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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

vorher hatte rechnen können, der sich aber in fast allen Fällen glänzend gezeigt hat.

Es wird nämlich die Sehschärfe der Kranken nach der Operation ungemein gebessert. Die Sehschärfe nennen wir das Vermögen, Buchstaben von bestimmter Größe in bestimmter Entfernung erkennen zu können. Diese Sehschärfe ist bei den hochgradig Kurzsichtigen darum stets so gesunken, weil die nötigen Konkavgläser zu kleine Bilder liefern. Liest jemand die Leseprobe „Nosu“ in der untenstehend abgedruckten Schriftgröße

Nosu

(Snellen 6) mit oder ohne Glas bis 6 m, so ist seine Sehschärfe 6/6 = 1; liest er es trotz aller Gläser nur bis 3 m, so ist seine Sehschärfe 3/6 = 1/2; liest er es nur bis 1 m, so ist seine Sehschärfe = 1/6.

Nun sind schon viele Kurzsichtige operiert worden, die selbst mit den besten Gläsern nur 1/6 Sehschärfe vorher erzielen konnten und die dann nach der Operation ohne Glas oder mit ganz schwachen Gläsern 3/6 und mehr Sehschärfe hatten.

Anfangs hielt man die Angaben von Fukala für übertrieben. Allein ich habe selbst gleich beim ersten Male, wo ich die Operation machte, bei einem siebzehnjährigen jungen Mann, der vor der Operation mit dem schärfsten Konkavglase Nummer 20 höchstens 1/5 Sehschärfe hatte, nach der Operation ohne Glas 3/5 Sehschärfe bekommen; seine Sehschärfe war also verdreifacht worden. Das Schöne ist dabei, daß die Sehschärfe von Monat zu Monat besser wird. Fukala und andere Operateure haben sie im Laufe eines Jahres noch um 1/10 bis 6/10 sich bessern sehen. Vermutlich tritt eine langsame Besserung der Thätigkeit der Netzhaut ein durch Uebung im Fernsehen, welches ja vor der Operation von den Kranken gar nicht geübt werden konnte.

Die Operierten fühlen sich nach alledem jetzt so glücklich wie niemals vorher.

Eine wichtige Frage ist die: In welchem Alter soll man operieren?

Da bei jungen Leuten die Quellung der Linse und die Aufsaugung ihrer Reste eine leichtere ist als im Alter, so empfahl Fukala anfangs, die Operation noch vor dem 24. Jahre auszuführen; allein andere Operateure hatten ebenso günstige Erfahrungen bei Leuten von 35 bis 40 Jahren. Professor Pflüger in Bern operierte einen 48jährigen Arzt mit bestem Erfolge. Man fürchtete sich, ältere Personen zu operieren, da im Alter die Quellung der Linse viel langsamer vor sich geht, wenn schon ein fester Kern in der Linse sich gebildet hat; man glaubte, daß dann leichter Entzündung und Reizerscheinungen auftreten könnten. Nun haben aber Sattler und von Hippel nachgewiesen, daß glücklicherweise die Linse gerade der Kurzsichtigen im hohen Alter zu keiner Kernbildung neigt, und daß daher auch Personen, die über 60 Jahre alt sind, mit Glück operiert werden können.

Natürlich wird man nicht beide Augen zusammen operieren, wohl aber eines nach dem andern.

Man hatte früher geglaubt, daß man ja ein Ange, das operierte, nun für die Ferne und das andere, nicht operierte, wie bisher für die Nähe benützen lassen könne. Was hat aber der Kranke dann für einen Gewinn, wenn er sich beim Schreiben mit dem kurzsichtig gebliebenen Auge doch wieder so stark auflegen müßte? Wenn aber beide Augen nacheinander operiert werden, dann kann es sogar zum räumlichen stereoskopischeu Sehen mit beiden Augen zusammen kommen.

Von großer Wichtigkeit ist natürlich die Frage: Hindert die Herausuahme der Linse das weitere Fortschreiten der Kurzsichtigkeit?

Wir können nur antworten: Wahrscheinlich. Die Linse ist heraus, es giebt keine Accommodation, sie kann also nicht den Druck vermehren.

