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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

nicht seines Amtes. Doch muß er denken: Welches Elend! und: Ich lass’ ihn laufen!

Da knallt ein Schuß und gleich darauf ein zweiter … Der Oberförster ist im Wald, jagt an der Wolitzer Lehne. Daß er herüber kommt, hat keine Wahrscheinlichkeit, aber schon das Bewußtsein: Er ist im Wald! fährt einem in die Glieder … Slamek kriegt plötzlich ein Rückgrat von Eisen, wird ein Mann der Pflicht vom Wirbel bis zur Sohle. Es sind scharfe Weisungen erteilt worden, und ein paarmal schon hat Slameks nächster Vorgesetzter ihn lau im Dienst genannt. So bückt er sich denn, nimmt den Hafen, hebt ihn hoch, schleudert ihn mit aller Gewalt zur Erde und tritt dann auf die Scherben. – „Merk’ dir’s,“ sagt er.

Der Junge hat aufgestöhnt: „Herr Jäger, Herr Jäger, ich hab’ Ihnen keinen Schaden gemacht!“

Der Jäger brummt etwas Unverständliches in seinen zerzausten und schütteren Bart hinein und geht seiner Wege.

Franzko hockt regungslos auf dem Boden. Ganz starr betrachtet er die Scherben, die vor ihm liegen.

Wie ein greller Blitz schießt es ihm durch den Kopf. Die Hexe! … Was wird die Hexe sagen, wenn sie am Abend ihren Hafen auf dem Bort vermißt?

Alles andere, sein Schmerz über Milenkas Verrat, seine Freude über sein Finderglück, die Wonne des auflebenden Mutes, alles vergessen – alles verschlungen von einem entsetzlichen Gefühl: – Todesangst! Was wird die Hexe sagen? Wer ihr ihren Hafen genommen hat, weiß sie natürlich gleich, dafür ist sie eine Hexe. Herrgott im Himmel! am Ende weiß sie es jetzt schon, macht sich auf … Herrgott, wenn der Jäger die Scherben wenigstens nicht zertreten hätte, der Hafen wäre vielleicht zu reparieren gewesen!

Auf einmal raschelt’s – ein Wiesel? ein Erdzeisel? über den abgehauenen Baumstamm mit den vielen Wurzeltrieben ist etwas hingelaufen. Kleine Augen haben Franzko aus dem Laube angeglänzt … Die Hexe kann allerlei Gestalten annehmen. O! o! Er sprang auf. Ein Vogel, ein großer schwarzer, ist aufgeflogen – das wird sie sein! Seine Haare sträuben sich – jetzt wird es ihm gehen, wie es Milenka gegangen ist. Er besinnt sich ganz deutlich, die Hexe hat den Besen nicht nach Milenka geworfen, sie selbst ist über Milenka hergeflogen und rittlings auf dem Besen gesessen, hatte ihre dunklen Beine vorgestreckt und mit den Krallen an ihren Zehen Milenkas Haare gefaßt … Und Milenka hat geschrieen: „Jesus, Maria!“ und ist ihr entwischt. Vielleicht entwischt auch er, wenn auch er ruft: „Jesus, Maria!“ Maria – wie er den heiligen Namen ausspricht, da fällt ihm ein: beim Muttergottesbild oben an der großen Eiche, da fände er Heil. In die Nähe der Muttergottes wagt eine Hexe sich nicht. Nur hinkommen, hinkommen bis zu der großen Eiche, das müßte man! Franzko rennt so rasch er nur kann den steilen Weg aufwärts und keucht und betet: „Lieber Gott, hilf, mach’ sie tot, die Hexe, daß sie mich nicht packen kann … Ihr Heiligen, all ihr lieben, guten, thut ein Wunder, gebt ihr ihren Topf zurück! Heilige Maria, Mutter des kleinen Jesuskindleins, Du hast die Kinder gern, gieb mir Kraft, gieb mir Atem, daß ich laufen kann bis zu Dir!“

Und jetzt ist ihm, als ob er lachen hörte. Sein kurzer Fuß versagt plötzlich den Dienst, will nicht mehr mit. Franzko hüpft nur noch in kleinen Sätzen. Die Hexe hat ihn, spielt mit ihm wie die Katze mit der Maus. Sie ist hinter ihm, über ihm, neben ihm, streckt den Hals, ihre runzlige Wange streift seinen Arm, und sie blickt ihm von unten hinauf ins Gesicht. Und die Totenhand greift nach ihm, er fühlt sie eisig kalt im Genick. O die Nägel! … die Nägel stechen ihn in den Rücken … Der Schlangenkopf ist auch da, rollt ihm vor die Füße … züngelt nach ihm …

Weiter, weiter mit Schaudern, Stöhnen, Weinen …

Die Sonne steht im Scheitel, dunkel ragt der Wald vor dem weißglühenden Horizont, und einzelne Lichtstrahlen zittern durchs Laub … O gnädiges Licht! Es hat die Eiche getroffen. Es gleitet über ihren Stamm. Er sieht das heilige Bild. Der glänzende Schein um das Haupt der Gebenedeiten leuchtet ihm Trost und Erbarmen ins verzweifelnde Herz. Und das himmlisch holde Angesicht lächelt! … Da bin ich, komm zu mir!

