Seite:Die Gartenlaube (1898) 0170.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

klaglos dulden, sie würde ihn mit ihrer Demut zur Verzweiflung treiben, denn sie liebt ihn ja mit jener Liebe, die alles erduldet, alles erträgt und alles hofft. Sie würde es als Pflicht ansehen, bei ihm zu bleiben, und wenn er sie mit Füßen träte. Und sein Herz und seine Sinne schreien nach der andern, und diese andere weiß es und liebt ihn wieder, vielleicht sich selber noch unbewußt. Aber ihre Blicke, ihre kleinen Koketterien, die ihm den Kopf verwirren – –. Er hat ja Herzklopfen wie ein Sekundaner, wenn er ihr Kleid rauschen hört, und seit dem Feuer, seitdem er das reizende Geschöpf auf seinen Armen dem Tode entriß, da war es vollends um ihn geschehen. –

Er hatte am Nachmittag, bevor der Brand ausbrach, an seinen Freund Karl geschrieben, droben in der Bibliothek, den Brief aber später verbrannt, denn der Freund konnte ihm auch nicht helfen; er hat ihm nur ganz einfach ein paar freundliche Zeilen mit seinem Glückwunsch übermittelt. Es muß sich auch so ein Ausweg finden lassen; einige Tage Ruhe nur für sein überreiztes Gehirn, das stille vorwurfsvolle Gesicht Christels nicht sehen – nur ein paar Tage nicht!

Es ist gegen vier Uhr früh, als er einschläft; als er erwacht, ist’s neun Uhr. Ueber ihm spielt Edith von Ebradt auf dem verstimmten Klavier der Tante; durch die Vorhänge der Fenster blitzt ein Sonnenstrahl, der Sturm hat alle trüben Wolken draußen verjagt.

Auf sein Klingeln erscheint der Diener und hilft ihm beim Ankleiden. „Ist meine Frau abgereist?“

„Jawohl, Herr Mohrmann.“

„Hat sie noch eine Bestellung hinterlassen für mich?“

„Ich weiß nicht – werde mich erkundigen – Frau Mohrmann hat gar nichts weiter gesagt,“ berichtet der Mann, nach einem Weilchen zurückkehrend. „Der Kutscher hat müssen am Friedhof vorfahren, und da ist sie noch einen Augenblick ausgestiegen und an das Grab der Mutter gegangen.“

Anton fällt dies auf. „War sie auch im Pfarrhause?“

„Nein! Der Kutscher sagt, nur auf dem Friedhof.“

Das ist eine Sentimentalität, die Anton gar nicht an ihr kennt.

Der Vormittag geht so hin; Heine kommt und der Doktor kommt; Anton ladet die Herren zum Frühstück ein, es geht ganz lebhaft dabei her. Mittags erscheinen die Damen bei Tisch, sie sitzen da zu dreien. Fräulein Tonette kann ausgezeichnet erzählen; sie bringt das Gespräch auf ihren Aufenthalt in Madeira, sie ist mit dem Vater drei Jahre hintereinander dort gewesen. Man bleibt heute länger beisammen als sonst. Der Diener sieht von Viertelstunde zu Viertelstunde in das Zimmer, aber die Herrschaft redet so eifrig, er kann noch immer nicht die Dessertteller holen. Endlich erhebt sich Tante Tonette.

„Nun sollen Sie ruhen, lieber Mohrmann, und wenn Sie nachmittags Langeweile haben – wir sind zu Hause.“

Er verbeugt sich jetzt sehr förmlich, und man entfernt sich ohne seine Zusage. Er will nicht hinaufgehen, er will nicht; abends um neun Uhr klopft er aber doch an. Edith sitzt in dem künstlich arrangierten Erker mit einer Handarbeit, die Baronesse am Kamin. Anton nimmt ihr gegenüber Platz und muß Auskunft geben, wie er sich als Strohwitwer gefällt. Man unterhält sich wieder ganz ausgezeichnet. Edith spricht freilich am wenigsten, nur ihre Augen sprechen. Diese dunklen, leuchtenden sonderbaren Augen.

So vergeht der erste Tag und der zweite, eine Nachricht aus Dresden kommt nicht, aber Anton weiß ja, sie schreibt so ungern, die Christel, und wahrscheinlich wird sie nur telegraphieren, wann sie einzutreffen gedenkt, damit der Wagen an der Bahn sein kann.

Zum Ueberlegen ist Anton nicht gekommen, vielmehr immer tiefer und tiefer in seine unselige Leidenschaft versunken. Heute, wo er jeden Augenblick die Depesche erwartet, die ihm die Rückkehr Christels melden soll, ist er von einer solchen nervösen Gereiztheit, daß niemand ihm etwas recht macht, und die Leute in der Küche, der Diener an der Spitze, wünschen die „Frau“ herbei. Er fährt empor, wenn eine Thür geht, und sieht in jedem Menschen, der über den Hof schreitet, einen Depeschenboten. Aber bis gegen Abend ist nichts gekommen, weder Brief noch Depesche.

Zu der gewohnten Stunde klopft er wieder bei den Damen an, er findet nur die Baronesse vor; Edith hat Kopfweh und sich in ihr Zimmer zurückgezogen.

