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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Einer aber war unter der Gesellschaft, der sah nicht drüber weg. Der kleine Fredy, der nach seiner schüchternen Art mit seinem neuen Freund ein etwas einsilbiges Gespräch geführt und währenddessen mit seinen forschenden Kinderaugen die Landschaft gemustert hatte, stürzte plötzlich mit dem aufgeregten Jubelruf: „Mama, Mama, da ist Onkel Hugo! Da kommt Onkel Hugo!“ auf seine Mutter zu. Ungestüm stieß er den weißen Spitzenschirm beiseite und faßte seine Mama bei beiden Händen, um sie von der Bank emporzuziehen.

„Wer kommt?“ – „Wen hat er gesehen?“ – „Meint er den Herrn, der dort vom Dorf in die Höhe kommt?“ – „Kennen Sie ihn?“ – „Na, der Junge scheint sich aber unbändig zu freuen!“ Solche Ausrufe wurden rechts und links hörbar, indessen sich Frau Hildegard verwirrt erhob und, unbewußt widerstrebend, sich von Fredy mit fortziehen ließ.

„Wer ist das, meine Gnädige?“ fragte Trutzberg stirnrunzelnd, dicht neben der jungen Witwe bleibend – er war nicht gewillt, seinen Posten aufzugeben. „Fredy ist ja ganz aus dem Häuschen, so hab’ ich ihn noch nie gesehen. Teilen Sie etwa sein Entzücken über diesen vielbejubelten Onkel Hugo?“

Er sprach ganz leise in sie hinein, daß nur sie ihn verstand, und seine Stimme klang zornig; sie, die junge Frau, hörte die helle Eifersucht heraus. Zornig war er auch wirklich, aber nur darüber, daß jetzt, da er eben alles so schön „im Zuge“ gehabt, irgend ein Störenfried des Weges daher kam, der ihn in seinem Siegeslauf möglicherweise aufhielt. Im Ernst eifersüchtig zu sein, fiel ihm nicht ein.

„Herr Haßler, mein – mein – meines verstorbenen Mannes bester Freund, mein Gutsnachbar und Fredys Vormund,“ sagte sie hastig und gepreßt, „ich habe Ihnen wohl schon von ihm gesprochen.“

„Möglich! Ich erinnere mich nicht!“ entgegnete er ablehnend. „Und dieser Herr kommt Ihnen ganz unerwartet?“

„Ich – ja – in der That! Ich hatte keine … freilich hab’ ich ihm auf seinen Brief“ – Hildegard verwirrte sich immer mehr. An dem Brief, den sie heute vormittag unter der Feder gehabt, schrieb sie bereits den dritten Tag, und es war doch eine wichtige geschäftliche Angelegenheit, um die es sich handelte!

„Nun komm aber doch!“ Fredys kleine Hände zerrten an seiner Mama Kleiderfalten. „Nun komm doch mit mir ihm entgegen! Freust Du Dich denn gar nicht über Onkel Hugo?“

Die unschuldige Frage aus Kindermund tönte ihr wie eine schwere Anklage im Herzen wieder. Wirklich freute sie sich denn nicht? Hundertmal hatte sie es gedacht und dem treuen Freunde gesagt: „Was wäre ich ohne Sie? Was finge ich mit Fredy an, wenn ich Sie nicht hätte?“ Und nun – blieb wirklich alles still in ihr? Kam weiter nichts in ihrem Innern zu Wort als der heiße Schreck: „Was wird er denken? Was wird er sagen?“ Mechanisch ließ sie sich von Fredy weiterziehen, mechanisch beantwortete sie die durcheinander schwirrenden Fragen, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Der Ankömmling war jetzt schon so nahe, daß er die einzelnen Gesichter dort auf der Anhöhe gut unterscheiden konnte – er bog etwas den Kopf zurück, spähte scharf durch die Brille in die Höhe und hob grüßend den Hut. Es war ein sehr glückliches Lächeln, was jetzt auf seinem Gesicht erschien – er hatte die eine herausgefunden, die ihm nie zu unscheinbar oder zu unelegant erschienen war, von der er nie gedacht, wie sie sich wohl neben ihm ausnehmen werde, deren Kind er nie als unbequeme Beigabe angesehen, deren Eigentum er keinen Augenblick zum Gegenstand seiner Spekulation gemacht hatte. Unter all den neuen, gleichgültigen Gesichtern dies eine, dies wohlbekannte, dies liebe – und daneben Fredy, der ihm mit offenen Armen entgegenläuft, sich von ihm auffangen, in die Höhe heben und herzhaft abküssen läßt und sich fest um seinen Hals klammert. „Onkel Hugo! Mein Onkel Hugo!“

Er will den Jungen auf die Erde setzen, um die Hände zur Begrüßung frei zu bekommen, aber das sonst so wenig demonstrative Kind, das bei jeder Gelegenheit fragt, „ob auch keiner zusieht“, läßt seinen lieben Onkel nicht los, und so, Fredy auf dem Arm, lachend und glücklich, tritt er vor Fredys Mutter.

