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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Kommt ihr beiden nur mit in meine Stube, da ist Platz genug, um einen Brief zu schreiben!“

Der Vorschlag zur Güte wurde jubelnd angenommen. Brauchte man doch in Tante Tonis Stube keineswegs still auf dem Stuhl am Fenster zu sitzen, sondern durfte anfassen, was, und fragen, so viel man wollte. Denn Tante Toni war „riesig nett“. Wenn je etwas bei Willy und Dodo festgestanden hatte, so war es, so lange sie denken konnten, dieser Glaubenssatz. Bloß das eine war schade, daß Toni bei Tante Justizrat wohnte; im übrigen aber hatte sie keine Fehler!

So, nun war in dem bescheidenen, sauberen Mädchenstübchen der Tisch abgeräumt, zwei Stühle waren herangerückt, für Dodo einer mit einem hohen Polster darauf, und Tante Toni nahm aus ihrer Schreibmappe das nötige Papier und zog die Linien. Dann spitzte sie zwei Bleistifte.

„Aber ich kann doch mit Tinte!“ rief Willy im tiefsten Herzen empört.

„Ach so! – Da hast Du also Tinte! Was wollt ihr euch denn nun wünschen?“

„Oh, ’ne ganze Masse! Einen Weihnachtsbaum und eine Eisenbahn und Aepfel und ein Flozipet –“

„Was für ein Ding? Ach so, ein Velociped! Du, werde nur lieber nicht zu unbescheiden.“

„Und ein Dampfschiff –“

„Und einen Puppenwagen,“ fiel Dodo ein.

„Und –“

„Ja, denkt aber einmal, ich habe Kinder gekannt, denen brachte das Christkind etwas ganz Reizendes, etwas so Niedliches, wie ihr noch nie gehabt habt.“

„Was war es?“ Vier erwartungsvolle Augen sahen Toni groß an.

„Denkt bloß – eine kleine Schwester brachte es ihnen.“

„Lebendig?“ fragte Dodo atemlos.

„Ganz lebendig. Aber wünscht euch lieber keine. Etwas so Schönes können nicht alle Kinder bekommen!“

Dodo seufzte tief und schwer. „Konnte sie die Angen von selbst auf und zu machen?“

„Ja; auch von selbst schreien – alles!“

Ein abermaliger dicker Seufzer.

„Wenn man das Christkind nun sehr bäte, Tante Toni?“

„Ja, versuchen könnte man es ja, Dodo. – Du möchtest wohl keine haben, Willy, nicht?“

Willy lächelte überlegen. „Ja, siehst Du, Tante Toni, haben möchte ich ja schon eine, aber – siehst Du – das geht doch nicht! Dazu ist es doch schon zu spät! Dann hätten wir es früher sagen müssen. Denn – ein Flozipet und so etwas, das kann das Christkind jetzt ja noch überall bekommen, aber die Störche sind doch lange weg, in Egiptien, das ist doch sehr weit. Das hätte man früher bestellen müssen, nicht? Nein, davon will ich lieber gar nicht erst etwas schreiben.“

„Na, so mache es, wie Du willst, Willy! Und nun schreibt nur recht hübsche Briefe und macht keinen Klex! Ich muß unterdes den Kaffee besorgen.“

Damit ging Toni hinaus, und die Kinder machten sich über ihre Briefe her.

Willy ging die Sache geschwind von der Hand. Ohne viele Umstände stand da geschrieben: „1 Weihnachtsbaum, 1 Flozipet, Damfschiff, 1 Eiserbahn, 1 Matrosenanzuch, 1 Helm, 1 Sebel, 1 Gewehr, 1 Tafel, 1 Griffel, 1000 Epfel, 1000 Braunkuchen.“

Aber wehe! bei den „Braunkuchen“ geriet Willy so in Eifer, daß er einen dicken Klex mitten auf den schönen Wunschzettel fallen ließ. Schleunigst fuhr die rote Zunge heraus und leckte das schwarze Scheusal fort. Der Erfolg war aber leider wenig erfreulich, ein breiter schwarzer Streifen zog sich schräg über den Briefbogen.

Indessen schrieb Dodo mit dem Bleistift emsig und sauber: „Libes Christkind im Himmel, bitte schenke mich 1 Weihnachsbaum 1 Puppe 1 puppen Wagen und noch mehr spilzeuch. für mein pappa und mamma auch etwas, für mein Bruder Willi auch etwas. für tante Toni die bei tante Zustri Juzi Justrizrätin ist auch etwas. 1 Märchenbuch und vom Krapp Klapperstroch storch bitte eine kleine Schwester. Deine liebe Dodo.“

So, das war gethan!

