtnette „Monbijou“ eines reichen Stadtherrn hervor. Zur Linken aber tönt der Viertakt der Dreschflegel, zur Rechten kreischt die Säge und zischt der Hobel. Hier riecht’s nach Zwiebeln und Gurken, dort nach Träbern, und weiterhin streiten Rosen-, Jasmin- und Kaffeeduft miteinander. Während die Gänse auf der ungepflasterten Gasse herumschnattern, klingen aus dem Kaffeegarten die süßen Weisen eines Streichkonzerts, denen ein gewähltes Publikum lauscht: hochfrisierte Bürgerfrauen im Reifrock, würdig steife Herren im blauen Frack und bauschigen Jabot, den Dreispitz über dem wohlgepuderten Zöpfchen … Vom Tanzboden her im alten Kretscham brummt der Baß und quiekt die Klarinette, es geht da sehr hemdsärmelig her, und der alte Dorfschulze jammert über das liederliche Volk.

Auch die Festung ist dem Dorfe hart auf den Leib gerückt. Man sieht von drüben kaum noch Turmspitzen. Auf dem Werder hat man eine gewaltige Bastei mit Wällen und einem steinernen Festungsthor errichtet. Das läßt alles so nüchtern und beklemmend erscheinen. Der alte Flußarm hat sich in seinen hohen Jahren zum langweilig stagnierenden Wallgraben müssen einzirkeln lassen. Den langen lieben Tag hört man Trommeln und Hornsignale, manchmal auch das Geheul der Spießrutenläufer. Da ist es noch gut, daß man diesseits weiße Blütenpracht oder sattes Sommergrün der Wipfel in den großen Gärten genießen und im weltentlegenen häuserlosen Gäßchen hinterm Kretscham zwischen Weißdornhecken dem Flöten der Amseln lauschen kann … Am Ende des Dorfes träumt noch wie sonst der Wasserspiegel des Teiches. In dem angeblich grundlosen Gewässer ist ja – so sagen die Leute – einmal ein Kloster versunken, weil die Mönche gar so sündhaft waren. Um Mitternacht kann man zuweilen den gespenstischen Abt mit seinem Jagdwagen rund um den Teich herum rasseln hören …




Die Zeit schlägt ein rascheres Tempo ein. Kaum sechzig Jahre sind verflossen – wir schreiben 1840 und wieder hat sich das Bild gänzlich verändert. Schon längst ist die drohende Bastei samt den nüchternen Wällen verschwunden. Die Jugend hat nichts mehr davon gesehen. An Stelle der Festungswerke breiten sich behaglich schattige Gartengründe aus, durchschnitten von stillen Zaungäßchen. … Im Sonnenlicht schwimmen die altersbraunen Kirchen und Prälatenhäuser des Domviertels. Anmutig heben sich die Silhouetten der Türme und Hochbauten der Stadt vom Horizont ab.

Der Wallgraben ist mit den Schutt- und Erdmassen der gesunkenen Werke ausgefüllt. Die Thalmulde überkleidet ein Wiesenteppich und nur in der tiefsten Rinne sickert es im Dunkel überhängender Gesträuche – der Rest des Flußarmes, der einst gelbflockige Fluten wälzte. Gleichem Geschick sind die Flußarme jenseit des ehemaligen Werders und am Dome verfallen. Aus beiden Inseln ward „Festland“. Auch das Schicksal des Dorfes am Damme ist längst besiegelt. Eines Tages hat der letzte Dorfschulze die Schöffenbücher auf dem Rathaus abgeliefert. … Auf dem zu einer Promenade umgewandelten ehemaligen Damme wandelt man im Schatten einer Doppelreihe von Platanen, Kastanien und Ulmen und genießt einen köstlichen Ausblick auf Stadt und Flur. Ein Hauch frischen Werdens webt über dem Ganzen.

