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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

An das Christkind.

Weihnachtsgeschichte von Eva Treu. Mit Abbildungen von C. Liebich.

Kling!“

Das war die Hausglocke, die Thür wurde geöffnet, und nun stapfte und trampelte auch draußen etwas auf dem Flur, als ob Schnee von Schuhen und Stiefeln geklopft würde. Denn es schneite tüchtig draußen und setzte sich gleich in dicken Klumpen an die Sohlen, wenn man nur hundert Schritte über die Straße mußte.

„Wer kommt denn da so früh am Tage?“ fragte die alte Dame, die strickend am Fenster saß, ein wenig verwundert, „sehen Sie doch einmal nach, Toni, ja?“

Fräulein Toni, ein hübsches schlankes Mädchen mit einem dicken blonden Haarknoten und guten braunen Augen, hatte schon von selbst das Staubtuch, mit dem sie eben die zahlreichen Kleinigkeiten auf der Etagere abwischte, beiseite gelegt und war zur Thür geeilt, die sie nun öffnete.

„Ei, wen haben wir denn da?“ rief sie munter, „das sind wohl gar Willy und Dodo? Guten Morgen, guten Morgen! Und einen Brief habt ihr auch mitgebracht? Dürft ihr denn ein bißchen bei uns bleiben?“ Damit küßte sie das kleine Mädchen, dem die weichen Flachshärchen lockig unter der dunklen Sammetkapuze hervorguckten, auf den willig dargebotenen frischen Kindermund. Der etwa ein Jahr ältere dunkelhaarige Junge wich jedoch der zugedachten Liebkosung mit männlicher Zurückhaltung aus und bot nur die im dicken gestrickten Fausthandschuh steckende Hand zum würdigen Gruß. Seit er – es waren nun zwei Jahre – in die Schule ging, ließ er sich durchaus nicht mehr „von Frauenzimmern küssen“.

„Wir dürfen bis heute abend hier bleiben,“ erklärte er.

„Bis das Christkind kommt,“ fügte Dodos sanftes Stimmchen hinzu.

„Der Herr Doktor läßt sich empfehlen und fragen, ob die beiden Kleinen vielleicht über Mittag da bleiben dürften,“ sagte das begleitende Dienstmädchen. „Es steht alles in dem Brief, den Willy abgeben soll. Wenn’s dunkel ist, komme ich dann und hole sie wieder.“

„Brauchst Du gar nicht!“ protestierte Willy.

„Ach, Grete – es ist doch wohl nicht –“ fing Fräulein Toni an.

„Ja,“ nickte das Mädchen lächelnd, mit einem verstohlenen Seitenblick auf die Kinder, „es steht alles in dem Brief, läßt der Herr sagen.“

„Ach, das ist ja reizend, Grete – und alles wohl?“

„Jawoll, Fräulein. Und dürfen dann die beiden hier bleiben?“

„Das werden sie sicher dürfen. Ich will sie gleich zu Frau Justizrat hineinbringen. Antwort braucht es wohl nicht auf den Brief?“

„Nein, Fräulein.“

„So, da gehen Sie nur, Grete! Abzuholen brauchen Sie die Kinder nicht. Ich muß in der Dämmerung selbst noch fort und bringe sie dann hin. Es wird ja bei Doktors genug zu thun geben.“

„Danke, Fräulein! Gott, ja, genug zu thun giebt’s freilich! Adieu denn, Fräulein, und fröhlich’ Fest!“

„Fröhlich’ Fest!“ wiederholte das junge Mädchen freundlich. „So, meine kleinen Herrschaften, nun abgelegt und flink hineinspaziert!“

Drinnen die alte Dame sah nicht eben übermäßig beglückt über Brille und Strickzeug hinweg auf die kleinen Gäste. Sie selbst hatte nie Kinder gehabt und sah in ihnen eigentlich nur Wesen, welche die Gewohnheit haben, in jedes friedliche Haus Unruhe zu tragen, mit unsauberen Schuhen auf gute Teppiche zu treten, die am sorgsamsten gehüteten Nippsachen mit kleinen, unvorsichtigen Fingern anzufassen, sich den Magen mit unreifem Obst zu verderben und unpassende Dinge zu sagen. Eine nervöse Unruhe ergriff sie allemal, wenn die lebhaften Kleinen in ihre stille Stube einbrachen. Jedoch bot sie den beiden Kindern gnädig die Hand und streichelte ihnen die Wangen, was sich Willy offenbar nur sehr widerwillig gefallen ließ.

„Die Kinder haben einen Brief mitgebracht, Frau Justizrat,“ sagte Toni bescheiden, das Schriftstück überreichend.

Fräulein Toni war seit zwei Jahren im Hause, beinahe ganz genau seit ihrem achtzehnten Geburtstage, und spielte ein klein wenig die Rolle eines „Mädchens für alles“. Sie war zugleich „Stütze“ und Gesellschafterin und oft genug auch Kammermädchen und Krankenwärterin der alten Dame, die sich steif und fest einbildete, dem jungen Mädchen, dem sie nur ein sehr bescheidenes Honorar zahlte, eine sehr große Wohlthat mit der Aufnahme in ihr Haus erwiesen zu haben. Hatte doch Toni, als ihr vor zwei Jahren kurz nacheinander beide Eltern wegstarben, ganz mittellos und allein dagestanden, sie, die als Tochter eines angesehenen Beamten nie daran gedacht hatte, einmal auf sich selbst angewiesen zu sein! Frau Justizrat Willrich ließ deshalb auch selten eine Gelegenheit ungenutzt vorübergehen, ihrer kleinen Gesellschafterin in Erinnerung zu bringen, wie großen Dank dieselbe ihr schulde. Im übrigen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0828.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2023)