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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

fortgeschrittenen Kultur eine große Spiegelscheibe zugelegt, hinter der man die Honoratioren der Stadt, ohne Entree zu zahlen, bei ihren Früh- und Abendschoppen sitzen sehen konnte, während es diesen würdigen Herren ihrerseits unbenommen blieb, genau festzustellen, was auf der Straße und in logischer Folge innerhalb der Häuser vor sich ging, soweit sie das nicht ohnehin wußten, wie es in kleinen Städten Sitte und geheiligter Brauch ist.

Iu dieses Gasthaus kehrte Peter Hansen ein. Er hing den Mantel mit dem großen Kragen an den Nagel, den weichen Künstlerhut drüber und setzte sich dann an ein Tischchen für sich. Heimlich belustigte ihn das diskrete Kopfwenden, mit dem die seltene Anwesenheit eines Fremden hier aufgenommen wurde. In dem Kreise, am Tisch entdeckte er noch manchen alten Bekannten. Da, der dicke Herr mit der ungeheuren Glatze und der vorstehenden Unterlippe war sein Gymnasialdirektor von ehedem – der Tyrann seiner jungen Jahre! Das spindeldürre Männchen mit dem kornblumenblauen Schlips war der Apotheker – ein gefühlvoller Junggeselle, der die Guitarre spielte und Gedichte in das Tageblättchen schrieb. Ob er zwischenein wohl eine von den Damen heimgeführt hatte, die er so schmelzend anzusingen pflegte?

Der nächste im Kreise, der hübsche, stattliche Mann mit dem goldenen Kneifer und dem klugen, humorvollen Gesicht, war ihm aber fremd, er mußte neu hergekommen und allem Anschein nach der Doktor sein – freilich! der alte Sanitätsrat war ja damals schon fast der Schwächste seiner eigenen Patienten gewesen!

Man debattierte und sprach lebhaft am Honoratiorentisch aber mit gedämpfter Stimme, aus Rücksicht auf den Fremden. Es schien eine große Sache im Werke zu sein, die alle Leidenschaften entfesselte: der Apotheker wurde sichtlich mit Vorwürfen überhäuft und zuckte die spitzen Schultern vor Verlegenheit, als sollten sie ihm über dem Kopf zusammenschlagen.

Peter Hansen konnte es nicht unterlassen, sein Skizzenbuch zu ziehen und so verstohlen wie möglich ein paar von den Köpfen hineinzuzeichnen – neue und alte Gesichter. Wie auf unrechten Wegen ertappt, fuhr er zusammen, als der dicke Wirt ihn, bei Gelegenheit eines frischen Glases, in seiner Beschäftigung überraschte und mit wohlgefälligem Schmunzeln schweigend Kritik übte. Unverkennbar setzte er dann die Gesellschaft am Tisch von seiner Entdeckung in Kenntnis, wie das einem guten Wirt geziemt, der seinen Gästen das Neueste womöglich brühwarm auftischen muß.

Die Unterhaltung wurde daraufhin zunächst noch lebhafter, dann aber merklich stiller. Einer nach dem andern aus der Tafelrunde empfahl sich, nur der freundliche Herr, den Peter Hansen bei sich den „Doktor“ benannt hatte, schien noch bleiben zu wollen. Er sprach halblaut und, wie es unserm Maler vorkommen wollte, mit Bezug auf ihn mit seinen Trinkgenossen, die einverstanden nickten und eben das Lokal verließen, mit einem freundlichen Gruße nach Hansen hin, der mehr zu sagen schien als der Gewohnheitsgruß fremder Wirtshausgäste.

Die beiden Uebriggebliebenen saßen eine Minute schweigsam – jeder an seinem Platz. Peter holte seine Skizzen wieder vor und schraffierte noch an dem Doppelkinn des Gymnasialdirektors, der andere blickte ein paarmal unschlüssig zu ihm herüber, dann stand er auf, trat an den Tisch und stellte sich frischweg als Dr. med. Lenz vor.

