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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Tonette, die scheinbar so edelmütige stolze Tonette, war eine Intrigantin geworden, obgleich sie es sich selber nicht eingestand. Sie konnte und konnte den Gedanken nicht loswerden, daß Christel hierher nicht gehöre. Sie hatte die wunderlichsten Phantasien; sie rechnete die schrecklichsten Zufälligkeiten aus; die Anton befreien könnten von diesem Klotz, den er umherschleppe zu seinem Elend – wie sie meinte. Es waren ja schon Leute vom Blitz erschlagen worden, es waren auch schon welche durch ein Eisenbahnunglück umgekommen, es hatten andere beim Sturz von der Treppe das Genick gebrochen – warum kam nicht mal so ein Ereignis? Warum? Wenn so etwas nicht geschah, würden die beiden natürlich vereint bleiben bis an ihr seliges Ende, denn er war ja so ein lächerlich gewissenhafter Mensch, und bei Christels Konstitution könnte es leicht zu spät werden für Tonettes Pläne!

Mit Intriguen ist da auch nicht weit zu kommen. Diese blonde ruhige Frau besitzt eine Seele wie Quellwasser so klar; sie ist noch nicht einmal fähig, eine konventionelle Lüge auszusprechen, und das weiß der Mann; Tonette sieht täglich, wie er diese Frau achtet. Aber Achtung ist der Leidenschaft gegenüber ein schwacher Kämpfer, und das weiß Tonette aus eigner Erfahrung – ihr Vater hat ihre Mutter auch geachtet und sie dennoch an gebrochenem Herzen sterben lassen. Und sie sieht von Edith, die eben den starken Kaffee in die Mokkatäßchen füllt, zu Anton hinüber und fängt den qualvoll heißen Blick auf, der zu dem Mädchen fliegt, und sie sieht, wie er die Wimper senkt vor ihren, Tonettens, Augen, und während sie dies alles beobachtet, herrscht ein wahres Grabesschweigen am Tische, selbst Ediths Plaudern ist verstummt.

Christel denkt, wie es anders sein wird, wenn sie nicht mehr hier sitzt, wie er aufatmen wird, wenn er nicht mehr Komödie zu spielen braucht vor ihr. Die Sache wird sich ungefähr so entwickeln: im Anfang wird er alles aufbieten, sie zur Rückkehr zu bewegen, denn die Gewohnheit ist so stark, daß sie in den Farben der Liebe zu schillern vermag. Aber allmählich, wenn seine Christel standhaft bleibt – und sie bleibt standhaft! – dann wird er sich beruhigen und wird glücklich sein, daß die Ketten, die so schwer, so drückend waren, nun gebrochen sind. – Sie möchte aufschreien vor Schmerz, vor Zorn, aber sie muß fest bleiben, sie hat ja den Brief gelesen, den furchtbaren Brief, die Worte haben sich ihr so deutlich eingeprägt, sie kann sie auswendig, sie geben ihrem Stolz immer wieder neue Nahrung, wenn sie zurückschrecken will vor dem schweren Schritt. Und um sieben Uhr morgen früh geht der Zug! O, sie wollte, sie hätte noch viel zu thun, damit sie nicht weiter zu denken braucht, aber es giebt nichts mehr für sie zu thun, gar nichts mehr, so fieberhaft arbeitete sie während der letzten Tage. In der Wirtschaft ist alles in bester Ordnung, auf Wochen hinaus jede Kleinigkeit vorausberechnet und bestimmt. Solange es irgend möglich, will sie ihm jede Sorge abnehmen, kleine Unbequemlichkeiten ersparen; die Zeit, wo er ohne Hausfrau ist, wird ihm ohnehin schwer genug werden.

Fräulein Tonette erhebt sich plötzlich. „Na, meine gute Frau Christel,“ sagt sie in dem herablassend freundlichen Ton, den sie ihr gegenüber stets annimmt, „also reisen Sie glücklich und amüsieren Sie sich gut und – kommen Sie gesund wieder!“

„Danke!“ erwidert Christel und begleitet die alte Dame bis auf den Flur hinaus, und dort hält sie ihr plötzlich die Hand hin und mit abgewendetem Gesicht kommt es in stockenden Worten über ihre Lippen: „Nehmen Sie sich ein wenig meines Mannes an – er ist immer noch so ans Zimmer gefesselt. Wenn Sie ihn zuweilen auffordern wollten, hinaufzukommen – er ist so gern in Ihrem Zimmer, ich weiß es. Und Fräulein Edith –“

O du Gans, du einfältige! denkt Tonette, sie ist dumm und blind in ihrer selbstgefälligen Ehefrauensicherheit! „Aber natürlich, liebe Frau Mohrmann,“ antwortet sie laut, „wenn Ihr Gatte Lust hat, so ist er immer willkommen. Sagen Sie es ihm nur, ich habe wirklich nicht den Mut, ihn in unser langweiliges Tusculum hinauf zu locken. Es ist weiter nichts da oben als Erinnerungen, Trödel und –“

„Ich weiß, daß Anto gern kommt,“ unterbricht Christel diese Phrasen, „und ich danke Ihnen recht sehr.“

„Sie gehen wohl recht schweren Herzens fort?“ fragt das alte Fräulein, und um die Mundwinkel zuckt ein unmerklich spöttisches Lächeln.

