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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

hatte vorher alle Anordnungen für das Mittagessen getroffen, aber von der Frage ihrer Jungfer, ob man auf sie mit dem Essen warten solle, keine Notiz genommen, und jetzt war fast eine Stunde über die dafür festgesetzte Zeit verstrichen und sie war nicht zurückgekehrt! Die Köchin hatte wiederholt anfragen lassen, ob ihm nicht die Mahlzeit allein serviert werden sollte, aber er lehnte es ab, er hatte keinen Appetit. Ein eigentümliches Angstgefühl schnürte ihm die Kehle zu: wenn Elfe verunglückt wäre! Mein Gott, es kommen alle Tage solche Fälle vor, oder, wenn sie – fortgegangen wäre, um nicht wieder zu kommen? Sein Herz schlug plötzlich ganz laut. Immer wieder trat vor seinen Geist die Stunde, in der sie mit thränenden Augen und aufgehobenen Händen ihn gebeten hatte: Gieb mich frei! Er war damals fassungslos gewesen, hatte sie angefahren, hatte in ganz brutaler Weise sich solche und ähnliche Worte für immer und ewig verbeten, und hatte dann innerlich triumphiert, als es ihm gelungen war, diese neuen Auswüchse ihrer Launen mit einem Schlage auszurotten. – Aber ein unheimliches Gefühl war ihm seitdem geblieben, oder vielmehr es war gekommen, langsam und allmählich, und jetzt befand er sich eigentlich immer in dem entnervenden Zustande einer peinlichen Erwartung. Wenn er nur darüber Herr würde, wenn er nur einmal wieder freier atmen könnte, dann hätte er ja gar keine Ursache zur Klage gehabt; war doch seitdem, das mußte er sich selbst zugeben, viel mehr Frieden im Hause. Sie hatte sich zwar seit der Geburt des Kindes von ihm getrennt, lehnte jede zärtliche Annäherung aufs entschiedenste ab, aber – mein Himmel, das giebt sich schon – man muß nur warten können – nichts auf die Spitze treiben, allmählich zieht sich alles wieder zurecht – so kennt man doch die Frauen! Jedenfalls war sie jetzt in viel weniger streitbarer Stimmung, fügte sich in seine Anordnungen, erfüllte ihre häuslichen Pflichten und brachte es sogar fertig, in Gegenwart anderer ein heiteres Gesicht zu machen, was er freilich sonst nie mehr sah. Aber eben dieser Ernst, diese Trauer, im Kontrast zu ihrer Jugend, das war es auch, was ihn so bedrückte, was diese schweren Gedanken – fast möchte er es Ahnungen nennen – in ihm erzeugte!

Er war wieder aufgestanden und ging unruhig hin und her – da lag die Tageszeitung, er hatte heute noch keine Ruhe gefunden für die gewohnte Lektüre. So setzte er sich denn abermals und schlug sie auseinander, froh, eine Ablenkung von seinem Sinnen gefunden zu haben. Zuerst kam der Leitartikel an die Reihe, da war natürlich wieder das Gleiche über ein längst bis zum Ueberdruß behandeltes Thema gesagt, wo sollten sie denn auch etwas Neues in dieser Sauern-Gurken-Zeit hernehmen? Dann die Lokalnachrichten, in denen die harmlosesten Alltagsdinge zu sensationellen Neuigkeiten aufgebauscht waren, und schließlich die Familienanzeigen. „Eichberg“ steht da im Trauerrand. Den Namen kennt er ja doch!

„Den nach langem Leiden erfolgten Tod meiner einzigen Tochter Hermine –“

Ah – nun weiß er alles – Hermine Eichberg! – Ein Stück Vergangenheit lebt plötzlich auf. – Das Blatt sinkt ihm aus der Hand, er lehnt sich in den Sessel zurück – Hermine Eichberg – wie lange das her ist! Ein Jahrhundert, dünkt ihn, liegt zwischen damals und jetzt! Und die ist wirklich gestorben, in so jungen Jahren! Tot – – wieder ein Herz weniger auf der Welt, das ihm einst gehörte!! – –

Er springt hastig auf, das Blut ist ihm zu Kopfe gestiegen – ein Herz weniger auf der Welt, das ihm gehörte – das ist’s – ein Herz, das ihm gehörte! – Nun steht sie plötzlich greifbar deutlich vor ihm, die schlanke, zarte Mädchengestalt mit dem feinen, blassen Antlitz und den großen Augen, die so voll Liebe ihm entgegenleuchteten.