„Sie werden es mir verzeihen,“ begann er mit Freimut, „daß ich Sie so ohne weiteres anspreche und Ihnen somit gleich den Eindruck des indiskreten Kleinstädters vermittle – aber darf ich mir vorweg eine Frage erlauben – bleiben Sie längere Zeit hier? Und zeichnen Sie?“

„Ich bin Maler!“ erwiderte Peter Hansen ein wenig befremdet und lud seinen neuen Bekannten durch eine Handbewegung zum Sitzen ein. „Wie lange ich hier bleibe, hängt nicht von mir allein, sondern von diesem und jenem ab, über das ich noch selbst keine Gewalt habe. Sie wissen,“ fügte er leicht und ablenkend hinzu, als der andere ihn fragend ansah, „Stimmung – Beleuchtung – das spricht bei meinem Handwerk alles mit! Aber warum fragen Sie mich, Herr Doktor? Muß man hier etwa zum Malen einen Gewerbeschein haben?“

Der Doktor lachte. „Nein – keineswegs! Wir wollen Sie in der Ausübung Ihrer Kunst nicht stören – im Gegenteil! Ich bin von der ganzen Tischgesellschaft mit einem großen Anliegen an Sie abgeschickt. Es schien uns geradezu ein Wink des Himmels, als der Wirt uns sagte, daß Sie hier in aller Stille unsere wenig malerischen Köpfe malerisch verwertet haben – darf ich?“

Hansen hielt ihm die Blätter hin, der andere stieß einen Ruf überraschten Entzückens aus.

„Das sind ja Kunstwerke!“ rief er lebhaft, „und sie machen mich fast verlegen; ich glaube, ich darf nun mit meiner Bitte gar nicht herauskommen. Sie werden Ihren Stift schwerlich in den Dienst einer Dilettantenbande stellen wollen, die in großer Verlegenheit ist. Sehen Sie,“ fuhr der gemütliche Mann fort, als Hansen schwieg und sich auch im Mienenspiel noch gänzlich abwartend verhielt, „wie Sie uns da vorhin zusammen gesehen haben, können wir eigentlich alles! Der eine kann aus dummen Jungen gescheite Leute machen, der andere kann Häuser bauen, der dritte Pillen drehen, ich kann die Leute gesund machen, wenn sie krank sind, oder thue doch so, als ob ich’s könnte – nur eines können wir alle miteinander nicht: ein Paar lustige Bilder zu einem Polterabendscherz zeichnen, wir sind grenzenlos damit verunglückt, und morgen abend soll die Sache vor sich gehen!“

„Wo wird denn der Polterabend gefeiert?“ frug Peter Hansen mit dem Interesse eines Heimatkindes, das bekannte Namen zu hören erwartet – von den damaligen Kindern mußte ja mehr wie eines inzwischen zu heiratsfähigem Alter gekommen sein. „Wo ist denn der Polterabend?“

„Bei unserm früheren Bürgermeister Dorn,“ erwiderte der Doktor harmlos, „die einzige Tochter – aber was haben Sie denn?“ fuhr er überrascht fort, als Hansen seinen Stuhl so heftig zurückschob, daß von der Erschütterung das Bier im Glase überfloß.

„Nichts! – gar nichts!“ sagte der Maler und fuhr sich mit dem Tuch über die Stirn, „also zu dem Polterabend – und wer ist der Glückliche, der – ich meine, wen heiratet das Fräulein?“

„Ja, das ist eine lange Geschichte,“ sagte der Doktor, „und wenn ich nicht fürchten müßte, Sie zu ermüden – Sie sehen, wie mir scheint, etwas blaß aus!“

„Ich bin den ganzen Tag gereist,“ erwiderte hastig der andere, „aber ich wollte ohnehin noch nicht schlafen gehen – erzählen Sie nur, verehrter Herr Doktor! Wenn ich zu der frohen Gelegenheit zeichnen soll, muß ich ja ohnehin mit den Thatsachen bekannt gemacht werden – nicht wahr? Und so ein Stückchen Roman hört am Ende jeder gern, wenn er auch den beteiligten Personen ganz fremd ist!“

Sein Ton klang nicht so recht ungekünstelt. Der Doktor sah ihm einen Augenblick prüfend in das dunkle, schön geschnittene Gesicht mit dem festen energischen Munde und den Augen eines Träumers – „ein rechtes Künstlergesicht“, dachte er wohlgefällig bei sich.

„Nun, ich will mich kurz fassen,“ begann er dann behaglich, „obwohl das im ganzen, wie Sie merken werden, nicht in meiner Natur liegt!“

„Halt – nur noch eines!“ unterbrach ihn Hansen, „ist der Bräutigam, um den es sich handelt, ein Stadtkind? Und wie heißt er?“

Der Doktor lachte.

„Ja, das ist ja das Sonderbarste an der Geschichte,“ sagte er. „Wie der Bräutigam heißt, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, aus dem einfachen Grunde, weil keiner da ist! Die schöne Käthe hat keinen Bräutigam und will keinen haben!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 850. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0850.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2023)