„Ja, gnädiges Fräulein. Sehr schweren Herzens,“ erwidert Christel. „Man weiß nie, ob man wiederkehrt!“ und sie richtet ihre Augen groß und ernst auf das malitiös lächelnde Gesicht der alten Dame.

„Na, Sie werden schon wiederkommen, meine gute Frau Christel, werden schon wiederkommen,“ tröstet Tonette, „nehmen Sie’s nicht so tragisch. – Adieu nochmals und bitte, schicken Sie mir doch Edith, sie würde an dem Vorabend dieses großen Ereignisses doch nur stören.“ Sie nickt gnädig noch einmal, dann geht sie die Treppe hinauf, Christel kehrt zurück.

Im Eßzimmer sitzen Anton und Edith noch am Tische, als sie eintritt. Edith hat eine Apfelsine geschält und so geordnet, daß sie wie eine goldene, eben erschlossene Blüte auf dem Krystalltellerchen liegt; sie wischt nun die Fingerspitzen an der Serviette ab und präsentiert Anton die Frucht. Durch das Fenster zuckt ein Sonnenstrahl, er entlockt dem Tafelgerät ein lustiges Blitzen und Funkeln und läßt die krausen dunklen Haare über Ediths Stirn leuchtend braun erscheinen. Auf dem kecken Gesicht mit den strahlenden Augen liegt ein heimliches Lachen und sie fragt: „Erlauben Sie, Frau Christel, daß ich ihn füttere?“ Sie hat die Orange auf einen Theelöffel geladen und nähert diesen Antons Mund.

Christel fühlt, wie sie rot wird, wie das Herz ihr klopft zum Zerspringen. In demselben Augenblick fährt Anton auf von seinem Sitz und stößt mit der Hand das Löffelchen heftig zurück. „Ich danke, Baronesse, ich liebe Süßigkeiten nicht!“ sagt er schroff, und ohne Christel anzusehen geht er hinaus.

Edith lacht zuerst, wird dann verlegen, faltet eilig ihre Serviette zusammen und kommt zu Christel herüber.

„Addio, liebste Frau Christel,“ sagt sie, ihr um den Hals fallend und sie küssend. „Sie können froh sein, Dresden zu sehen! Ich führe gern mit, aber Tante erlaubt es nicht, und wenn ich es mir so recht überlege, ich bleibe auch lieber hier. Grüßen Sie Emma von Zobel, wenn Sie sie sehen, sie verkehrt freilich in andern Kreisen. – Was werden Sie anfangen in Dresden? In die Oper gehen, in die Galerie? Ach nein, ich glaube, Sie machen gewiß lauter Einkäufe, das ist ja für die Landbewohner schon ein Pläsir. Ich suche unterdes Schneeglöckchen und bekränze das Bild meiner ehemaligen Liebe damit, denn, sehen Sie, Frau Christel, das ist aus, rein aus! Gelt, zum Lachen ist’s! Warum sehen Sie mich denn so entsetzt an? Ich soll doch nicht weinen? Darum? Um so ein dummes Kerlchen wie der Edi ist? Nein, da kennen Sie mich schlecht!“

„Sie werden ihn wohl nie geliebt haben,“ sagt Christel langsam. Mein Gott, wie das so leichtlebig, so leichtsinnig klingt aus dem Munde dieses jungen Mädchens! Sie blickt der Davoneilenden nach und beißt die Zähne aufeinander. Kann denn solch Geschöpf dem Manne, der es erwählt, eine Spur von Glück ins Haus bringen? Darf sie dazu helfen, daß Antons thörichte Neigung zum Ziele führt, dem Ziele, elend zu werden für immer an der Seite dieses oberflächlichen Wesens?

Sie nimmt mit heißen Wangen ein Tuch um die Schultern, ergreift den Schlüsselkorb und steigt hinauf in die Bibliothek. Den Schlüssel besitzt sie noch; Anton hat ihn bis jetzt nicht zurückverlangt; das Treppensteigen wurde ihm wohl noch zu schwer, oder meidet er den Raum, um einer andern Ursache willen? Es ist, als sei das stille Gemach nicht mehr vorhanden für ihn.

Sie aber hat für das Zimmer, in welchem sie die schwerste Stunde ihres Lebens erduldet, eine Leidenschaft gefaßt. Des öftern ist sie schon hinaufgeschlichen, hat vor dem Bilde gestanden, das Napoleons Abschied darstellt, und an dem Schreibtisch gesessen, an dem ihr Mann den verzweifelten Brief schrieb. Und heute sitzt sie zum letztenmal dort und sieht mit trostlosen Augen in die dunstige Landschaft hinaus, die unter dem Schauern des Lenzwindes liegt, über der Wolkenschatten und Sonnenblitze wechseln. Ihre Lippen bewegen sich, als spräche sie. „Ich muß es thun,“ sagt sie endlich, „ich muß!“

Und entschlossen rückt sie näher heran und schreibt den Scheidebrief an Anton. Sie liest ihn gar nicht nochmal durch, sie couvertiert ihn, siegelt und adressiert und legt ihn dann mitten auf die Schreibunterlage, daß er sich grell abhebt von dem roten Löschblatt. Da ist auch ein Briefbeschwerer, den setzt sie vorsichtig auf eine Ecke des Schreibens und dann sitzt sie da wieder

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0167.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2019)