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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Und so verstehen Sie vielleicht auch, wie einem zu Mute ist, der hier sich jung und frei fühlte und dann die besten Jahre seines Lebens in der Vollkraft seines Schaffens nutzlos vertrauern muß? In seinem Berufe aufgehen – in ihm wirken wollen mit der ganzen ungeteilten Kraft, das Bewußtsein in sich tragen, daß man auch wirken kann – und immer überflüssig sein, immer noch nicht alt genug, um ein Amt zu erhalten, das dem Leben Zweck giebt, immer hingehalten, immer vertröstet und zu unfreiwilligem Feiern verurteilt sein – glauben Sie mir, das ist ein vernichtendes Los!“

„Sie wirken doch an einem Gymnasium?“

„Gewiß. Aber der Direktor, unter dem ich stehe, ist alt, er haßt jede Neuerung. Die täglichen mechanischen Uebungen, die ewige Monotonie von Semester zu Semester – und dazu alle die Kleinlichkeiten und Sorgen, die gerade dem Lehrerstand erspart bleiben sollten und unter denen er am meisten leidet, die haben den Mann müde gemacht. Und ich? Ich, der ich als überzähliger Lehrer keine Rechte habe und kaum eine Pflicht, der ich eigentlich nur geduldet bin? Nun, ich habe mich zu fügen, habe hübsch artig nach der Schablone mitzuarbeiten! Aber wenn ich dann diese Jungen sehe, diese strammen, blühenden, kraftstrotzenden Jungen mit all ihrem Lebensmut und ihrer Lebensfrische, und ich soll sie strafen nach dem vorgeschriebenen Schema, strafen vielleicht für einen Streich, für den ich sie küssen möchte, dann blute ich unter dem Zwang, in den man mich so früh gesteckt, dann rüttle ich und schüttle an meinen Fesseln, nur um zu fühlen, wie fest sie sind und unlösbar!“

„Unlösbar – das wäre entsetzlich,“ fiel sie ihm ins Wort.

„Es ist so tragisch nicht. Man gewöhnt sich an sie. Sie drücken nicht mehr. Man nimmt sie hin als etwas Selbstverständliches, das zum Leben gehört. ,Die Bande, die erst von Eisen, werden Rosenketten!‘ Das liegt so in der menschlichen Natur. Nur in der Jugend, wenn man noch recht kräftig will und kann, bäumt man sich gegen sie auf – so thöricht wie ich!“

„Und da gäbe es keinen Ausweg?“

„Ich könnte Docent werden. Ja, das war mein Jugendtraum, den ich nie so schön geträumt habe als hier in Heidelberg zu den Füßen bedeutender Lehrer, da die Welt noch vor mir lag so schön, so verheißungsvoll. Aber später wurde es anders. Ich trat in den praktischen Lehrberuf ein. Ich lernte ihn lieben, bis mir diese Jahre des Harrens und Wartens seine Schattenseiten allzu sichtbar zeigten. Und die Universitätscarriere kostet Geld, viel Geld! Das habe ich nicht. Es ist mir schwer genug geworden, mich zu der Stelle eines Probekandidaten durchzukämpfen. Und wenn ich nicht von den Privatstunden, die ich zurückgebliebenen Kindern erteile, und von schriftstellerischen Arbeiten für einige Fachjournale leidliche Einnahmen hätte –“

Er hielt erschreckt inne. Wie kam er, der sonst so Verschlossene, dazu, einer Dame, die er vor einigen Stunden kennengelernt, sein innerstes Herz zu enthüllen, wie kam diese Dame dazu, seine Offenbarungen mit einem Interesse zu verfolgen, die aus jeder Bewegung, jedem Zuge ihres Gesichts zu ihm sprach!?

„Nein,“ sagte sie nach einer kurzen Pause, „ich kann das nicht alles zugeben, was Sie da sagen. Ich wüßte mir in ähnlicher Lage vielleicht noch weniger einen Rat, aber eins wüßte ich: wenn ich ein Mann wäre und vor mir läge die Welt so groß, so lebenswert und ich fühlte mich beengt und gedrückt in Fesseln, die mir wehrten, zu wollen und zu handeln wie es meiner Natur, meinem innersten Leben gemäß, dann hätte ich auch den Mut und die Kraft – glauben Sie mir! – sie zu sprengen und frei und neugeboren hineinzuwandern in die neue Welt!“

Sie hatte mit fliegendem Atem gesprochen, ihr großes leuchtendes Auge hing an seinem ernsten Antlitz, als wollte sie ihn wachrufen zu neuem Wollen und Wagen.

Er aber schüttelte nur den Kopf und lächelte – ein eigentümliches Lächeln, halb freudig bewegt, halb schwermütig resigniert. „Gewiß,“ sagte er langsam, wie jedes Wort wägend. „Es giebt Fesseln, die man mit Kraft und Mut sprengen könnte, wenn man Simsonsstärke in sich fühlt. – Aber es giebt andere Fesseln. Wir leben doch nicht für uns allein. Wer von uns hätte das Recht, für sich zu wollen, für sich zu handeln? Gesetzt, Sie lebten heute in Verhältnissen, die Ihnen unerträglich wären, würden Sie sie verlassen, auch wenn Sie zugleich mit ihnen das Herz Ihres Vaters brächen? Würden Sie dann noch den Mut und die Kraft dazu besitzen?“

Sie senkte das Auge bestürzt zur Erde, sie antwortete nichts.

