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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

zweiten Akt. Neue Dekorationen, andere Personen! Nach der dritten Scene, in welcher eine Kammerzofe mit sich selbst sprach, als ob das ihre tägliche Gewohnheit sei, und dabei mit einem Staubwedel über die unmöglichsten Gegenstände wischte, erschien abermals die junge Naive auf der Bühne. Lustig kam sie hereingehüpft, plauderte ein wenig und warf schelmische Blicke in die Logen. Dann wandte sie sich befehlend an die Zofe: „Gehen Sie, Lina, und sagen Sie meiner Schwester, ich müsse sie sofort sprechen!“, worauf sich die andere entfernte, um ihren Auftrag auszuführen. Im Publikum wurde eine Bewegung bemerkbar; man zog den Zettel zu Rat. Die erste Liebhaberin mußte jetzt auftreten. Der Direktor hatte in seinen Kreisen ganz enthusiastisch von ihrem Talent geschwärmt. Na, man würde ja sehen! Die Leinwandthür der ersten Coulisse wurde geöffnet, die Operngläser flogen an die Augen. Eine junge Dame trat rasch auf die Bühne und begann sogleich zu sprechen. Ihre Stimme klang weich und angenehm, die vollkommen natürliche Betonung erwies ihre Befähigung für das Konversationsstück. Sie befand sich in Balltoilette. Nach einigen flüchtig gewechselten Reden zeigte sie auf ihr Kleid mit den Worten: „Es ist zu dem morgigen Ball, Grete; ich möchte recht schön sein! Sage mir aufrichtig, wie sehe ich aus?“

„Scheußlich, einfach scheußlich!“ tönte es da halblaut geflüstert, aber deutlich aus der Prosceniumsloge über die Bühne und die ersten Parkettreihen hin.

Die muntere Liebhaberin verlor für eine Sekunde die Fassung, dann sprach sie resolut weiter. In das Antlitz der Beleidigten stieg es heiß unter der Schminke empor. Der Fächer entfiel ihrer zitternden Hand. Mit einem unsagbar traurigen, hilflosen Ausdruck richtete sie ihre Augen nach der Loge. Der den Eckplatz inne hatte, mußte das grausame Urteil gesprochen haben, man las es an seinem Gesichtsausdruck. Langsam wandte sie sich ab und spielte ihre Scene mühsam zu Ende.

Wahrhaftig, sie war nicht schön! Wenigstens beim ersten Anblick nicht. Eine große, schlanke Gestalt in einer Toilette, die zum Unglück ihren überzarten Wuchs erst recht auffällig machte. Auch das längliche, schmale Gesicht mit der gut geformten, aber großen Nase und dem nicht allzukleinen Mund machte beim ersten Anblick einen beinahe unschönen Eindruck. Nur wenn sie die Augen aufschlug, große, dunkle Kinderaugen mit einem warmen, zärtlichen Blick, war sie plötzlich eine andere, lieblichere.

Und wie sie spielte! Der Direktor hatte recht, sie war eine Künstlerin. Als sie abging, ertönte Applaus, der von den ersten Parkettreihen ausging. Sie verbeugte sich flüchtig und warf einen finsteren Blick ins Publikum. Als der Freche sie beleidigte, hatten sie da vorne leise gelacht – sie hatte es wohl gehört. Es war ihr wie ein Dolchstoß gewesen, dieses erbarmungslose Lachen über eine Roheit, einem wehrlosen Weibe gegenüber. Als der Applaus anhielt, mußte sie, so schwer es ihr ward, noch einmal heraustreten. Sie dankte kaum für den Beifall und trat sofort wieder zurück. Hinter dem Prospekt war es still und einsam. Die Schauspieler, welche aufzutreten hatten, standen in den Seitencoulissen, auf ihr Stichwort lauschend. Sie drückte ihre Hände krampfhaft gegen die Schläfe, auf die brennenden Augen. Plötzlich machte sie eine heftig abwehrende Bewegung, als weise sie etwas Quälendes von sich. Es mußten wohl ihre eigenen Gedanken sein, denn sie sagte laut: „Nicht jetzt!“

Wie sie so stand und vor sich hinstarrte, kam von links her der Direktor und ging schnellen Schrittes nach der andern Seite. Ein kurzer, kalter Blick streifte sie. Für sie hatte er kein freundliches Wort wie für ihre Kollegin, die Naive. Sie wußte, was das am ersten Abend zu bedeuten hatte: in zwei Wochen, nach der vertragsmäßigen Frist, war sie entlassen. Und nun hielt sie nicht mehr stand. Ein heißer Strom schoß in die traurigen Augen, ein kurzes, heftiges Schluchzen erschütterte den zarten Körper. Aber nicht lange! Nicht einmal die Wohlthat der Thränen durfte sie sich gönnen. Um Gotteswillen, die Schminke! – Vorsichtig drückte sie das Tuch gegen die nassen Wangen.




Das Theater war aus. Das Stück und auch der größte Teil der Schauspieler hatten gefallen; das Publikum entfernte sich angeregt und befriedigt. Langsam schoben sich die Leute aus den verschiedenen Thüren, stießen im Vorraum, welcher die Garderobe enthielt, wieder zusammen, kämpften da mit einer aller guten Lebensart hohnsprechenden Rücksichtslosigkeit um ihre Kleider und drängten sich dann gemeinsam durch das Hauptportal, mit einer Hast, als versäumte jeder einzelne etwas ungeheuer Wichtiges.