„Willy, ich bin fertig!“

„Ich noch nicht,“ sagte Willy verdrießlich aus einer entfernten Ecke des Zimmers her. „Ich muß einen anderen Bogen haben, ich habe einen Klex gemacht.“

Damit bemächtigte er sich der Schreibmappe, welche Toni vorhin offen auf die Kommode gelegt hatte, und schüttete ihren Inhalt ungeniert auf den Tisch. Eine Anzahl von Briefbogen und Couverts fiel heraus und ganz zuletzt auch eine Photographie, auf welche die Kinder jedoch zunächst nicht achteten. Willy nahm sehr eigenmächtig einen Briefbogen, zog sehr schiefe Linien mit dem Bleistift darauf und begann seinen Wunschzettel von neuem, brachte ihn diesmal auch ohne Unfall zu Ende, machte kurz und bündig seine Namensunterschrift „Willy“, dann stopfte er das unbenutzte Papier wieder in die Mappe und legte diese dorthin, woher er sie genommen hatte, die Photographie blieb mit der Bildseite nach unten auf dem Tisch liegen.

„So, nun noch die Adresse“, erklärte Willy, das Couvert herbeiziehend.

„Die laß Tante Toni machen, Willy!“

„Meinst Du, ich kann es nicht?“ Und mit kühnen Zügen schrieb er: „An das Christkind im Himmel“. Punktum.

„Wenn nun nur Tante Toni käme, dann könnte der Brief in den Kasten kommen.“

„Du, da liegt ein Bild!“ rief Dodo.

Sie wandten die Photographie um und betrachteten sie neugierig. Es war das Antlitz eines jungen Mannes mit einem großen blonden Vollbart. –

Wie – die brave Toni verbarg in ihrer jungfräulichen Briefmappe das Bild eines blonden Herrn? War das wohl ein schickliches Benehmen für ein junges Mädchen?

Ich will mir darüber kein Urteil erlauben, muß aber leider zugeben, daß der blonde Herr nicht etwa Tonis Bruder oder Verlobter war, was ihr ja am Ende eine Art von Recht gegeben haben würde, sein Bild in ihrer Schreibmappe mit sich zu führen. Nein, die Sache hing so zusammen.

Das Bild hatte Tonis verstorbenem Vater gehört und stellte jemand dar, für den sie schon seit ihren Kinderjahren eine stille, innige Neigung in ihrem guten kleinen Herzen hegte, eine Neigung, von der sie in ihrer großen Bescheidenheit nie einem einzigen Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen gewagt hätte, weil der Mann, dem sie galt, nach ihrer Meinung unendlich hoch über ihr stand und viel, viel zu gut für sie war. Sie hatte sich aber in aller Stille nach dem Tode der Eltern das Bild angeeignet, verwahrte es im verborgensten Schreibmappenfach und sah es manchmal, wenn sie ganz allein war, voll Liebe, Verehrung und Sehnsucht an.

Nicht, als wenn das Original weit fort gewesen wäre! Im Gegenteil, Toni hatte jeden Sonntag und auch sonst recht oft Gelegenheit, es ganz in der Nähe zu sehen; aber das Bild war ihr trotzdem fast der größte Schatz, den sie besaß.

Daß der Mann, den es darstellte, ihr jemals zu eigen gehören könnte, das bildete sie sich nicht ein. Gewiß, er war immer sehr freundlich gegen sie – sehr! Er war es immer gewesen, schon als die Eltern noch lebten; aber sie zu seiner Hausfrau zu machen, daran dachte er doch wohl nicht, solch ein unbedeutendes kleines Ding wie sie war!

Die kleine Toni wußte, daß sie niedlich aussähe, aber „er, der Herrlichste von allen,“ er legte auf solche Aeußerlichkeiten doch gewiß nicht viel Gewicht, und sonst – ja, sonst hatte sie ja gar nichts zu bieten, davon war sie fest überzeugt. Daß er stets freundlich und gut gegen sie war, das hatte gewiß nur seinen Grund darin, daß er ihre Eltern geliebt und verehrt hatte.

Nein, Toni machte sich gar keine Illusionen, aber das Bild – ja, das Bild hatte sie unsinnig lieb.

„Du,“ sagte Dodo, „weißt Du, wer der Mann ist?“

„Natürlich, das kann man doch gleich sehen!“

„Wer ist es denn?“

„Das ist doch Pastor Bruhn. – Kennst Du den nicht ’mal?“

„Ja, das ist auch wahr.“

Willy schwenkte unternehmend den Federhalter. „Den mag ich furchtbar gern leiden – den! Einmal haben wir unsern Ball in sein Fenster geworfen – das Fenster ging ganz kaput – und meinst Du, er schalt? Gar nicht! Er sagte, es machte nichts! Und einmal –“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0830.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2023)