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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Ein Künstlerschicksal und seine Sühne.

Aus den Papieren eines alten Weimaraners.[1]

Im Juni 1805 kam von Berlin her ein junges Paar von auffallender Schönheit in Weimar an, welches Goethes gewandter und kluger Regisseur Genast (der Vater des 1887 verstorbenen Hofschauspielers) aus dem Chorpersonal der dortigen Bühne ausgehoben und für Weimar engagiert hatte. Die reizende junge Frau entsprach freilich in der Folge künstlerisch nicht den in sie gesetzten Erwartungen, aber in ihrem kaum 21jährigen Gatten hatte das Weimarische Theater einen Schatz gewonnen, wie er keinem der späteren Intendanten mehr, beschieden sein sollte.

Wilhelm Deny, so hieß das neue Mitglied, war ein Mensch von ganz hervorragend schauspielerischer Begabung. Vermutlich der französischen Kolonie in Berlin entstammend, hatte er doch so wenig Jugendbildung erhalten, daß es ihm in seiner ersten Weimarer Zeit Schwierigkeiten machte, Geschriebenes fließend zu lesen, und er deshalb gern seine Frau zur Leseprobe schickte, statt selbst zu kommen. Um so merkwürdiger war das schöpferische Talent, mit welchem er sofort jede Rolle ergriff und sie mit solcher inneren Wahrheit darstellte, daß das Publikum stets hingerissen ward und bald auch die Kollegen mit Anerkennung von der großartigen Begabung des jungen Mannes sprachen. Einer der hervorragendsten, der seiner Zeit in weiten Kreisen bekannte und beliebte „alte Oels“, nannte ihn später, geradezu den talentvollsten Schauspieler, den Weimar je besessen habe.

Unterstützt aber wurden Denys innere Gaben durch äußere Mittel, wie sie in solcher Schönheitsfüll. auch nur selten einem Schauspieler zu Gebote stehen. Auf einer prachtvollen in allen Teilen harmonischen Gestalt saß ein Kopf von antiker Reinheit der Züge. Und unter der schmalen, von dichtem schwarzen Gelock bedeckten Stirn funkelte ein Paar mächtiger dunkler Augen fast dämonisch heraus und steigerte durch seine leidenschaftliche Ausdruckskraft Denys Mienenspiel zu einer Macht, der sich niemand entziehen konnte. Selbst die Schauspielerinnen, welche sonst ihre Liebesscenen innerlich unbewegt genug abzuspielen pflegten, fühlten sich in seinen Armen von der Leidenschaft ergriffen, die er so unwiderstehlich darstellte, und glaubten, einen persönlichen Ursprung derselben zu spüren. Aber sie sahen nach beendigter Vorstellung enttäuscht wieder die kühle. Gleichgültigkeit, welche der schöne Schauspieler im allgemeinen gegen Frauen hervorkehrte – und welche ihn selbstverständlich nur um so begehrenswerter erscheinen ließ. Die einzige Leidenschaft seines Innern war ein hochgespannter Ehrgeiz, der sich, trotz aller Erfolge, stets zurückgesetzt fühlte und unter den Kollegen, von welchen Deny sich mißtrauisch fern hielt, nur Feinde und Neider sah. Hierin bestärkte ihn noch seine Frau, welche es nicht verschmerzen konnte, daß sie keine bedeutenden Rollen zu spielen bekam, obgleich sie nicht einmal den unbedeutenden zu genügen wußte.

Vermutlich hatte Goethe mit seinem sicheren Blick Denys hervorragendes Talent sofort erkannt und ihn an seiner Hand zu der Stufe schauspielerischer Vollendung hinauf geführt, auf welcher ich ihn später in den Jahren 1819 bis 1822 gesehen habe. Bekanntlich war es nicht Goethes Art, seine Schauspieler gleich von vornherein für ein bestimmtes Rollenfach zu engagieren. Da er meist junge Leute anwarb, so probierte er vielmehr mit ihnen alle Arten von Rollen durch und fand meist bald heraus, wofür sie taugten, zum Nutzen seines Theaters und der Schauspieler selbst. Wer sich überhaupt als talentlos erwies, wurde alsbald wieder abgestoßen.

Fritz Lortzing, der als junger Mann nach Weimar kam und, da er früher bei anderen Theatern in den Rollen von Liebhabern, Bonvivants und im Vaudeville thätig gewesen war, auch in Weimar diese Rollen weiter spielen wollte – erzählte mir, daß er nicht wenig überrascht gewesen sei, als ihm kurz nach seinem Engagement eines schönen Tages von Goethe die Rolle des „Polonius“ zugesendet worden sei. Er habe an ein Versehen des Theaterdieners geglaubt und sei deshalb zu Goethe gegangen, um sein Bedenken, auszudrücken. Doch dieser habe gesagt: „Kein Versehen! Bedenken Sie sich die Rolle! Sie werden mir in einigen Tagen dieselbe vorlesen!“ Mutlos und voll Herzensangst sei er davongeschlichen. Aber Einwendungen habe es zu jener Zeit nicht gegeben. Was war der Erfolg? – Lortzing spielte jene Rolle Goethe und dem Publikum zu Danke und wurde alsbald unter Goethes Führung, der bedeutendste Charakterkomiker, den, nächst Becker, das Weimarische Theater besessen hat. Der berühmte La Roche kam in den gleichen Fall, als ihm Goethe bei der ersten Aufführung seines „Faust“ die Rolle des – Mephisto zuerteilte, die seinem bisherigen Rollenfache durchaus nicht entsprach und in der er doch dann später lange Jahre hindurch am Wiener Hofburgtheater sich besonders auszeichnen sollte.