Noch herrscht hier abseits vom Lärm der Stadt der Frieden der Gartenidylle. Die Bewohner bilden auch jetzt noch eine Welt für sich und haben Berührungspunkte mit der alten Zeit. Da steht noch die alte Schmiede, dort der Kretscham mit seinem Tanzboden. Noch immer grünt die tausendjährige Eibe. Im häuserlosen Gäßchen wandelt man wie einst zwischen Weißdornhecken. Hinterm Friedhof mit dem bemoosten Kirchlein blinkt golden ein Weizenfeld. Am Ende des Dammes schimmert unverändert der Spiegel des großen Teiches geheimnisvoll empor … und auch der gespenstige Abt treibt noch sein Wesen. …




Gegenwart! Lange hat sich die freundliche Gartenidylle gegen die Umstrickung durch das Großstadtungeheuer gewehrt. Da brach das Baubedürfnis der Zeit auch in diese Oase ein … und in Schutt sanken die stillen freundlichen Häuschen, zerstört oder zerstückt wurden die großen lauschigen Gärten. Auf dem Grabe dieses Vorstadtfriedens prunkt protzig eine ununterbrochene Front vierstöckiger Mietskasernen mit angegipstem Renaissancefirlefanz, einander gleichend wie Erzeugnisse einer fabrikmäßigen Architektonik. Da blinken keine freundlichen Fensteraugen mehr aus charakteristischen Häuserphysiognomien, da glotzen sie fünfzigfach gedankenlos aus Dutzendgesichtern. Nur hier und da hat sich ein Rest des alten Gartenzaubers, doch versteckt hinter den Häuserfronten, erhalten.

Verschwunden ist die Schmiede. Im alten Kretscham ist vorläufig, nachdem dort die Fiedeln verstummt sind, eine Volksküche untergebracht. Die uralte Eibe erlag der Axt. Aus dem traulichen Weißdornheckengäßchen machten sie eine Straße, die ein Hospitalbau in zierlicher Gotik eröffnet. Sonst aber stellten sie eine langweilig moderne Zinskaserne an die andere hin mit muffigen Kellerwohnungen unten, Schankstätten und allerlei Läden, den stereotypen ungemütlich nobeln Wohnungen für die „bessern Klassen“ darüber und mit den ungesund engen Mietskäfigen des Proletariats im Hinterhause.

Auch auf dem grünenden Wiesengrabe des alten Flusses reihte sich, als der Monumentalbau einer höheren Schule den Anfang gemacht, ein Hauskoloß an den anderen. Nur ein knappes Restchen ist für gärtnerische Anlagen gerettet worden. Auch die Aussicht nach der Dominsel, nach der Stadt – verbaut, verbaut! Den Bäumen der schattigen Allee ist es nicht mehr geheuer zwischen der Häuserschlucht, durch die unaufhörlich die Wagen der Pferdebahn klingeln und allerlei andere Fuhrwerke rasseln. Vorbei ist’s mit dem alten Frieden. Ausgestorben ist die seßhafte Generation. Man zieht ein, man zieht aus wie anderswo.

Auch das alte bemooste Kirchlein ist verschwunden und der Blick nach dem Friedhof verbaut. Und haben sie nicht auch die öde Stätte des verschollenen Klosters mit Häuserblocks besetzt? Hier hat die Gegenwart sich zu einer poetisch architektonischen That aufgeschwungen, indem sie auf den alten Stiftsfundamenten eine schön und kräftig gegliederte gotische Kirche baute, deren schlanke Türme sich zauberhaft im großen Teiche spiegeln, den noch die Wiese umgrünt. … Doch schon ist seine Zuschüttung im Gange. Und dann? Wird die immer weiter wachsende Großstadt auch den Rest der grünen Flur mit ihren Mietskasernenstraßen überdecken, oder wird man dem neuerwachten Verlangen nach behaglichem Wohnen und der Poesie des Eigenheims mit freundlicheren Schöpfungen der Baukunst entgegen kommen? Hoffen dürfen wir’s, denn gerade in dieser Richtung bewegt sich jetzt – der Wandel der Zeiten.




Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0332.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)