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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

eine Dame auf dem schmalen Waldpfade ihm entgegenkommt. Als sie schon dicht vor ihm ist, fährt er auf und greift, während er eine ausweichende Bewegung macht, wie mechanisch nach dem Hute; dann erst, als sie den freiwerdenden Weg nicht benutzt, sondern ihre zögernden Schritte noch verlangsamt, fällt sein Blick auf ihr Gesicht.

„Ah – Fräulein von Giersbach“ – murmelt er, sie erkennend, und als sie immer noch nicht vorwärts geht: „Wir haben uns lange nicht gesehen, gnädiges Fräulein!“

„Ich habe Sie gesehen, Herr Brückner – gestern, auch vorgestern in diesem Gehölze, und da Sie mich niemals bemerkten, faßte ich den Mut, Ihnen einmal ganz nahe vorbeizukommen, denn ich hatte es mir fest vorgenommen, Sie zu sprechen.“

Er sah sie überrascht und verwundert an.

„Mich, gnädiges Fräulein? Ich bin wahrlich jetzt ein schlechter Gesellschafter!“

Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie ruhig:

„Ich hörte es schon von Lisbeth, daß Sie sehr verstimmt sind, aber ich wollte es nicht glauben –“

„Nicht glauben,“ rief er, „nicht glauben – nach dem, was ich durchgemacht habe?!“

„Nein,“ sagte sie fest, „ich wollte es nicht glauben, denn ich kenne Sie doch auch und weiß, daß Sie ein kräftiger Charakter sind; den wirft ein Mißgeschick doch nicht gleich um.“

Er lachte, ein spöttisches, mißtönendes, rauhes Lachen.

„Wenn die Menschen,“ fuhr sie fort, „sich durch eine zertrümmerte Hoffnung, eine erfolglose Anstrengung gleich aus dem Geleise bringen ließen, wo kämen sie dann hin? Sehen Sie doch um sich – weiß nicht jeder Mensch von Mißerfolgen zu erzählen? So wie Sie hat das Leben auch andere angepackt, wenn auch vielleicht auf eine andere Art.“

„Nein,“ rief er heftig und richtete sich hoch auf, „so wie mich hat’s noch keinen getroffen! Ich habe alles mit einem Schlage verloren, die Gegenwart – und die Zukunft! Ich habe die Liebe der Meinen, die Freundschaft meiner Freunde, die Achtung der Menschen verloren und, was das Schlimmste ist, auch den Glauben an mich!“

Eine minutenlange Pause zwischen beiden, dann sagte sie wieder: „Ich habe neulich einmal sagen hören, wen das Schicksal so weich gebettet hat, wie Sie es bisher waren, der hätte es, wenn der Himmel sich einmal verdunkelt, am schwersten, denn er betrachtet beständigen Sonnenschein als sein Recht.“

„Nun, wenn ich unbewußt so etwas Aehnliches wirklich erwartet habe, dann ist mir’s klar gemacht worden, wie thöricht ich war! – Was habe ich nicht erfahren in dieser Zeit!“ Er hatte sich umgewandt und ging nun neben ihr auf dem mit welken Blättern bedeckten schmalen Steg. „In Berlin ging’s noch,“ fuhr er fort, „mein Gott, die Kameraden, die ich dort hatte, trösteten mich, so gut es ging! Man verwies mich mit billigen Trostworten auf mein gutes Glück, und auf dieses rechnete ich auch, wenn es mir auch nicht recht verständlich war, in welcher Form ich es erwarten könnte. Aber hier! Mein Vater ist ein Bureaukrat vom reinsten Wasser, für ihn fängt der Mensch erst mit dem Rat an, und ihm ist es undenkbar, daß jemand glücklich sein kann, der nicht die Anwartschaft auf eine höhere Stellung im Staatsdienste hat. Er weint über seinen verlorenen Sohn und er hat ja auch Grund dazu! Ich war leichtsinnig, habe zu wenig gearbeitet! Ich hätte nicht in Berlin bleiben sollen! Und meine Mutter, die mich geliebt, die mich verwöhnt, die mich vergöttert hat, schämt sich, mit mir auszugehen, schämt sich, überhaupt noch auszugehen! Ich habe kein teilnehmendes Wort von ihr gehört, keinen warmen Blick von ihr empfangen. Jetzt, da der Besitz dieses Sohnes ihrem Stolze nicht mehr schmeichelt, hat er auch ihr Herz verloren, und das jetzt, jetzt, wo ich der Teilnahme, der Liebe so bedürftig bin! Wenn nun die, die mir am nächsten stehen, so empfinden, muß ich mich da nicht selbst aufgeben?!“

„Nein,“ sagte Annie mit zitternder Stimme, aber nach Festigkeit ringend, „das müssen Sie nicht, das dürfen Sie nicht. Fassen sollen Sie sich und die Liebe der Ihrigen, die Sie verscherzt haben, wieder verdienen!“

„Ja, ja, das sagte ich mir zuerst auch. Aber Sie wissen noch nicht alles, kennen nicht die Täuschungen, die ich erfahren, wissen nicht, wie eine Hoffnung nach der anderen scheitert!“ Er erzählte ihr nun von den Schritten, die er gethan, um im Staatsdienst irgendwie unterzukommen, plötzlich unterbrach er sich aber jäh: „Doch wohin gerate ich? Ich weiß in der That nicht, wie ich dazu komme, Ihnen, gnädiges Fräulein, davon zu sprechen. Verzeihen Sie mir! Es ist die absolute Einsamkeit, in der ich lebe, die mich dazu verführt hat! Man schluckt allen seinen Gram und seine Schmerzen so in sich hinein; bis zum Uebersprudeln ist das Herz gefüllt und ein teilnehmendes Wort läßt es überfließen! Ich war so verzweifelt vorhin, als wir uns trafen, ich sehnte mich ordentlich nach dem einzigen Rettungsweg aus dieser Lage, der mir offen gelassen ist.“

„Dem einzigen Rettungsweg?!“ – sie wiederholte langsam diese Worte, und dabei sahen ihre Augen starr in die seinen.

