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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

So war der September herangekommen. Mit einer häuslichen Arbeit beschäftigt, saß Lisbeth an einem Spätnachmittage im Wohnzimmer, als die Glocke der Hausthür anschlug. In der Annahme, daß ihre Mutter von dem Gange nach der neueinzurichtenden Suppenanstalt, auf welchem sie Excellenz begleitet hatte, zurückkehre, eilte sie hastig hinaus, um derselben die Thür zu öffnen. Aber wie erschrak sie, als statt dieser Frau Rektor Römer vor ihr stand, die noch niemals Lisbeth in ihrem Elternhause aufgesucht hatte.

„Lieschen, Kind – ich mußte Dich sprechen,“ sagte sie, und an dem zitternden Ton ihrer Stimme erkannte diese die große Erregung, in der die alte Dame sich befand. „Nimm Dir einen Mantel um und komm’ hinunter, wir gehen ein Stückchen zusammen!

Deine Frau Mutter wird mir die Eigenmächtigkeit verzeihen – es sind außergewöhnliche Umstände, die mich dazu zwingen.“

Und ohne sich weiter zu erklären, drehte sie sich um und stieg langsam die Treppe hinab, während Lisbeth mit zitternder Hast ihre häuslichen Bestimmungen traf, sich mit Hut und Mantel versah und Frau Römer nacheilte.

„Ich wußte mir keinen anderen Rat und keinen anderen Trost, Lieschen, als Dich,“ sagte die alte Frau und legte ihren Arm auf Lisbeth, sich so kräftig auf diesen stützend, als ob sie allein nicht weiter könnte.

„Wenn ich nach Hause ginge, sähe mein guter Mann es mir ja gleich an, wie es mir zu Mute ist.“

„Tante Römer,“ sagte Lisbeth, die völlig erblaßt war, „sprich schnell, halte nichts zurück, ich vergehe vor Angst – was ist’s mit Arnold?“

„Mit Arnold nein, Gott sei gedankt, er ist nicht der, um den ich zittere. Aber Gertrud – Lieschen!“

„Gertrud?“

Frau Römer nickte.

„Heute vormittag,“ berichtete sie, „war unser lieber Sanitätsrat bei uns, nachdem er gestern abend heimgekehrt war. Er ließ sich von Gertrud, während er immer mit dein Kinde spielte, von den einzelnen Erscheinungen ihres gegenwärtigen Zustandes erzählen, und da er so sehr unbesorgt that, ließ sie sich täuschen und erwähnte manchen Uebels, von dem ich noch nicht einmal wußte. Schließlich untersuchte und beklopfte er Brust und Rücken, und weil er wieder nichts sagte und nichts verordnete, fühlte sie dieses als die Bestätigung ihrer Annahme, daß sie ganz gesund und der Husten nur nervöser Natur sei, und war heiterer und zuversichtlicher als je. Aber mich quälte die Sorge, und eben komme ich von ihm und er hat mir schlankweg gesagt, daß sie – schwindsüchtig sei und wir unser Kind, wenn nicht ein Wunder geschieht, bald verlieren würden!“

„So wollen wir auf dieses Wunder hoffen!“ sagte Lisbeth und unterdrückte kraftvoll das Zittern, das durch ihren Körper lief.

„Ja, Lieschen, das liegt in der Menschennatur, die sich im Unglück an jeden Strohhalm klammert, aber trotzdem müssen wir unsere Seelen stark machen, um zu tragen, was Gott uns schicken mag! Der Sanitätsrat hat mir jede Hoffnung genommen, jede – letztes Stadium, sagte er und riet durchaus von dem Versuch ab, sie noch in ein Bad oder eine Kuranstalt zu schicken. ,Es nützt nichts,’ sagte er, ,es verzögert nicht einmal die Katastrophe – lassen Sie sie doch ahnungslos, lassen Sie sie doch diese Zeit, die ihr noch zu leben gegönnt ist, glücklich sein?“

„Tantchen, es ist nicht möglich, es kann nicht sein! Sich doch ihre Heiterkeit und ihre Geistesfrische! Auch bewährte Aerzte können irren, es sind doch auch Menschen – und hier irrt der Sanitätsrat gewiß!“

Frau Römer schüttelte den Kopf.

„Er hat mir ausgesprochen, was ich längst fürchtete,“ sagte sie, „ich beobachte sie doch unausgesetzt und sehe sie immer schwächer und matter werden. Wenn Du hinüber kommst oder wenn gar Arnold da ist, so ist es Erregung, die sie beherrscht, und welche sie anders und gesünder erscheinen läßt und euch täuscht. – Ach, Kind, was steht uns bevor! Ich kann es nicht ausdenken, wie ich meinen Mann darauf vorbereiten soll. Er liebt sein Trudchen doch so sehr, als wäre sie sein eigenes Kind, und keine Tochter kann ja auch liebevoller zu ihrem Vater sein, als sie es immer war. Ach, Lieschen, daß wir alten Leute dies erleben, daß wir dieses junge Leben vor uns hinwelken und vergehen sehen müssen! Und Arnold welche Fülle von Liebe für ihn geht mit ihr zu Grabe!

