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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

für die Kaiserin-Mutter. Oben auf dem Podium standen um die kaiserlichen Herrschaften die sämtlichen Fürstlichkeiten und die ersten Vertreter der kaiserlichen Macht, die auch nebst mehreren Offizieren der Chevaliergarde die beiden Seiten der Stufen besetzt hielten, während an letzteren bis zum Allerheiligsten längs des schmalen Ganges die Geistlichen Aufstellung genommen hatten.

Nicht weniger als drei Stunden nahmen die umständlichen, durch die Tradition festgesetzten Krönungsceremonien in Anspruch, von denen hier nur die feierlichsten Augenblicke hervorgehoben seien. Nachdem der Kaiser sich die vom Petersburger Metropoliten gesegnete Krone auf das Haupt gesetzt und den Krönungsmantel umgethan, kniete die Kaiserin vor ihm nieder, und ihr Gemahl setzte ihr die kleine Kaiserinnenkrone auf das Haupt, zog sie zu sich empor und drückte ihr einen Kuß auf die Wange – eine Scene von rührender Innigkeit. Nicht weniger ergreifend war es, als der Kaiser niederkniete und mit bewegter Stimme den Höchsten anflehte, ihn für sein verantwortungsvolles Amt mit Kraft und Gnade zu erfüllen: „Mein Herz lege ich in Deine Hand, damit sie mich lenkt, alles zum Besten der mir anvertrauten Menschen und zu Deiner Verherrlichung zu verrichten, daß ich Dir am Tage des jüngsten Gerichts ohne Scham Rechenschaft über meine Thätigkeit ablegen kann.“ Hierauf fielen sämtliche Anwesende auf die Kniee und beteten für das Wohl des Kaisers, an welchem kurz danach unter Glockenklang und dem von draußen hereintönenden Donner der Geschütze die Salbung vor dem Allerheiligsten durch den Petersburger Metropoliten vorgenommen wurde. Derselbe bestrich unter den Worten: „Das ist das Zeichen des Heiligen Geistes“ mit dem Salböl die Stirn, Augen, Nasenlöcher, Lippen, Brust und Hände des Herrschers und salbte dann auch die Stirn der Kaiserin. War das alles von getragenem Ernst und hoher Feierlichkeit, so berührte rein menschlich die Beglückwünschung des Kaiserpaares durch die nächsten Familienangehörigen und die übrigen Fürstlichkeiten, die meist durch Umarmung und Kuß stattfand und mit welcher die Ceremonie in dieser Kathedrale schloß. Denn von ihr aus begab sich noch das Kaiserpaar zu den bereits erwähnten beiden anderen Kremlkirchen, der Archangel- und der Verkündigungskirche, um den in denselben aufbewahrten Heiligenbildern seine Verehrung zu bezeigen.

Der Kaiser begiebt sich nach der Krönung in die Archangelkirche.
Nach einer photographischen Aufnahme.

Der Weg zu denselben wurde außerhalb des inneren Kremlhofes genommen, wo sich links vor den spalierbildenden Truppen mehrere Tribünen erhoben, rechts aber sich enggescharte Volksmengen drängten, die das Kaiserpaar mit frohlockendem Jubel begrüßten. Militär, Hofbeamte und hohe Geistliche eröffneten den Zug; unser Bild läßt einen der Metropoliten mit zwei leuchtertragenden Diakonen erkennen. Der Kaiser schritt ernsten Angesichts unter dem Thronhimmel, er trug den goldbrokatenen hermelingefütterten Krönungsmantel mit dem Hermelinkragen, der von zwei der ersten Hofbeamten gestützt wurde – einer alten Ueberlieferung gemäß, da sich die früheren Zaren öffentlich nie ohne zwei Bojaren zeigten – während andere die Schleppe hielten; auf dem Haupte des Herrschers thronte die zweiteilige, das west- und oströmische Reich versinnbildlichende Krone, in der rechten Hand hielt er das Scepter, in der linken den Reichsapfel. Ihm folgte unter dem Baldachin die Kaiserin, gleichfalls mit dem Krönungsmantel und der Krone geschmückt, die lieblichen Züge zart gerötet. Nach dem Besuche der beiden Kathedralen kehrte das Kaiserpaar in das Palais zurück; orkanartig, ihr stürmisches Echo bei den sich außerhalb des Kremls stauenden Volksmassen findend, erschollen Hoch- und Hurrarufe, als sich Zar und Zarin auf der obersten Terrasse der Roten Treppe dreimal freundlich verneigten im goldigen Schein der Frühlingssonne, welcher die kronengeschmückten Häupter des Kaisers und der Kaiserin wie mit einer goldgesponnenen Aureole umgab.

Am Abend aber erglühte ganz Moskau, wie am Einzugstage, in einem strahlenden Flammengewande, dessen herrlichstes und stolzestes Schmuckstück der Kreml bildete. Hunderttausende weißer und bunter Flämmchen umrankten seine Zinnen und Mauern, kletterten an den Türmen hinauf und umspannen sie an ihren Galerien, ihren Fenstern, ihren Erkern bis zur höchsten Spitze mit einem glühenden Schleier; als wäre ein Sternenmeer auf sie herniedergefallen, so schimmerten die von unzähligen elektrischen Flammen besäten goldenen Kuppeln des Glockenturms Iwan Welikij und ließen die Kuppeln der benachbarten Kathedralen wie aus flüssigem Erz erscheinen.…

Leider – leider haben diese großartigen Freudenfeste einen ungetrübten Abschluß nicht finden können. Am 30. Mai sollte auf dem Chodynskifelde die herkömmliche Verteilung der Gaben unter das Volk stattfinden; auf Hunderttausende waren dabei die Menschenmassen angewachsen und in dem furchtbaren Gedränge fanden über zweitausend Menschen einen jammervollen Tod. Es möge uns erspart bleiben, diese schreckliche Katastrophe ausführlich zu schildern. Wie ein tiefer Schatten fiel sie auf den sonnigen Festjubel – fürwahr, eine bittere Fügung des Schicksals, das nur zu oft auf Erden die Trauer zur Begleiterin der Freude macht!


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0427.jpg&oldid=- (Version vom 13.7.2023)