„Ich weiß nicht,“ sagt die alte Dame, „was sie treibt; sie sieht so blaß aus, ißt schlecht seit einiger Zeit, und des Nachts schluchzt sie mitunter zum Herzbrechen. Gott schütze sie nur vor unglücklichen Amouren – so etwas will durchgemacht sein, mitunter auf Kosten der Gesundheit.“

Er bleibt nicht lange, es ist so öde ohne sie. Er steigt wieder die Treppe hinunter, geht durch alle Stuben und weiß nichts zu beginnen vor innerer Unruhe. Wenn man sich wenigstens in die Arbeit stürzen oder mit dem Schießprügel umherlaufen könnte! – Dieser elende Knochenbruch – zum Verrücktwerden ist’s! Und nun noch gar das arme Mädel da oben krank! Sie weiß nicht, was mit ihr ist, die Alte, aber ich weiß es, ich! – Sterben wird sie daran, wie ich auch, zu Grunde gehen werden wir daran, sie und ich! Und er stößt einen Stuhl, der ihm im Wege steht, mit so heftigem Fußtritt fort, daß er krachend zu Boden fliegt und der Diener atemlos hereinstürzt, um mit offenem Munde seinen Herrn anzustarren.

„Mach’ Feuer oben in der Bibliothek!“ herrscht dieser ihn an und wirft ihm den Schlüssel hin, den Christel vor ihrer Abreise ihm wieder zugestellt hat, indem sie denselben in das Schubfach seines Betttischchens legte. Ihm ist plötzlich eingefallen, daß er sonst dort oben in dem stillen Zimmer mit dem weiten Blick in die Ferne hinaus am ehesten Ruhe gefunden hat.

Nach einer halben Stunde meldet der Diener, daß es oben schon genügend warm sei, und Anton hält mit seinem Auf- und Abwandern ein und steigt zur Bibliothek hinauf. Noch ist es ziemlich hell hier, im Ofen flackert das Feuer, die mit Bücherrepositorien ziemlich bis zur Decke hinauf besetzten Wände heimeln ihn an, der Schreibtisch scheint nur auf ihn zu warten. Es ist so still hier, so totenstill; er hört, als er jetzt im Erker sitzt und hinausstarrt in die Landschaft, das Ticken des Holzwurms in der Vertäflung, das Rascheln einer Maus hinter den Büchern und über sich das dumpfe, regelmäßige Tick! Tack! der Turmuhr. Am Boden liegt der aufgeschlagene Band einer französischen Ausgabe der „Drei Musketiere“ von Dumas, und er erinnert sich, darin geblättert zu haben, als er zum letztenmal hier oben saß, als er den Brief an Karl schrieb, bevor das Feuer in Altwitz ausbrach. Aber wie ist das Buch auf den Boden gekommen? Er stößt es achtlos mit dem Fuße fort.

Wie soll es werden? Soll er auf Reisen gehen? Seine Verhältnisse gestatten es ihm ja: Heine ist ein zuverlässiger Mann und Christel wäre ja auch da. Die neuen Eindrücke der weiten Welt würden ihn vielleicht eine Zeit lang abziehen – eine Zeit lang, ja, er würde in dem bunten Reiseleben die Ketten nicht rasseln hören, die ihn hier zur Verzweiflung bringen, aber – – geändert wird nichts damit, vergessen kann er nicht, das fühlt er.

Er springt auf und geht im Gemach umher. Einmal reißt er die Taschenuhr heraus, es ist halb sieben Uhr, um Sieben passiert wieder ein Zug von Dresden die Station, da kann sie kommen. Ob man den Wagen zur Bahn schickt? Man müßte es wohl thun, aber – warum hat sie nicht geschrieben? Wenn’s nicht geschieht, ist’s nicht seine Schuld und – sie wird sich ja doch herfinden, sie wird in aller Seelenruhe ihr Kleid zusammenraffen und mit ihrem gleichmäßigen festen Schritt nach Hause gehen.

Er sieht sie schon eintreten, keine Spur eines Vorwurfs auf ihrem vollen Gesicht, nicht einmal die Frage: Warum war denn der Wagen nicht da, Anto? Nein, sie wird ablegen und sofort nach dem Schlüsselkorb greifen und in der Wirtschaft nachspüren. Höchstens sagt sie: Sobald ich draußen alles geschafft habe, Anto, erzähle ich dir; einstweilen grüßt Karl recht herzlich. Und wenn es dann später zum Erzählen kommt, wird sie von den Kindern und dem Haushalt der Frau Doktorin reden, aber was er am liebsten wissen möchte, muß er ihr abfragen. Und bei Erwähnung des Täuflings wird sich wieder der schmerzliche Zug um ihren Mund legen wie jedesmal, wenn sie von Kindern spricht.

Ja, du großer Gott, ist er denn nicht am meisten zu beklagen, er, der da gearbeitet und erworben hat, rastlos, unermüdlich, ohne zu wissen, für wen? Ja, für irgend welche ihm unbekannte Sprößlinge seiner entfernten Verwandten!

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0170.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2020)