Welche Qual, ihr mit dieser Gewißheit noch ein heiteres Gesicht zeigen zu sollen! O, es ist furchtbar!“

Die alte Frau schluchzte laut auf und Lisbeth, in deren Augen ebenfalls Thränen standen, drückte ihr voll inniger Teilnahme die Hand. Endlich flüsterte sie: „Ach, Tante, liebe Tante, sei stark und sage vorerst Arnold und dem Onkel nichts! Gönne es ihnen, noch eine Weile sorgenlos zu sein – die Vorbereitung für das Kommende übernimmt das Schicksal selbst!“

„Ich weiß nicht, ob das anginge, Lieschen. Sieh’, dann müßte ich sie doch auch heimziehen lassen; sie möchte jetzt wieder nach Hause zurückkehren, und davon kann doch gar nicht die Rede sein. Begleiten kann ich sie nicht: mein Mann braucht mich ebenfalls notwendig. So schwer es mir wird, Arnold zu beunruhigen, etwas muß ich ihm sagen, damit er ihr zum Hierbleiben zuredet. Von ihm nimmt sie ja alles an! Meinem Manne gegenüber möchte ich freilich noch schweigen. Ihn wird das Unglück nicht unvorbereitet treffen, denn er war stets um sie nach dieser Richtung besorgt, und daß ihr Vater so jung an einer Lungenkrankheit starb, war doch der Grund, den er immer und immer wieder gegen ihre Verheiratung mit Arnold geltend machte. Nun hat er doch recht behalten, mein Alter – hätten wir doch seine Warnungen befolgt!“

„Ach, sage das nicht, Tante Römer! Sie hätte sich in Sehnsucht nach ihm verzehrt, und was ist ein Dasein denn Wert, das uns zur Entsagung verurteilt? Nun ist sie doch glücklich gewesen, nun hat sie das größte Glück, das ein Weib auf Erden erringen kann: dem zu eigen zu sein, den ihr Herz liebt, erreicht; das Höchste, was das Leben uns zu geben hat, ist ihr geworden, sie hat Liebes- und Mutterglück genossen – und ob es nun auch früher zu Ende geht, dieses kurze Menschenleben, was thut’s – es war ihr doch köstlich! Sie gehört immer noch zu den Auserwählten, denn wie vielen wird das nicht zu teil!“

Die alte Dame trocknete ihre Augen. „Siehst Du, Lieschen. Du weißt schon Trostesworte für mich, an ihnen will ich mich aufrichten.“

„Ich habe sie von Dir gelernt, Tantchen, und gebe sie Dir zurück. Unter Deiner Zusprache ist meine Seele oft genug still geworden. Aber nun laß uns umkehren; wir sind zu weit gegangen!

Die Deinen sind nicht gewohnt, Dich um diese Zeit so lange zu entbehren, und Du müßtest dafür nach Erklärungen suchen.“

Frau Geheimrat war schon vor Lisbeth heimgekehrt und empfing diese mit einem ganzen Sack voll ihr selbst höchst interessanter Mitteilungen. Was Excellenz gesagt – was Excellenz gemeint - was Excellenz projektiere; und wenn Lisbeth anfangs die Absicht gehabt hatte, ihr schweres Herz gegen die Mutter zu entlasten, in diese nichtigen Erwägungen hinein die Nachricht von dem Schmerz, der ihr durch ihrer Freundin hoffnungslose Erkrankung geworden, zu mischen, das erschien ihr unmöglich!

„Wenn Leo doch nur endlich zurückkehrte,“ schloß die Mutter ihren Bericht. „Oberpräsidents wollen Ende dieses Monats mit ihren wöchentlichen Soireen beginnen, und die Excellenz meinte heute schon sehr freundlich, sie rechne darauf, daß er ihr die Arrangements abnehmen werde, sie hätte soviel von seinen geselligen Talenten gehört. Denke doch, wie liebenswürdig! Er kann wirklich froh sein, daß er den Boden für sich so Wohl bereitet findet, anderen wird solche Blamage länger nachgetragen! Wann erwartet Papa doch den Examenstermin?“

„Bestimmt weiß er ihn auch noch nicht, aber er meinte neulich, in zwei bis drei Wochen würde er sicher sein.“

„Na, gottlob, dann wäre diese Zeit auch vorüber!“

„Und das Schicksal mag uns günstig sein, damit sie gut endet, Mama.“

„Was soll das heißen?“ Die Frau Geheimrätin geriet in Erregung. „Denkst Du etwa an die Möglichkeit, er könnte abermals – so etwas ist noch nicht dagewesen, das ist ein ganz unmöglicher Fall! Er würde sein ganzes Leben zerstören – alle Aussichten – alle - alle!! – Bedenke das einmal! Ich begreife nicht, wie Du Dich darin gefallen kannst, den Unglücksraben zu spielen! Du solltest etwas Rücksicht auf meine Nerven nehmen – ich bin völlig außer mir!“ – Und sie fuhr sich mit dein Batisttüchelchen über die Stirn, auf der die Aufregung helle Schweißtropfen hervortreten ließ.

„Verzeihe mir die unvorsichtige Bemerkung, Mama, Du weißt doch, sie kommt aus einem sorgenden Herzen, und an manchen Tagen ist man geneigter, schwarz zu sehen. – Darf ich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0775.jpg&oldid=- (Version vom 20.12.2016)