„Da bin ich, meine verehrte Freundin! Die Antwort auf meinen Brief blieb mir gar zu lange aus, und da doch die Sache einigermaßen wichtig ist, ich auch daheim nichts Wesentliches jetzt versäume, so bin ich kurz entschlossen hierhergekommen, um die Angelegenheit selbst mit Ihnen durchzusprechen.“

„Und wo fanden Sie – wie fanden Sie hierher?“

„Das ist doch so einfach! Im Hotel wußte man Ihr Logis, und in Ihrem Logis wußte man, wohin Sie heute gegangen waren, und hat mich Ihnen nachgeschickt.“

Es entgeht ihm nicht, daß sie, um derentwillen er gekommen ist, sichtlich verlegen aussieht – er kennt ihr Gesicht zu gut. Ist es nur die Anwesenheit der vielen fremden Menschen, die sie beengt, oder – oder – kann es sein – daß er, ihr nächster, treuester, ihr einziger Freund, er, der sicher hoffte, ihr sobald noch weit mehr zu werden … daß er ihr ungelegen kommt?

Ganz flüchtig schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, gleich darauf schiebt er ihn weit von sich und schilt mit sich selbst, daß er ihr unrecht gethan. In einem Verhältnis, wie das ihre es ist, bleibt ein so konventioneller Begriff, wie „gelegen“ oder „ungelegen“ absolut ausgeschlossen!

„Fredy, laß Dich auf die Erde setzen! Sofort! Du belästigst den Onkel!“

„Sie wissen, daß das nicht der Fall ist, Frau Hildegard. Federleicht ist er noch immer, der kleine Kerl, aber es will mir scheinen, als wär’ er voller im Gesicht geworden, und eine viel bessere Farbe hat er entschieden bekommen!“

Mit liebevollem Anteil mustert er Fredys Gesicht, während er ihn sorgsam zu Boden gleiten läßt.

„Sie gestatten, daß ich Sie mit den Herrschaften bekannt mache! Herr Gutsbesitzer Haßler, der beste Freund meines verstorbenen Gatten – Herr Staatsanwalt Möller und Frau Gemahlin – Herr Oberlehrer Grün und Fräulein Schwester.“

Die Hüte fliegen, die Kleider rascheln – Verbeugungen hier, Verbeugungen dort. Es dauert natürlich eine ganze Weile, aber es geht ganz fließend. Dann ein Stocken in ihrer Stimme: „Herr Lieutenant Baron von Trutzberg!“

Der schöne Aristokrat und der unscheinbare Bürgerliche im schlichten Reiseanzug messen einander mit den Blicken. Trutzberg ist verstimmt und hat dessen gar kein Hehl; sich zu beherrschen, das hält er nur im Dienste allenfalls für angezeigt, im übrigen hat er’s ja nicht nötig! Die vertrauliche Anrede: „Verehrte Freundin!“ – und dann: „Frau Hildegard!“ hat ihm wenig gefallen, und nun hängt auch noch das Schoßpüppchen, der verzogene Bengel, dieser Fredy, wie eine Klette an dem hereingeschneiten Onkel, läßt seine Hand nicht los, sieht immer wieder mit strahlendem Blick zu ihm auf … eine Rolle wird dieser „Freund“ hier spielen, das ist ohne Zweifel, und ob er ihm, dem verwöhnten adligen Offizier, gutwillig die Hauptrolle überlassen wird, das scheint nun doch die Frage!

Herr Gutsbesitzer Haßler wird im übrigen von der Gesellschaft freundlich bewillkommnet und von dem heutigen Plan verständigt; man habe nach den Klippen gehen wollen, das sei jetzt etwa noch eine Stunde Weges, aber ein sehr hübscher Weg, wenn freilich auch nicht ohne Beschwerde – hoffentlich werde Herr Haßler sich anschließen, wenn er nicht gar zu müde sei!

„Ach, Onkel Hugo – der ist nie müde, der kann um Vier aufstehen und kann den ganzen Vormittag auf seinem wilden Fuchs auf den Feldern herumreiten, und dann macht es ihm noch gar nichts! Onkel Hugo, und wenn Du nicht mitkommst zu den Klippen, dann geh’ ich natürlich auch nicht und ich bleib’ wo Du bleibst!“

Fredy giebt diese Erklärung vor der ganzen Gesellschaft laut, mit unerschrockenem Mut, ab – es ist, als ob Onkel Hugos Erscheinen sein Selbstbewußtsein außerordentlich gehoben habe.

Man setzt sich von neuem in Bewegung, und wie dies ganz natürlich ist, arrangiert man den Zug so, daß Frau Bingen mit ihrem Freunde ein paar vertrauliche Worte zu wechseln vermag.

„Sagen Sie mir, Frau Hildegard, warum beantworteten Sie mir meinen Brief nicht umgehend, wie ich Sie doch bat? Vor all den Fremden mochte ich es nicht aussprechen, aber ich fürchtete schon, Sie könnten erkrankt sein, und es ließ mir daher keine Ruhe zu Hause. Sie sind ja sonst die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit in Person, und schließlich war die Sache wichtig genug; es ist doch ein stattlicher Posten Geld, um den es sich handelt!“

Unter seinem besorgt forschenden Blick errötete sie. Mechanisch spielten ihre Hände mit einem Sträußchen Waldblumen, das sie im Gürtel trug. Trutzberg hatte es ihr gepflückt.

„Geh zu den Kindern, Fredy!“ sagte sie in freundlichem, aber bestimmtem Ton. „Du darfst nicht immer unter Großen sein und alles mit anhören.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0495.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2022)