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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

zu Land so viel deutsche Lehrerinnen, daß jede einigermaßen annehmbare Stelle ausgefüllt werden könnte und niemand nötig hätte, sich in Deutschland an Agenten oder Zeitungen zu wenden. Geschieht dies dennoch, so kann man getrost annehmen, daß die betreffende Stelle nur im allerseltensten Fall haltbar ist. Wie unendlich vielen Mißgriffen würde vorgebeugt werden, wollte man sich in erster Linie stets an die Vorsteherinnen der deutschen Vereine im Ausland wenden, die Land und Leute nach vierjähriger Erfahrung besser kennen müssen als solche, welche die Grenze des Vaterlandes nie überschritten haben! Das Abkommen, welches zwischen den Lehrerinnenvereinen des Vaterlandes und denen des Auslandes getroffen ist, hat seine fühlbaren guten Wirkungen nach allen Richtungen hin gehabt, aber leider giebt es noch andere deutsche Vereine und Anstalten, die eine ganz „blühende“ Stellenvermittlung nach dem Auslande, wenigstens nach England hin, betreiben – mit welchen Resultaten leider sehr häufig, davon weiß niemand besser zu erzählen als wir, denn an uns erinnert man sich schnell genug, wenn man in Not sitzt, und bei uns laufen die Klagen ein, die sehr oft den Anstalten und den Freunden zu Hause verschwiegen werden, weil man sich schämt, weil man nicht beunruhigen will.

Vor wenigen Tagen kam ein 16jähriges Kind hier an und zeigte uns weinend eine Depesche aus Hamburg von der Vorsteherin eines Kindergartens: „Gehen Sie zu Fräulein Adelmann nach 16 Wyndham Place, London, sie wird Ihnen helfen.“ Auf meine Fragen erzählte das junge Mädchen, daß sie als Kindergärtnerin von Hamburg aus zu Mrs. D. gekommen wäre, man habe dieser aber gesagt, sie sei 19 Jahre alt. Ihr Vater sei Schlächter und habe die Reise bezahlt. Sie sei aber nicht imstande gewesen, den vierjährigen Jungen zu bändigen, zeigte uns schluchzend ihre arg zerkratzten Hände, auch die Beine, die der Bengel mit Nadeln zerstochen hatte, erzählte, daß sobald sie allein mit dem Jungen und dem achtjährigen Mädchen frühstücken sollte, die Kinder ihr das Essen weggenommen, dasselbe mit Füßen getreten oder zum Fenster hinausgeworfen, kurzum sie auf alle denkbare Weise gequält hätten. Die englische Erzieherin der älteren Kinder habe ihr erklärt, sie müsse mit den Kindern fertig werden, die Mutter aber habe auf ihre Klage hin ihr einfach den Lohn für einen Monat ausgezahlt und sie weggeschickt, denn man habe sie belogen und die Sechzehnjährige für älter und reifer ausgegeben.

Fräulein Hug, die Vorsteherin des Vereins deutscher und schweizer Mädchen, die nicht weit von uns, 21 Baker Street W., ihr Bureau hat, bot mir auf meine Anfrage freundlich an, das Kind in einem der Häuser für Dienstmädchen unterzubringen, bis weiter für sie gesorgt werden könne. Sie als Kindergärtnerin zu placieren, sei unmöglich, einmal weil sie noch so sehr jung sei, und weil sie gar kein Englisch verstünde. Es sei überhaupt lächerlich, daß ein 16jühriges unerfahrenes Kind 22 Pfund (440 Mark) beanspruche, wie das bei der Stelle geschehen sei, aus der man sie weggeschickt habe. „Sie glauben nicht,“ fügte Fräulein Hug hinzu, „wie viele Enttäuschungen die Kindergärtnerinnen überhaupt in England haben, und wie viele ‚zweites Kindermädchen‘ (undernurse) werden, nur um nicht zurück gehen zu müssen.“ Unterdessen kam eine Depesche von der Mutter des jungen Mädchens, daß deutsche Bekannte in einer der Londoner Vorstädte es aufnehmen würden, es möge dahin gehen. Und dahin brachte es ein Vereinsmitglied. Nach zwei Tagen schrieb die Vorsteherin des Kindergartens aus Hamburg an uns: „Fräulein X. ist eine zuverlässige tüchtige Kindergärtnerin und wird, wenn sie das Heimweh überwunden hat, ihren Platz ausfüllen“ etc. Wenn doch die deutschen Regierungen dahin wirken wollten, daß das Kindergartenwesen geregelt würde! Die eine Anstalt verlangt drei Jahre zur Ausbildung wie die vortrefflichen Kindergartenbildungsschulen von Frau Henriette Schrader in Berlin und von Frau Goldschmidt in Leipzig, und andere wieder drei Monate. Alle Schülerinnen dieser so verschiedenen Anstalten bekommen ein Reifezeugnis, und die Kindermädchen geben sich nicht selten als Kindergärtnerinnen aus, sagt man mir von berufener Seite. Wenn die Mütter, zumal im Auslande, nicht erfahren und vorsichtig sind, dann fallen die Erziehungsresultate dementsprechend aus.