„Es giebt Fesseln, die kein Simson sprengen kann – heilige Fesseln, in denen wir haften mit unserem ganzen Sein, mögen sie auch unserem rücksichtslosen Wollen und Wünschen drückend erscheinen. Freilich kommen Augenblicke, da meinen wir, wir könnten, wir müßten sie sprengen! Und wenn wir’s thäten – wir würden aufatmen, glückselig uns fühlen, wie neu geboren – ja, wir würden die Wunden vergessen, die ihre Sprengung uns verursachte. Aber das wäre alles nur für Augenblicke. Zuletzt würden wir an diesen Wunden verbluten – rettungslos – und uns geschähe recht!“ So ernst hatte er gesprochen, ein so heiliger Eifer durchglühte sein Antlitz. Sie erkannte den Mann nicht wieder, mit dem sie in der Eisenbahn zusammen gefahren, der sich nicht genug hatte thun können in allerlei Scherzen und Späßen.

Er schien zu erwarten, daß sie ihm entgegne. Aber sie verharrte in sinnendem Schweigen.

„Wissen Sie übrigens,“ fuhr er in etwas schnellerer Rede fort, „daß ich dasselbe gedacht, was Sie vorhin aussprachen?! Angesichts dieses alten Schlosses, in dieser Luft, in der ich so frei und glücklich geatmet, stürmte es auf mich ein mit unwiderstehlicher Gewalt: Was hindert dich, frei zu sein und ungebunden wie einst?! Wirf den Zwang von dir und die Bande, die da draußen dich halten!

Aber sehen Sie, das sind Träume! Jene Sommernachtsträume, die wir im Ernste des Lebens und unter dem Drucke alltäglicher Pflichten so gern träumen, am liebsten dann, wenn die Natur in ihrer feiernden Größe und Schöne zu uns spricht und uns die ganze Seele löst. Dann fühlen wir uns so gehoben, so wagemutig, als gäbe es keine Macht mehr in der Welt, die uns widerstehen könnte. Dann verwandelt unser Träumen Unmöglichkeiten zu Wirklichkeiten. Und sehen Sie – giebt es einen schöneren Sommernachtstraum als diesen hier?!“ Er wies auf das Bild, das vor ihnen lag.


7.

Auf leisen Schwingen war die Nacht herangekommen – sie hatten es nicht gemerkt. Ueber der Landschaft, die bis in die bergige Ferne sich ausbreitete, war der Mond emporgestiegen, ihre ungemessene Weite mit seinem weichen Lichte umfangend, ihre Reize mit seinem Zauber verklärend. Mit leisem Silberschauer schwamm sein Wiederschein auf den Fluten des laut rauschenden Neckars, strahlte er zurück von den träumenden Hügeln.

So klar lag die Welt vor ihnen, so tief und unergründlich zugleich unter dem himmelhohen Sterngezelt. Und so nachdenklich schaute das alte Schloß hinunter ins weite Thal, im Zauber seiner Majestät, den es in seinen glorreichsten Zeiten nie so ausgeübt hatte wie nun seine Ruine in der einsamen Mondesnacht. Wie ein Märchen aus längst vergangener Zeit war das alles.

Und an diesem Bilde hing das Auge des Fräuleins wie gebannt von seiner magischen Gewalt, und der Glanz in diesem Auge wurde feuchter und feuchter, und die kleine Hand, die zu ihm langsam emporgriff, zitterte merkbar.

„Giebt es einen schöneren Sommernachtstraum als diesen hier?“ wiederholte Rupert, ihrem Blick begegnend.

„Ja,“ sagte sie leise, „ein Traum wie dieser ganze Nachmittag, diese ganze, seltsame Reise –“

„Und in solch einem Sommernachtstraum,“ fiel er ihr ins Wort und machte einen Versuch, in den alten scherzhaften Ton zurückzufallen, „da treiben die bösen Geister mit den ehrsamen Menschen ihr Spiel, da erhebt sich aus den Tiefen des Neckars der Kobold Puck, und von den Hügeln und Wiesen tanzen die Elfen herbei, und aus dem Fasse da unten steigt Perkeo hervor, der tückische, und in unsichtbaren Händen trägt er den feurigen Schloßwein. Und ohne daß man es weiß, hat man ihn getrunken, und dann erwachen seltsame, wunderliche Ideen und brausen und gären einem durch den Kopf. wie so alles anders sein müßte und könnte und wie schön und herrlich es dann auf dieser Welt wäre! Doch wenn man erwacht aus dem süßen Rausch, dann ist alles geblieben wie es war und das Ganze war nichts als ein schöner Traum.“

„Nein,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „nichts anderes, es ist eben zu schön, es kann nichts anderes sein.“

„Und so traurig einen auch manchmal das Erwachen ankommt, wir wollen ihnen danken, den freundlichen Geistern, die in des Lebens Einerlei uns dann und wann diese Träume

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0054.jpg&oldid=- (Version vom 22.4.2024)