Nicht alle hatten es aber so eilig. In einer geschützten Ecke des Vestibüls stand eine Gruppe von Menschen in lebhafter Unterhaltung. Die kleine, distinguiert aussehende Gesellschaft sprach über den Vorfall, der ja fast allgemein bemerkt worden war. Die Herren zuckten die Achseln. Man sei an derbe Rücksichtslosigkeiten ja bei Schindler schon gewöhnt, immerhin sei es ein starkes Stück, was er heute abend geleistet habe. Sich der beleidigten Schauspielerin besonders anzunehmen, fiel keinem ein; im Grunde hatte ja Schindler nicht so unrecht mit seiner Kritik: reizlos war das Mädchen, darüber bestand kein Zweifel. So schickte man sich bereits zum Auseinandergehen an, und ein pensionierter Hauptmann, Herr von Schmidtlein, that die abschließende Aeußerung: „Außerdem – diese Schauspielerinnen sind an dergleichen gewöhnt!“

Er hielt gerade seiner Gattin den Mantel hin und war erstaunt, als diese, statt hineinzufahren, sich erregt zu ihm umdrehte.

„Du sollst nicht so gedankenlos reden, Otto!“ sagte die Dame, ihre gescheiten, grauen Augen auf seine kleinen, gutmütigen heftend. „Erstens sind Schauspielerinnen so etwas durchaus nicht gewöhnt; auch war es eine Taktlosigkeit an sich, und dann hatte das Mädchen so traurige Augen und sah so unglücklich aus. Mir hat sie leid gethan; aber Ihr Männer habt ja kein Herz. Ja, ja, kein Herz!“ wiederholte sie unverzagt in das Lachen der Zunächststehenden hinein. „Und wenn ich den Schindler sehe, werde ich ihm den roten Kopf waschen, darauf kannst Du Dich verlassen!“

Blonden Kopf, ich muß sehr bitten, blonden, meine Gnädigste!“ ertönte es plötzlich hinter ihr.

Sie wendete sich hastig um. Herr von Schindler begrüßte sie mit überlegenem Lächeln.

„So, da sind Sie!“ sagte sie ohne alle Verlegenheit. „Na, da will ich Ihnen also ebenfalls vor versammeltem Publikum sagen, daß Sie selbst heute ‚scheußlich‘ waren.“

„Das bin ich leider immer, Gnädigste.“

„Wenn Ihnen das für Ihre Person Vergnügen macht, wird niemand etwas dagegen haben. Aber ein armes wehrloses Mädchen zu beleidigen, Herr von Schindler, ihr ein solches Wort ins Gesicht zu schleudern –“

„Ins Gesicht? … Das kann sie ja gar nicht gehört haben, höchstens die Nächstsitzenden ...“

„Sie hat es gehört, darauf verlassen Sie sich nur ganz sicher. Man sah ja, wie sie zusammenschreckte. Und was soll das arme Ding dagegen machen? Ein Mann könnte sich Genugthuung verschaffen, aber so ein Mädchen! Die wird heute abend in ihrer Stube sitzen und weinen mit ihren prächtigen Augen –“

„Nicht wahr, prächtige Augen!“ unterbrach sie Herr von Schindler ganz unbefangen.

„Ja gewiß,“ fuhr die Dame erbittert fort, „die hat sie! Und daß Sie das jetzt in so entzücktem Tone zugeben, finde ich, offen gestanden, höchst merkwürdig!“

„Genug, Fanny,“ mahnte ihr Gatte halblaut, worauf sie plötzlich innehielt und ihn ansah.

„Wir wollen gehen, komm!“ Er drehte sie dabei mit sanftem Drucke der übrigen Gesellschaft zu und begann, sich von den Anwesenden zu verabschieden. Seine Frau wurde dunkelrot, wodurch ihr großes, energisches Gesicht einen fast kindlichen Ansdruck bekam, und folgte sofort seinem Beispiele.

„Sie sehen, er ist ein Tyrann,“ sagte sie lächelnd, „aber man muß sich fügen!“ Und zu Herrn von Schindler gewendet, setzte sie hinzu: „Wenn mein Mann einmal nicht dabei ist, kommt die Fortsetzung, Sie grausamer Mensch!“

Hierauf rasches Händeschütteln, Gutenachtrufen, noch eine letzte Verbeugung, und die Gruppe löste sich auf.

Das Ehepaar Schmidtlein hatte noch keine zwanzig Schritte in der nächtlichen Straße zurückgelegt, als ein rascher Schritt sie einholte und eine wohlbekannte Stimme sagte: „Wir haben denselben Weg. Gestatten die Herrschaften, daß ich nebenherlaufe?“

„Wie ceremoniös!“ lachte der Hauptmann. „Das ist man ja gar nicht von Ihnen gewohnt, Schindler!“

Frau Fanny unterdrückte eine in gleicher Richtung gehende, aber weniger harmlose Bemerkung und schritt, scheinbar ohne auf den Begleiter zu achten, gemütsruhig am Arme des Gatten dahin. Es gab eine kleine Stille, plötzlich sagte er: „Gnädige Frau!“

„Herr von Schindler?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0338.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)