Eine höchste, letzte Anstrengung. Franzko faltet die Hände und schreit auf.

Die Hexe hat ihr Aergstes gethan, sie hat ihm ihr Messer in die Brust gestoßen … Blutstropfen perlen auf seinen Lippen …

Aber einige Schritte nur noch, und er ist am Ziel. Die heilige Jungfrau neigt sich ihm zu, öffnet die Arme, breitet den blauen Mantel aus, und das Kind stürzt sich hinein, schmiegt sich in seine weichen Falten und betet, gerettet, erlöst: „Gegrüßet seist Du, Maria, Du bist voll der Gnaden.“

*  *  *

Milenka kam rechtzeitig heim, stellte den Hafen an seinen alten Platz, ging stolz ins Armenhaus und klimperte mit den kleinen Münzen in ihrer Tasche. Ihre erste Frage war nach Franzko.

„Ist der dumme Bub’ noch nicht da? Er hat sich gewiß erwischen lassen, und sie haben ihm den Topf zerschlagen, und jetzt traut er sich nicht nach Hause.“

Eine Weile wartete sie, dann ging sie ihn suchen.

Von weitem schon erblickte sie ihn. Er lag auf der Erde vor der großen Eiche.

„Fauler Schlingel!“ rief sie und eilte auf ihn zu und stieß mit ihrem Fuße gegen sein ausgestrecktes Bein: „Rühr’ dich!“ … Das Wort erstarb auf ihrer Zunge, schaudernd wich sie zurück. In die weitaufgerissenen Augen, mit denen sie ihn anstarrte, schoß es ihr brennend heiß. Der rührt sich nimmer, der ist tot. Sie wußte es gleich, sie ging ja von jeher jeden im Dorf Verstorbenen ansehn. Fast alle hatten einen friedlichen Ausdruck gehabt – keiner einen so still glückseligen. Von dem durchsichtig blassen Kindergesicht ihres kleinen Freundes ging ein förmliches Leuchten aus. Sein Kopf war im hohen, weichen Moose eingebettet wie auf einem roten Polster. Es waren aber nicht Erdbeeren, was den Boden färbte, es war Blut.


Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte.[1]

Von Dr. P. Schellhas.
Die Basken.

Eins der Merkmale, an denen sich die uralten, in unbekannte und vorgeschichtliche Zeiten zurückreichenden Beziehungen zwischen den Völkern der Erde erkennen und erforschen lassen, ist die Sprache. Das gesprochene Wort, so leicht und flüchtig es auch scheint, ist der Zeuge einer fernen Vergangenheit, es ist älter als alle anderen geschichtlichen Denkmäler, die der zerstörenden Zeit entgangen sind, es ist in gewissem Sinne dauerhafter als Marmor und Erz. Wenn es auch im Laufe der Jahrhunderte Wandlungen durchmacht, im Gesamtbilde der Sprache kommt doch die Kunde von Völkerbeziehungen auf uns, die in den Erinnerungen der Völker selbst längst verschollen und vergessen sind. Die Wissenschaft der vergleichenden Sprachforschung sucht diese Beziehungen zu ermitteln, und sie hat fast in allen Teilen der Erde nachgewiesen, wie die einzelnen Völker untereinander verwandt sind, und welche von ihnen zu Gruppen, zu Völkerfamilien zusammengehören, deren Sprachen nur Zweige eines großen gemeinsamen Stammes sind. So gilt das ja auch für Europa, und die Sprachengruppen unseres Erdteils und ihre Verwandtschaftsgrade sind im allgemeinen genau bekannt.

Wenn wir nun eine „Sprachenkarte“ Europas vornehmen, eine Landkarte, auf der die einzelnen zusammengehörigen Sprachengebiete durch verschiedene Farben bezeichnet sind, so finden wir im nordwestlichen Winkel Spaniens und in den nächsten Grenzgebieten Frankreichs, zu beiden Seiten am Fuße der Pyrenäen, einen Fleck, der mit besonderer Farbe bezeichnet ist. Am Rande der Karte sehen wir, daß diese Farbe eine „isolierte“ Sprache bedeutet, eine Sprache, die mit keiner anderen verwandt, in keiner Gruppe unterzubringen ist. Wir haben in der angedeuteten Gegend des südwestlichen Europas einen Volksstamm vor uns, dessen Sprache uns vor ein dunkles Gebiet der Menschheitsgeschichte stellt.

Es ist der Volksstamm der Basken, oder wie sie selbst sich nennen, der „Escualdunac“, der dort wohnt, und ihre Sprache ist das Baskische oder das „Escuara“. Mitten im Gebiete der romanischen


  1. Vergl. Nr. 24 des laufenden Jahrgangs.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 768. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0768.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2024)