Eine Convergenz für die Nähe ist nicht mehr nötig, die geraden Augenmuskeln brauchen also nicht mehr den Augapfel zu drücken, die Kranken brauchen sich nicht mehr aufzulegen, der Kopf wird nicht gesenkt, es entsteht also durch Blutstauung im Auge kein Druck mehr. Eine Reihe Bedingungen für das weitere Längenwachstum des Auges ist also durch die Operation genommen. Fukala konnte auch bei solchen Kurzsichtigen, bei denen er nur ein Auge operiert hatte, feststellen, daß teilweiser oder gänzlicher Stillstand der Kurzsichtigkeit eintrat. Darin liegt einer der bedeutungsvollsten Gewinne der operativen Behandlung. Die Schädlichkeiten des Lesens und Schreibens, der Nahearbeit sind behoben.

Natürlich können nur jahrelange Beobachtungen darüber entscheiden, ob für alle Zeiten die Gefahr der Blutung oder Zerstörung am gelben Fleck der Netzhaut oder das traurige Los der Netzhautablösung abgewendet ist.

Wenn schon schwere Zerstörungen in der Tiefe des Auges vorhanden sind, bei notorisch kranken Augen, da wird die Operation nichts nützen. Wenn aber die Kurzsichtigkeit durch übermäßige Nahearbeit, durch Ueberbürduug der Accommodation und Convergenz veranlaßt worden ist, dann ist wohl Stillstand zu erwarten.

Professor von Hippel konnte bei keinem Operierten im Laufe von 2 Jahren eine Zunahme der Kurzsichtigkeit finden. Es sind nun wohl Fälle dagewesen, wo später Ablösung der Netzhaut auf dem nicht operierten Auge eintrat, während das operierte gesund blieb; freilich sind auch einige solche Fälle gesehen worden, wo trotz der Operation Netzhautablösung eintrat.

Wenn aber das Damoklesschwert der Ablösung selbst über den Operierten weiter schwebt, so haben sie ja doch wenigstens bis zu dieser vielleicht erst nach langen Jahren eintretenden Katastrophe besser gesehen als ohne die Operation.

Der Wert der Operation ist also gewiß ein ganz großartiger. Ich stimme nach meinen Erfahrungen vollkommen denjenigen Kollegen bei, welche die Fukalasche Methode zu den hervorragendsten Leistungen der Augenheilkunde rechnen; von Hippel sagt sehr treffend: „Dem durch grauen Star Erblindeten geben wir durch unsere Kunst ein Gut wieder, dessen er nur vorübergehend beraubt war; dem hochgradig Kurzsichtigen erschließen wir eine neue Welt und verhelfen ihm damit zu Lebensgenüssen, von denen er bis dahin keine Ahnung hatte.“

Professor Vossius stellt die Operation noch höher als die von Graefe entdeckte, hochgeschätzte Heilung des „grünen Stares“; denn dieser ist nur eine im ganzen seltene Krankheit des höheren Alters, die Kurzsichtigkeit aber macht ihren traurigen Einfluß schon in der Jugend geltend.

Es wird also durch Fukalas Operation die Existenz vieler Personen gebessert.

Der Kranke wird berufstüchtig und erwerbsfähig, und die Sehschärfe wird gebessert; mehr kann man von einer Operation nicht verlangen.

Bei der heutigen antiseptischen Methode ist die Operation übrigens vollkommen gefahrlos; eine Vereiterung des Auges, die man früher so sehr fürchtete, ist dabei ganz ausgeschlossen. Allerdings muß der Kranke lange Zeit unter der Aufsicht des Arztes bleiben; denn nach der Anreifung der Linse kann man jeden Augenblick gewärtig sein, daß man quellende Linsenmassen aus dem Auge lassen muß; und das kann auch zwei- bis dreimal notwendig werden. Da darf nicht einen Tag gezögert werden. Aber diese Operationen sind bei Kokainanwendung ganz schmerzlos; ja, was das Vertrauen der Kranken am meisten weckt, ist, daß dieselben in der Mehrzahl der Fälle außerhalb einer Anstalt behandelt werden können, oder nur 2 bis 3 Tage in der Klinik zu bleiben brauchen. Es ist freilich schade, daß nur die hohen Grade von Kurzsichtigkeit, die konkav 10 bis 20 brauchen würden, operierbar sind.

Das Wichtigste ist und bleibt das Urteil der Kranken, und diese sind alle zufrieden und dankbar und können meist kaum die Operatiou des zweiten Auges erwarten. Genug, zu den großen Wohlthätern der Augen der Menschheit, zu Helmholtz, welcher den Augenspiegel erfand, zu Albrecht von Graefe, welcher die Heilung des „grünen Stares“ erfand, zu Koller, welcher das Kokain erfand, zu Lister, welcher die Antisepsis erfand, gesellt sich ebenbürtig Vincenz Fukala.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0871.jpg&oldid=- (Version vom 10.6.2023)