In diesem Frühjahr kam eine deutsche Sprachlehrerin, die sich ein halbes Jahr Urlaub genommen hatte, um ihr Englisch wieder aufzufrischen, zu uns und erzählte unter Lachen und Weinen, wie es ihr ergangen sei. „Schickt mich diese Person von einer Agentin in das Haus eines Gemüsehändlers. Ich traue meinen Augen kaum, daß der Mensch mit der weißen Schürze und die dicke Händlerin mit den kleinen Schweinsaugen und der schmutzigen roten Bluse meine Prinzipale vorstellen sollten, von denen ich im Austausch gegen Hilfe im Haus und dem Arrangement von Blumen – englischen Unterricht zu erhalten habe. Ich war zuerst so verblüfft, daß ich dem Paar ins Wohnzimmer hinter dem nach der Straße zu offenen Gemüsebude folgte, wo mir erklärt wurde, daß die kleinen häuslichen Pflichten darin bestehen sollten, den Logisherren die Strümpfe zu stopfen, die Knöpfe anzunähen, die Zimmer mit Hilfe der Tochter des Hauses in Ordnung zu halten und die Blumen zum Verkauf zu ordnen, vielleicht auch ab und zu verkaufen zu helfen, wenn die Hausmutter koche. Abends solle ich dem würdigen Paar und der Tochter Deutsch beibringen, denn man wolle nächstes Jahr eine Reise nach Deutschland machen, die Tochter sei mit einem deutschen Kellner verlobt, und da müsse man doch ab und zu ’mal nach ihr sehen in Deutschland. Englisch lesen hören wolle man mich immer nach der deutschen Stunde. Zum Glück habe ich mein Gepäck auf der Victoriastation gelassen, denn ich wollte mir das Haus und die Leute erst ansehen, ehe ich bei ihnen einzog. Sie hatten voriges Jahr auf der Lehrerinnenversammlung in Darmstadt so eindringlich gewarnt gegen die Annahme von Stellen ohne gründliche Erkundigungen, daß ich –“

„Jawohl,“ fiel ich ihr ins Wort, „doch auf den Leim ging.“

Ein Fräulein Sch. aus Baden kam durch eine Zeitungsanzeige in die Familie eines schottischen Dorfschulmeisters, bei dem sie thatsächlich ohne Mädchen die Küche zu besorgen und ihm deutschen Unterricht zu geben hatte. Es hieß in der Anzeige, häusliche Pflichten seien mit dem Austausch der Sprache verbunden. Sie war wie gesagt der einzige dienstbare Geist im Haus, die Frau Schulmeisterin war eine ebenso ungebildete Person wie ihr Eheherr, der mir noch einen sehr groben Brief schrieb, als unser Vereinsmitglied Fräulein J., Lehrerin in der herrschaftlichen Familie, in deren Dorfschule er angestellt war, sich Fräulein Sch.’s annahm und sie zu uns brachte. Ich drohte ihm aber, ihn bei dem Herzog zu verklagen, in dessen Landbesitz er sein Brot fand, und das half. Eine deutsche Lehrerin als Dienstmädchen hat er, soviel mir bekannt ist, seither nicht wieder gehabt, denn unser Mitglied, die noch immer Erzieherin in der herzoglichen Familie ist, hat ein Auge auf die Leute. Wenn Fräulein Sch. für ihre sechsmonatige Mühe noch etwas von der Sprache profitiert hätte! Aber die Ohren thaten einem weh, wenn sie in dem breiten schottischen Dialekt, den sie in jener Umgebung gelernt hatte, englisch sprach.

Bände ließen sich schreiben über Erlebnisse dieser Art, die uns im Vereinsbureau zu Ohren kommen. Ich will aber zur Erbauung der Leser nur einige Stellen aus Briefen abschreiben, die vor mir liegen. „Warum habe ich nicht auf meine Tante gehört, die durchaus wollte, daß ich mit dem Stellensuchen in England warten solle, bis ich das vom Verein vorgeschriebene Alter habe, um durch ihn placiert werden zu können. Helfen Sie mir trotzdem, bitte, bitte! Meine Schulvorsteherin ist dem Trunk ergeben und wird im Rausch oft so wütend, daß man sich vor ihr flüchten muß.“ Aus Glasgow: „Ich erhielt die Stelle direkt von Berlin aus durch den Letteverein, aber man behandelt mich als Dienerin, obwohl man ausdrücklich an den Letteverein schrieb, man wolle als Gesellschafterin eine sehr gebildete junge Deutsche aus sehr guter Familie, so daß ich daraus entnehmen zu dürfen glaubte, es sei eine feine Familie, die mich zu engagieren wünschte etc.“ Eine andere: „Warum habe ich auf diese L. gehört anstatt auf Sie. Schelten Sie mich, ich habe es verdient! Da sitze ich in jämmerlichen Verhältnissen in einer Dorfschule, habe nicht satt zu essen, muß mit drei schmutzigen Kindern in einem Zimmer schlafen; das eine, das bei mir im Bett schläft, will sich dazu nicht ’mal waschen lassen etc.“

Aus einer vom Lehrerinnenseminar in D. besetzten Stelle erhielt ich nachstehenden Brief: „Die Lady S. ist mir aufs höchste zuwider durch ihren Geiz und ihre Unwahrheit. Dabei höre ich fortwährend das Gebrumme der Köchin, die nebenbei gesagt eine ehrenwerte Person ist, daß sie zu Ostern gehen will, weil ich alles zu sparsam einkaufen muß. Lady S. lebt in London auf großem Fuße und wir sitzen hier in dem kleinen gemieteten Landhause mit zwei Dienstboten. Ich muß das Fleisch einkaufen, darf nur die Stücke nehmen, die am Fenster liegen und die per Pfund 4 Pence billiger als die anderen sind. Manchmal weigern sich die Dienstmädchen, es zu essen, füttern damit die Katze.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 886. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0886.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2023)