Er stöhnt auf und bedeckt sein Gesicht mit der Hand. Wie erst ihr beweglicher, anmutiger Geist ihn angezogen und wie ihr schönes Talent dann rasch dies Interesse verdoppelt hatte! Dann sah er in ihren Augen den Funken der Liebe aufstrahlen – und da packte ihn die alte Eitelkeit – und er that alles, um dieses Gefühl in ihr festzuhalten und zu steigern – that’s, trotzdem damals schon der Vorsatz, um Elfe zu werben, ganz fest in seiner Seele stand.

„Woran wir sündigen, daran werden wir gestraft!“ sagte er leise vor sich hin. Nun wußte er es, wie sie gelitten haben mochte, als sie erkannte, daß sie ihm nur ein Zeitvertreib, ihre Liebe ihm nur der Weihrauch gewesen war, an dessen Duft seine Eigenliebe sich sättigte. Nun wußte er es an den eigenen Schmerzen! Und sie war gestorben? – wohl ihr! Wer auch so fort dürfte, wer sich loslösen könnte von dem Leben, das uns so viele Qualen bringt! Aber ihn hält ja die Erde mit eisernen Klammern, so lange sie die Frau trägt, für die er diese verzehrende Leidenschaft empfindet, die er bis zum Haß liebt – und der er nichts ist als der Stein im Wege, der sie hindert, ihrem eignen Glück nachzugehen!

„Die gnädige Frau läßt den Herrn Regierungsrat sehr bitten, ohne sie zu essen, sie ist –“

„Meine Frau?“ ruft er aufspringend, „ist sie zurückgekehrt? – Wo ist sie?“

„Die gnädige Frau kam vor fünf Minuten und hat sich gleich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Sie bittet den Herrn Regierungsrat –“

Er hört nicht mehr, was das Mädchen sagt, er fühlt nur eine große Erlösung. Angst und Sorgen sind vergessen, die düsteren Gedanken und Reflexionen wie Wolken vom Winde verweht, und hastigen Schrittes eilt er durch die Räume nach ihrem Zimmer. Die Thür ist von innen verschlossen, und auf seinen Ruf antwortet eine leise Stimme:

„Bitte, nimm das Mittagsessen ohne mich! Ich bin durch den Spaziergang sehr angegriffen und habe mich gleich zu Bett gelegt.“

„Soll ich nach dem Arzte schicken? Willst Du nicht die Thür öffnen, damit man etwas für Dich thun kann?“

„Ich brauche nichts als Ruhe – gönne mir diese nur! Zum Abend werde ich jedenfalls aufstehen.“

Er bittet noch einmal, daß sie aufschließen möge, und als keine Antwort erfolgt, geht er auf den Fußspitzen davon, ein zufriedenes Lächeln auf seinen Zügen. Und nun hat er auch Appetit. Nun merkt er, daß Hunger und Durst ihn gequält, und nach dem reichlich eingenommenen Mahl ist seine ganze Stimmung gefestigter und behaglicher. Er streckt sich auf das bequeme Sofa aus, und was er nun vom Schicksal verlangt, ist nicht Ruhe, Erlösung von der Qual des Lebens, sondern – der sanfte Schlaf des Gerechten.

Und drinnen in ihrem Zimmer liegt, noch angethan mit ihrer kostbaren Toilette, Elfe auf den Knieen und hat ihren Kopf in die Polster des Sofas verborgen. „Ich kann nicht von ihm lassen,“ schluchzt sie und ringt die Hände, „ich kann das Leben ohne ihn nicht ertragen, und doch, ich muß es – muß es – um seinetwillen!“ – – (Fortsetzung folgt.)


Victor Blüthgen.

Von Richard Weitbrecht.
(Mit dem Porträt S. 841.)

Vöglein, fliegt in das Gras!
Unser Kind bringt euch was,
Wer kann es raten?
Als ob’s ein Sämann wär’.

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Wirft es hin, wirft es her,

Nicht gekocht, nicht gebraten,
Nicht geschnitten, nicht gestochen,
Nicht gehackt, nicht gebrochen,
Nicht geklopft, nicht zerschlagen

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Und doch geht’s in euren Vogelmagen“ –

so klang’s aus dem Nebenzimmer, wo die Kinder sich unterhielten, während ich mit dem Freunde im anderen Zimmer auf dem Sofa saß. Wir horchten beide auf. Da ging’s drin weiter:

„Mieze, bist du wieder da?
Fang’ ’mal an zu spinnen:
Siebzehn Strang zu Glanzkattun,
Fünftehalb zu Linnen!“

Und ein ganz dünnes Stimmlein begann in jauchzenden Tönen:

„Nanndel vorm Ofenloch
Hat nur ein Strümpfchen noch;
Guckt ein Bein ’s andere an;
Ob sich’s nicht grämt,

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Ob sich’s nicht schämt –

Wie’s nur so nackt sein kann!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0846.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2023)