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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

für Touristen, die von der Gemeinde Alt-Walddorf erbaute Restauration „Zur Gemse“.

Doch verlassen wir jetzt den Flußlauf, um die höheren Bergpartien aufzusuchen. Bald haben wir die Krummholzregion hinter uns gelassen, nur spärliches Gras oder Alpenpflanzen decken hier und da noch das Gestein, das, in unzählige Zacken verlaufend, in schroffen Wänden sich gleichsam abschließt vor der Annäherung des Menschen. Die erste Besteigung mag der Schlagendorfer Spitze gelten wegen des überwältigenden Rundblicks, den man von dort genießt. 2473 m erhebt sich der Rücken dieses in verschiedene Seitenäste auslaufenden Berges. Seine Ersteigung ist nicht gerade eine besondere hochtouristische Leistung, aber es geht vielfach steil aufwärts und durch schotterbedeckte Schluchten. Jedenfalls ist der Besuch der Mühe wert. Oestlich erblickt man die sich am Kohlbachufer entlang ziehenden schroffen Maukschabstürze und darüber hinweg das offene Land bis nach Galizien hinein; ringsum zahlreiche Seen – man zählt ihrer von der Spitze aus etwa 20 – die Eisthaler und die Lomnitzer Spitze im Norden und Nordosten, dann westlich die Gerlsdorfer, die Tatra- und Meeraugspitze und südwärts über die niedrigen Kuppen und Zacken hinweg einen Teil der oberen Liptau. In die Bergeinsamkeit da oben ist das Geräusch des öffentlichen Lebens noch nicht gedrungen, weder der Klang eines Posthornes noch der Pfiff der Lokomotive wecken hier das Echo, ja manche der in die Wolken ragenden Felsspitzen, wie die „Warze“, hat noch nie ein menschlicher Fuß betreten; das pflanzliche Leben ist fast ganz erstorben, in dem Gestein haust nur das Murmeltier und die Alpenfauna.

Aussicht von der Schlagendorfer Spitze.

In westlicher Richtung verläuft die Schlagendorfer Spitze in den um 300 m niedrigern Polnischen Kamm. Ein kaum 2 m breiter, nach beiden Seiten steil abfallender Felsgrat bietet dem Touristen den nicht immer unbedenklichen Pfad. Auf- und Abstieg sind beschwerlich. Hier sind wir schon so recht im Gebiete der Bergseen, welche der Hohen Tatra ein so charakteristisches Gepräge verleihen. Das Gebirge enthält ihrer weit über hundert, und zwar auch solche von größerer Ausdehnung – bis zu 34 Hektaren Flächenraum. Ihre Tiefe reicht bis zu 40 ja bis 77 und 78 m. Sie sind meist durch sogenannte Seewände gebildet worden, Barrieren, welche die Thäler durchqueren und so das von den Höhen kommende Schmelzwasser sammeln. Man hält die Seen, von den Deutschen auch Meeraugen genannt, für Folgeerscheinungen der diluvialen Vergletscherung der Karpathen, die sich auch sonst, durch Felsenschliffe sowie durch Seiten- und Stirnmoränen, noch vielfach in Erinnerung bringt. Unsere Illustration auf S. 609 zeigt den 1494 m hoch gelegenen Schwarzen See. Schwarzer, weißer, grüner und roter Seen giebt es übrigens im Tatragebiet mehrere, insbesondere ist bei der Benennung die grüne Farbe, die allerdings den meisten dieser Seen eigen ist, mit Vorliebe angewandt.

Den Mittelpunkt der Centralkarpathen bilden zwei respektable Erhebungen, die Tatra- und die Meeraugspitze, letztere vorzeitig schon der ungarische Rigi genannt. Beide überragen die Höhe von 2500 m.

Mit einem Blick auf diese Kerntruppen nehmen wir Abschied von der Hohen Tatra und wählen zu unserm Scheideblick als Standpunkt das Mengsdorfer Thal, das man mit Recht eines der großartigsten Thäler der ganzen Tatra nennt. Nicht nur wegen seiner räumlichen Ausdehnung, sondern auch wegen der wahrhaft großartigen Gebirgsbilder, die es dem Auge entrollt, verdient es diese Bezeichnung. Selbst in saftiges Grün gekleidet, öffnet es die Fernsicht auf die mit Eis und Schnee bedeckte, dem Wechsel der Jahreszeiten entrückte Region des Hochgebirges.

Es erübrigt uns, zum Schlusse noch einiges über die Bewohner des Tatragebietes zu sagen. Im Gebirge selbst giebt es wenige und nur sehr kleine Ansiedelungen, aber an seinem Fuße begegnen sich nicht weniger als sechs in ihrer Eigenart ausgeprägte Volksstämme, unter denen ein Wettbewerb besteht, der, wie es unsere Zeit der nationalen Leidenschaftlichkeit nun einmal mit sich bringt, neben manchen berechtigten und erfreulichen Erscheinungen auch viele unschöne zeitigt. Westlich von dem Centralgebirge wohnen die Slovaken und die polnischen Goralen, nördlich die Mazuren, nordöstlich grenzen, ihre Vorposten über den Zdzewer Paß hereinschiebend die Ruthenen bis zur Javorinka. Im Osten liegt des Gebiet der Zipser Deutschen, eine Sprachinsel wackerer

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0607.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2022)