Einen weniger scharfsichtigen Theaterleiter als Goethe hätte Denys außerordentlich vielseitige Begabung geradezu in Verlegenheit um das geeignete Rollenfach bringen können. Er aber teilte ihm mit weiser Absicht alles zu, was seinen Fähigkeiten überhaupt entsprach, und ließ ihn (nicht aus Schauspielermangel, denn er verfügte stets noch über eine zweite Kraft) so verschiedenartige Rollen spielen, wie sie sich heute niemals mehr in der Hand eines Darstellers befindend. So erschien Deny bis zu seinem früh erfolgten Tode im Jahre 1822 als erster Liebhaber, als jugendlicher Held, als Intrigant, als zärtlicher gesetzter Vater, als Buffo und in ernsten Partien der Oper: eine Vielseitigkeit, die annähernd nur noch ein später (1823) an der Weimarischen Bühne eintretendes Mitglied, der obengenannte La Roche, besaß, welcher derselben bis 1833, bis zu seinem Eintritt in den Verband des Wiener Hofbürgtheaters, angehörte.

Ob Deny nun Don Manuel, Roller, Macduff, Dunois, Geßler spielte, oder Wurm, Marinelli und Just, ob er in der komischen Oper als Leporello und Bartolo in Mozarts und Rossinis unsterblichen Werken oder als Purgantius im „Rochus Pumpernickel“ das Publikum zu Lachstürmen hinriß, oder als Thoas in Glucks „Iphigenie“ und als Oberpriester in der „Vestalin“ voll hoher Würde in getragenen Tönen sang – bei jeder Rolle begleitete ihn rauschender Applaus und die Weimaraner konnten nicht mit sich einig werden, in welcher er am vorzüglichsten spiele und am besten aussehe. Immer schien es diejenige zu sein, welche er zuletzt gespielt hatte! Sein schönes klangvolles Organ war unermüdlich und in der Recitation, besonders Schillerscher Verse, von bezauberndem Wohllaut, dagegen stand die gesangliche Ausbildung der Stimme durchaus nicht auf gleicher Höhe der Vollendung. Aber sein großes Talent wußte den Mangel zu verdecken und auch in den Gesangspartien, an welche man damals freilich bescheidenere technische Ansprüche stellte als heutzutage, stürmischen Applaus zu ernten.

Im Jahre 1833 machte ich in München die Bekanntschaft des einst berühmten, steinalt verstorbenen italienischen Sängers Brizzi, der von Karl August im Jahre 1810 und 1811 nach Weimar berufen worden war, um eine italienische Oper einzurichten. Nachdem ich mich ihm als Weimaraner zu erkennen gegeben hatte, war seine erste Frage: Wie geht es Deny? – In wenig Worten erzählte ich ihm, verwundert, daß er davon keine Kenntnis hatte, Denys schon lange erfolgtes tragisches Ende. Dem alten Manne bebten vor Schmerz die Lippen, die Augen würden feucht, er faltete die Hände und sagte halblaut: „Requiescat in pace! Ich habe einst auf fast allen Theatern Italiens gesungen und doch nirgends einen Buffo gefunden, wie Weimar an Deny besaß. Die Recitative hat keiner gesungen wie er.“

Und diesen Schatz von Begabung und nie versagender Leistungsfähigkeit besaß die Weimarer Bühne um 550 Thaler jährlich, aber nur in seinen letzten Zeiten. Früher müßte sich Deny mit einer weit geringeren Summe begnügen!

Mehr als ein Jahrzehnt war verstrichen, seit er sich vom namenlosen Anfänger zum Liebling des Publikums emporgeschwungen hatte, da sollte der April des Jahres 1817 den traurigen Konflikt bringen, welcher Goethe vom Weimarer Theater schied. Jedermann kennt seinen Widerspruch gegen die berüchtigte „Hundekomödie“ sowie die Thatsache, daß die Freundin des

  1. Die hier der Oeffentlichkeit übergebene Erinnerungen an die klassische Zeit der Weimarer Bühne rühren von einem jetzt verstorbenen zuverlässigen Kenner der dortigen Theaterverhältnisse her und sind durchaus authentisch. Die Redaktion.     
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0780.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2023)