„Fräulein Annie,“ sagte er leise und dringend, „stellen Sie sich einmal einen Menschen vor – ohne Lebenszweck – ohne Hoffnung – verachtet von seinen Mitmenschen verachtet von sich selbst – und dagegen die Ruhe des großen Nichts - -

„Nein,“ schrie sie auf und faßte nach seinem Arme, als könne die kleine, schwache Hand ihn von dein Abgrunde zurückhalten, „nein, das waren Sie nicht, der das sagte – nein, das waren Sie nicht! Solch’ ein thörichter Schwächling, der sich darin gefällt, mit Selbstmordgedanken zu spielen, weil ein paar hochmütige Menschen ihn über die Schulter angesehen haben — das sind Sie nicht! Besinnen Sie sich auf sich selbst und glauben Sie an Ihre Kraft, dann glauben auch andere wieder daran! Es ist unrecht – nein, es ist mehr als das – aus dem Leben sich stehlen zu wollen, da es noch so viele giebt, denen Sie – teuer sind! Wie können Sie an der Liebe Ihrer Eltern zweifeln, da Sie doch sehen, wie diese sich über Ihr Mißgeschick grämen, wie Ihr Papa darunter leidet! – Haben Sie ein Recht dazu, Ihrer Mutter andere Motive unterzuschieben, nachdem sie es doch genugsam gezeigt hat, welche Sorge und welche Liebe sie jederzeit für ihren Sohn gehegt? – Wenn ich denke, wie Papa sich schon um die Schularbeiten unserer Jungen sorgt und wie er sich quält in dem Gedanken, sie könnten etwas versäumen und nicht vorwärts kommen – dann finde ich es nur natürlich, daß Ihre Eltern tief verwundet sind. Erkennen Sie doch darin auch die große Liebe zu Ihnen! Wie glücklich werden Sie alle sein, wenn diese Zeit überstanden ist, wenn Sie sich durch redliche Arbeit einen Lebensberuf errungen haben, der Sie befriedigt! Muß es denn gerade ein Ratsposten sein, Herr Brückner? Können Sie nicht kleiner beginnen? Der Anfang ist vielleicht dann leichter . . . Wissen Sie noch, wie wir im Frühling auf der Bank im Tiergarten saßen?“

„Ja, es war eine schöne Stunde!“ unterbrach er sie.

„Ich wollte Sie an jene Stunde erinnern, weil Sie mir damals sagten – wir sprachen von Ihrem ersten Examensversuche – Sie hätten eigentlich nie wirklich studiert. Ihr vorzügliches Gedächtnis, Ihre schnelle Fassungsgabe und Ihr logisches Denken hätten Ihnen immer vorwärts geholfen, und Sie wären damit bisher stets weiter gekommen als andere, die sich krumm über den Büchern gesessen. War’s nicht so?“

„Es kann wohl sein, daß ich so sagte.“

„Nun, sehen Sie, diese Fähigkeiten nützen sicher im praktischen Leben am meisten; ob sie aber bei einer Prüfung, bei welcher es doch in erster Reihe auf erlernte Kenntnisse ankommt, diese ersetzen, das müssen Sie besser beurteilen können als ich.“

Sie waren aus dem Gehölz getreten, und nun ließ eine zerreißende Wolke die Sichel des Mondes sehen. Leo Brückner, der während der letzten Worte wieder sehr düster dreingeblickt hatte, wandte seine Augen in die Höhe, dann schaute er, sich zurückwendend, in Annies Gesicht.

„Sie mögen recht haben, Fräulein von Giersbach, und ich danke Ihnen; ich habe so sehr des Aussprechens gegen eine teilnehmende Seele bedurft. Vielleicht war es mir auch nötig, daß ein mir wohlgesinnter Geist, wie der Ihre, mich mit strafenden Worten aufrüttelte.“

„Habe ich das gethan? Und mit strafenden Worten?“

„Ja, Sie haben das gethan und ich danke Ihnen tausendfach. Gehen Sie jetzt nach Hause! Der Weg ist mondbeleuchtet, ich kann Sie sehen, bis Sie in die Stadt einbiegen, und ich werde hier stehen bleiben und Sie bewachen.“

„Ich bin nicht ängstlich und bin in diesen Tagen immer allein hierher gegangen.“

„Das ist eigentlich nicht richtig, aber ich habe so viel dadurch gewonnen, daß ich nichts dagegen sagen darf. Werden Sie morgen wieder hierher gehen, Fräulein Annie?“

Sie stutzte und schwieg einen Augenblick, dann sagte sie:

„Ja.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0806.jpg&oldid=- (Version vom 30.1.2024)